We ain‘t seen nothing yet

In meinem Blog „Durchbruch der globalen Moderne“ hatte ich geschrieben, der Wandel der letzten 20 bis 30 Jahre übertreffe alles in der bisherigen Geschichte der Moderne Dagewesene. Diese Behauptung lässt sich weiter radikalisieren, indem man den Beobachtungszeitraum etwas weiter ausdehnt. Folgt man einem Schema des Althistorikers und Archäologen Ian Morris (Why the West Rules – For Now, Farrar, Straus and Giroux 2010, S. 583), der das Wandlungsgeschehen seit 1700 graphisch in Form einer Entwicklungskurve darstellt und die gegenwärtigen Trends bis ans Ende des laufenden Jahrhunderts fortschreibt, dann ergibt sich ein Bild, wonach die bis dahin praktisch flach verlaufende Kurve 1820 zwar leicht anzusteigen beginnt, aber erst ab 1900 wirklich sichtbare Veränderungstrends anzeigt. Und wenngleich sie sich in den folgenden 100 Jahren kontinuierlich weiter aufwärts bewegt, verläuft sie selbst im 20. Jahrhundert noch annähernd parallel zur horizontalen Achse. Erst am nächsten Wendepunkt, im Jahr 2000, ändert sich das und schießt sie auf einmal steil nach oben.

„We ain‘t seen nothing yet“. Auf diese griffige Formel lässt die These, die die Graphik anschaulich zu machen sucht, sich verkürzt gesagt bringen. Schon die Transformationen des 19. und 20. Jahrhunderts haben zeitgenössische Beobachter immer wieder in ungläubiges Staunen versetzt. Aber nicht nur mit dem Übergang zum modernen Zeitalter, auch innerhalb desselben nimmt die Intensität und Extensität des Wandels von Phase zu Phase zu. Es steht zu erwarten, dass auch die gegenwärtige Phase, die Phase der globalen, polyzentrischen Moderne das Wandlungsgeschehen nochmals beträchtlich dynamisiert. Die Transformationskraft und das Transformationspotential der globalen Moderne sind nämlich ungleich größer als diejenigen früherer Phasen der Modernität.

Das Zusammentreffen mehrerer Faktoren begründet diese These. Ich beginne, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, mit einer unsystematischen Aufzählung empirischer Daten, die sie stützen. Die Weltbevölkerung verfügt über einen Bildungsstand, der höher ist als je zuvor. 2010 besuchten fast alle Kinder der relevanten Altersgruppe eine Grundschule, hatten 86 % der Erwachsenen zumindest etwas Schulbildung genossen, 48 % sogar auf Sekundarstufenniveau. Zwischen 1950 und 2010 hat sich die durchschnittliche Verweildauer im Schulsystem von 3.17 auf 7.76 Jahre mehr als verdoppelt, und das bei einem Anstieg der Weltbevölkerung auf annähernd das Dreifache. Die Daten zur Entwicklung des sekundären und tertiären Bildungswesens, die ich bereits referiert hatte, weisen in dieselbe Richtung. Sowohl absolut als auch relativ ist der Humankapitalstock damit größer als zu jedem früheren Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte, und diesem Kapitalstock wohnt ein immenses Wandlungspotential inne.

Derselbe Befund gilt für die Wissenschaft. Es gibt mehr Wissen als je zuvor, und es gibt eine im historischen Vergleich zu jeder früheren Periode signifikant größere Zahl von Wissensarbeitern, die in den Entwicklungsabteilungen unzähliger Unternehmen tagtäglich damit befasst sind, innovationsförderndes Wissen zu generieren. Das publish-or-perish System und die zunehmend leistungsbezogene Vergütung in der akademischen und Grundlagenforschung, die wie die anwendungsbezogene Forschung beständig weiter ausgebaut wird, haben dieselbe Wirkung. Jedes neue Wissen beinhaltet schon für sich genommen eine Zuständsänderung – die Welt ist nicht mehr dieselbe, die sie war, bevor es existierte. [Das gilt übrigens auch in dem Fall, dass die These neoinstitutionalistischer Forscher zutrifft, wonach die Entwicklungserträge wissenschaftlicher Forschung weit hinter dem zurückbleiben, was beispielsweise die Unesco sich und anderen, insbesondere Entwicklungsländern, davon verspricht] Zugleich inhärieren ihm weitere Wandlungspotentiale: als Anlass und Ausgangspunkt für planvolle Interventionen in die, also Veränderungen der Welt. Der Wissenszuwachs der letzten ca. 30 Jahre war enorm, aber eine Trendwende ist auch hier nicht in Sicht. Im Gegenteil, große Teile der Welt haben gerade erst begonnen, in die systematische Erzeugung neuen Wissens einzusteigen. Das allein verspricht eine beträchtliche Ausweitung des Wissensstocks der Zukunft.

Beide Entwicklungen verändern die Welt. Zugleich kommt ihnen