»Keine Revolution ist auch keine Lösung«. Zur Dialektik feministischer Aufklärung II

Es ist Weihnachten und Chanukkah, die Zeit der Wünsche. Also will ich mir in meinem letzten Blog-Eintrag auch etwas wünschen. Oder besser: Ich möchte eine Einladung aussprechen, weiter nachzudenken über die Frage, mit der mein vorheriger Beitrag endete: Wo – über den Kapitalismus hinaus  – wäre im heute Wirklichen das Mögliche einer anderen Gesellschaft auszumachen und diskursiv zu stärken? Und ich möchte selbst mit dem Nachdenken beginnen.

Bedanken möchte ich mich bei allen, die kommentiert haben, Antworten darauf folgen noch. Den nachfolgenden Blogger_innen wünsche ich Spaß und intellektuelles Vergnügen bei der Aufgabe. Beides hatte ich.

Wenn die Kernfragen von Feminismus global gesehen so aktuell und ungelöst sind wie je und wenn feministische Kritik ihren kritischen Stachel wieder gewinnen will, müsste sie sich unter anderen erneut zu folgenden drei Fragen positionieren:

1. Welche Visionen einer zukunftsfähigen Gesellschaft, die nicht auf Ausgrenzung und Ausbeutung basiert, entwickelt kritischer Feminismus gegenwärtig? Was versteht er – im heute nur noch global zu denkenden Sinne – unter einer solidarischen Gesellschaft und wo sieht er – gerade mit Blick auf Erosionsprozesse der strukturellen Trennungen von Produktion und Reproduktion, von Geschlechterarrangements und Arbeitsteilungen, die die fordistische Moderne prägten und die zentraler Kritikpunkt feministischer Analysen waren – im Wirklichen Momente und Potenziale für die Gestaltung von Gesellschaft jenseits dieser Muster und Formierungen? Wie lösen wir Feminismus von der Überheblichkeit und Borniertheit der Ersten Welt und nutzen die Ressourcen feministischer Theorie und des feministischen Aktivismus, um zu überdenken, wie dieser im Horizont eines »antiimperialistischen Egalitarismus« (Judith Butler 2004) neu gedacht und gelebt werden kann.

2. Die Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte und erst recht der vergangenen drei Jahre haben gezeigt, dass Demokratie und Kapitalismus keineswegs unbedingt zusammen gehen (müssen). Wie beteiligt sich Feminismus daher an der Entwicklung einer Gegenkultur, die einer Aushöhlung der Demokratie und ihrer ›Vermarktlichung‹ neue, über fordistische, repräsentative Demokratie hinausgehende demokratische Formen entgegensetzt und damit auch die Grundlage für eine geschlechteregalitäre Teilhabe an der Gestaltung und am Reichtum des Gemeinwesens sichert? Wie können Kämpfe »von unten« gestärkt werden, die in das herrschaftliche Bedingungsgefüge politischer Praxis ermöglichend eingreifen, um den Abbau der Herrschaft von Menschen über Menschen zu befördern?

3. Das zentrale Kennzeichen des Feminismus der zweiten Welle war, Feminismus sowohl als Projekt der politischen Emanzipation als auch der privaten Befreiung zu verstehen, ein Projekt von Freiheit und Gleichheit zu sein. Während indes Feminismus anfänglich politische und soziale Gleichheit sowie Gewinnung von Freiheit, Selbstbestimmung und Autonomie insbesondere der Frauen zusammen dachte, gewann nach 1989 im feministischen Diskurs die Betonung individueller Freiheit und Autonomie und eine tendenzielle Vernachlässigung bzw. sogar Abwertung von Gleichheit Überhand. Dabei kann es nicht um solipsistische Selbst-Entwürfe gehen, wie sie in Teilen des neuen deutschen Mädchen-Feminismus en vogue sind. Vielmehr müsste es – im Wissen darum, wie intim Subjektivität und Subjektion miteinander verwoben sind – darum gehen, Freiheit nicht als souveräne Selbstsetzung zu sehen, als Prozess allein der Herauslösung aus Bindungen und ja: auch aus Abhängigkeiten, sondern vor allem als Prozess, in dem in der An/Erkennung und Durcharbeitung derjenigen machtgetränkten Prozeduren, die uns zu den Subjekten gemacht haben, die wir heute sind, die Kontingenz der herrschenden Formen ›zu sein‹ aufgedeckt und neue Formen zu sein denk- und lebbar gemacht werden. Die Frage also ist, wie bestimmt kritischer Feminismus heute in analytischer ›Verarbeitung‹ der ambivalenten Resultate der gleichheitsorientierten, ›organisierten‹ Moderne einerseits, der Verkennungseffekte neoliberaler Anrufungen ›autonomer‹ Subjekte sowie einer neuartigen und sich vertiefenden globalen sozialen Ungleichheit andererseits sein Verhältnis zu Freiheit und Gleichheit?

Die Geschichte von Feminismus ist (nicht erst) seit dem Ende der Systemkonkurrenz auch die Geschichte der vielfältigen Ein- und Widersprüche gegen Feminismus im Namen seiner komplexeren Reformulierung. Feministische Theorie hat diese Herausforderung, sich in Frage stellen zu lassen, immer wieder angenommen. Die Fähigkeit zur Reflexion und Revision auch grundlegender Annahmen und Perspektiven verdankt sie dabei vor allem den widersprüchlich organisierten gesellschaftlichen Erfahrungen von Frauen und dem – oft konflikthaften – Dialog mit den »Anderen« des feministischen Diskurses. Vielleicht kommt es jetzt mehr denn je darauf an, das Bündnis mit anderen macht- und herrschaftskritischen Erkenntnisperspektiven nicht nur zu suchen, um soziale Verhältnisse, Institutionen und Diskurse in all ihrer widersprüchlichen Komplexität besser verstehen zu können, sondern vor allem um sie zu verändern.