‚Freundschaften‘ auf Standby schalten – soziologische Empfehlungen für den nächsten Bundespräsidenten (SozBlog 2012, Treibel 1)

Annette Treibel, 6. Januar 2012, für SozBlog, den Blog der Deutschen Gesellschaft für Soziologie

Notwendige Vorbemerkung: Im Folgenden geht es nicht darum, ob ich persönlich Christian Wulff nett finde oder eventuell SPD- oder Grüne-Wählerin bin. Eben so wenig geht es darum, über Wulffs Persönlichkeit zu spekulieren. Als Soziologin geht es mir vielmehr um folgende Fragen: Wie agiert Christian Wulff in seinem Amt als Bundespräsident? Wie äußert er sich in seiner politischen Rolle und wie tritt er als Amtsträger auf? Welche Strategien liegen seinen Auftritten und Stellungnahmen vermutlich zugrunde? Als Soziologin gehe ich davon aus, dass die meisten Menschen gute Gründe für ihr Tun haben und nicht einfach ohne Sinn und Verstand drauf los agieren. Was bewegt also Christian Wulff selbst, und wie wird er in seinem Amt wahrgenommen?

‚Glamour‘ als Aufstiegsstrategie

Christian Wulff ist ein heute 52-jähriger CDU-Politiker, der Politik ‚von der Pike auf‘ gelernt und dabei von Anfang an nach höheren Ämtern gestrebt hat: 1975 als Jugendlicher in die CDU eingetreten, Ämter in der Schüler Union und Jungen Union, Ratsmitglied und Fraktionsvorsitzender für die CDU in Osnabrück, Landtagsabgeordneter, Mitglied im Bundesvorstand der CDU, Ministerpräsident von Niedersachsen von 2003 bis 2010. Seit Juni 2010 ist er der zehnte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Seither ruht seine Mitgliedschaft in der CDU. Man wird sagen können, er hat Durchhaltevermögen bewiesen und auch gegen widrige Umstände seine Karriere-Ziele weiterverfolgt. Als Beleg dafür kann betrachtet werden, dass er nach zwei gescheiterten Anläufen gegen Gerhard Schröder beim dritten Mal gegen Sigmar Gabriel erfolgreich war und 2003 Ministerpräsident von Niedersachsen wurde. Wie führte er dieses Amt? Politisch vergleichsweise unauffällig, erlangte er öffentliche Aufmerksamkeit eher durch Inszenierungen seines Privatlebens als durch seine Amtsführung. Im Gedächtnis ist insbesondere die 2008 von der Boulevardpresse medial begleitete ‚glamouröse‘ Hochzeit mit seiner 1973 geborenen, zweiten Frau Bettina Körner.

Ganz offensichtlich hat sich diese Strategie für seine Karriere ausgezahlt, und er versucht nun, sie als Erfolgs-Konstante auch im neuen Amt des Bundespräsidenten weiterzuführen. Den Glamour-Faktor kann man selbst den offiziellen Fotos und Autogramm-Karten, die das Bundespräsidialamt anbietet, entnehmen (1). In der Süddeutschen Zeitung wird am 5. Januar 2012 bereits ein möglicher Nachruf auf das „jüngste Bundespräsidentenpaar, das es je gab“ angestimmt: Christian und Bettina Wulff seien „moderner, patchworkartiger, glamouröser und gleichzeitig doch kleinbürgerlicher und normaler, weniger entrückt“ (2) als frühere Präsidentenpaare.

Der Anfang vom Ende: Mangelnde Repräsentationskompetenz

Wulff schien es gut getroffen zu haben: Nach dem bis heute ungeklärten Rücktritt Horst Köhlers im Mai 2010 war er zur Stelle: scheinbar unverbraucht, jung geblieben und sympathisch, aber – wie sich heute zeigt – vielleicht doch zu jung als Staatsoberhaupt. Dieses Amt lebt von der präsidialen Würde und dem persönlichen Stil seines Inhabers. Für den Aufstieg war die Glamourstrategie sachdienlich: sie half einem eher blassen Politiker zu einem beträchtlichen Distinktionsgewinn. Im höchsten Staatsamt ist allerdings ein anderer Habitus gefragt, nämlich Repräsentationskompetenz. In dem Moment, wo in weiten Teilen der Öffentlichkeit das Verhalten und die Auftritte des Bundespräsidenten als „peinlich“ wahrgenommen werden (3), ist das Amts-Ende in Sicht.

Im Fernsehinterview vom 4. Januar 2012 (4) zeigt sich Wulffs mangelnde Repräsentationskompetenz besonders eindringlich. Der Bundespräsident wendet sich dort nicht primär an Ulrich Deppendorf und Bettina Schausten von ARD und ZDF, sondern direkt an die FernsehzuschauerInnen, die er auf diese Weise in den Medien als Verbündete gegen die Medien zu gewinnen sucht. Er wirbt um Verständnis für sich als Person, wo er doch so schnell Bundespräsident geworden („ohne Karenzzeit, ohne Vorbereitungszeit“) und das Amt „schwieriger geworden“ sei. Seine Botschaft in einem Satz: im Vergleich mit seinen Vorgängern habe er es besonders schwer. Die mangelnde Repräsentationskompetenz liegt darin, dass Wulff primär mit seinen persönlichen Schwierigkeiten und nicht mit den sachlichen Erfordernissen des Amtes argumentiert.

‚Fremdschämen‘ für einen Amtsinhaber, der zwischen Amt und Person nicht zu unterscheiden vermag

Soziologisch besonders interessant sind die Passagen, wo Wulff den mangelnden Respekt vor der Privatsphäre beklagt: “wenn man als Ministerpräsident keine Freunde mehr haben darf“. Wenn FernsehzuschauerInnen dies als „peinlich“ bezeichnen, so empfinden sie das erklärtermaßen ‚für Deutschland‘ als peinlich. Da die BürgerInnen durch Wulff repräsentiert werden sollen und wollen, sind sie an dieser Stelle empfindlich und schämen sich für ihn – man nennt dies heute gängigerweise ‚Fremdschämen‘. Kurioserweise ist genau dieses Phänomen ein Indikator für die grundsätzliche Akzeptanz des Amtes in der Bevölkerung. Vielleicht kann man sogar so weit gehen, festzustellen: Im Unterschied zu Wulff kann die Bevölkerung Amt und Person unterscheiden.

Selbstverständlich dürfen auch Ministerpräsidenten Freunde haben, aber die Freundschaften zu einflussreichen und wohlhabenden Personen stehen unter besonderer Beobachtung – und dann übernachtet man eben in einem nahegelegenen Hotel und trifft sich zum Mittagessen und nicht schon zum Frühstück. Auf solche Settings zu verzichten, gehört zum Preis des Amtes – ein Bundespräsident darf eben nicht alles und sollte die Kriterien, die er an andere Amtsinhaber anlegen würde und sogar bereits angelegt hat (Wulff im Jahr 2000 an Johannes Rau wegen dessen Flugaffäre), selbst beherzigen.

Das Betriebsgeheimnis der Mediendemokratie wird gelüftet

Es sind Rituale der Schwäche und Inszenierungen von Menschlichkeit, mit denen heutzutage Mächtige ein verloren gegangenes Terrain zurückzugewinnen suchen. 2011 war es Karl-Theodor zu Guttenberg, der mit dem Stress des ‚jungen Familienvaters‘ um Verständnis warb – im Übrigen für die weibliche Plagiatorin Silvana Koch-Mehrin ein untaugliches Instrument. Als Politikerin darf ich keinesfalls mit Familienstress argumentieren, denn dann zeige ich ja, dass solche Ämter nichts für Frauen sind. Als Mann hingegen kann ich meine Familienaufgaben als ‚soft skills‘-Faktor einsetzen – einen Versuch ist es zumindest wert. Setze ich jedoch, wie jetzt Wulff 2011/2012, auf Rücksichtnahme durch eben diejenigen Medien, durch die ich mich zuvor in die breitere Öffentlichkeit habe pushen lassen, kann ich auf keine Nachsicht hoffen.

In diesen Tagen wird häufig die plastische Aussage von Mathias Döpfner, dem Vorstandschef der Axel-Springer-AG zitiert: ‚Wer mit der ‚Bild‘-Zeitung im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr im Aufzug nach unten‘ (5). Es lohnt sich, gerade mit Blick auf das ARD-/ZDF-Fernseh-Interview mit Wulff vom 4. Januar 2012, den gesamten Abschnitt zu lesen. Mathias Döpfner erläuterte die ‚Aufzug-Metapher‘ 2006 im Spiegel-Streitgespräch mit dem Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass, der die ‚Machenschaften‘ der Bild-Zeitung attackiert hatte:
„Größer als die Schlagzeilen der „Bild“-Zeitung ist gelegentlich nur die Heuchelei mancher Prominenter, wenn sie sich als Opfer stilisieren. Erst wollen sie von der Plattform profitieren, und hinterher, wenn’s mal unangenehm wird, kritisieren sie, dass „Bild“ immer noch da ist. Wer Privates schützen will, kann das in der Regel auch. Oder haben Sie etwa über Schily, Künast, Trittin oder Köhler irgendwelche Homestorys gelesen? Aber wer mit dem Privatleben Wahlkampf macht, der muss auch damit leben, dass die Boulevardpresse da ist, wenn der Haussegen schief hängt. Für die „Bild“-Zeitung gilt das Prinzip: Wer mit ihr im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr im Aufzug nach unten. Diese Entscheidung muss jeder für sich selbst treffen“ (6).

Wer da nun welchen Nutzen davon hat, dass der ‚Wulffsche Haussegen schiefhängt‘, kann im Moment dahingestellt bleiben. Bei dieser Art von Aufstiegsmanövern ist auf jeden Fall das Scheitern mit einprogrammiert. Gegenüber klassisch ‚harten‘ Aufstiegs-Kriterien wie Bildung und fachlichen Qualifikationen haben ‚weiche‘ Faktoren wie Medienpräsenz und Glamour eine schnelle Verfallszeit. Es birgt ein hohes Risiko und zeugt von geringer Einsicht in die Dynamiken der medialen Öffentlichkeit, sich von solchen Faktoren einen nachhaltigen Aufstieg zu versprechen.

Wunschzettel für den nächsten Amtsinhaber oder die nächste Amtsinhaberin

Vielleicht ist jetzt die Zeit für eine Amtsinhaberin gekommen, die es bisher nicht gab – trotz der halbherzigen Nominierungen von Kandidatinnen wie Gesine Schwan oder Dagmar Schipanski. Von der nächsten Bundespräsidentin oder dem nächsten Bundespräsidenten – und so schnell steht das Amt trotz aller Diskussionen nicht zur Disposition – ist zu hoffen, dass er oder sie sich gut überlegt, welchen Status das Amt hat und welches persönliches Standing es verlangt. Es ist sehr ehrenwert, ein solches Amt zu übernehmen, und eine überzeugende Amtsführung gebietet allen Respekt. Eine gelungene Amtsführung erkennt man daran, dass jemand begriffen hat, dass er oder sie mit dem Amt eine bestimmte soziale Rolle übernommen hat, die mit gesellschaftlichen Spielregeln einhergeht. Politische Repräsentationsaufgaben eignen sich nicht als Selbstverwirklichungsprojekte, und wer meint, selbst bestimmen zu können, wann das Rampenlicht an- und wann es wieder ausgeht, unterschätzt die Mechanismen der Mediengesellschaft. Wulff dachte, er könne die Medien für seine politische Karriere instrumentalisieren. Ein Missverständnis: Wulff brauchte Bild-Zeitung und Co. für seinen Aufstieg mehr als diese ihn – er selbst ist als Person für die Medien völlig austauschbar. Die Medien brauchen nur eine öffentliche Figur, mit der sie Auflage oder Quote machen können; wer diese ‚Figur‘ als Person konkret ausfüllt, ist zweitrangig. Für die Medienmacher ist klar, dass es sich um ein Rollen-Spiel handelt, bei dem sie die sowohl die Regeln als auch die Abläufe des Spiels bestimmen.

Weder eine Sachbearbeiterin im Finanzamt noch ein Lehrer darf im Dienst Geschenke annehmen – in ungleich höheren staatlichen Machtpositionen gilt dies umso mehr. Gesucht wird als nächste/r BundespräsidentIn also jemand, für den diese ‚Einschränkung‘ zum Amt gehört und der nicht überrascht und wehleidig beklagt, dass die Öffentlichkeit für Vorzugskredite von Freunden kein Verständnis hat. Vielleicht ist es für künftige Bundespräsidenten sogar zu empfehlen, dass sie nicht nur ihre Parteimitgliedschaft, sondern auch ihre ‚Freundschaften‘ ruhen lassen sollten. Was wir brauchen, sind AmtsinhaberInnen mit Repräsentationskompetenz.

 

Quellen

(1) vgl. https://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Service/Portraets-Und-Autogramme/_node.html

(2) http://www.sueddeutsche.de/politik/praesidentengattinnen-deutschlands-erste-damen-1.1251058-2

(3) vgl. http://www.welt.de/politik/deutschland/article13800640/Die-Mehrheit-der-Deutschen-findet-Wulff-peinlich.html

(4) vgl. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,807232,00.html

(5) vgl. http://www.tagesspiegel/de/meinung/andere-meinung/gastkommentar-wer-mit-der-bild-im-aufzug-nach-oben-faehrt-faehrt-mit-ihr-auch-wieder-nach-unten-/6023974-2.html

(6) http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-47282197.html

Ein Gedanke zu „‚Freundschaften‘ auf Standby schalten – soziologische Empfehlungen für den nächsten Bundespräsidenten (SozBlog 2012, Treibel 1)“

  1. Ich finde Ihren Artikel respektlos gegenüber Wulff.
    Sie hätten das sachlicher schildern können – der Ton macht die Musik.
    Vor allem frage ich mich, ob das nicht eine Anmaßung ist, „soziologische“ Empfehlungen für den nächsten Bundespräsidenten zu machen. Hat irgendjemand Sie um Rat gebeten?

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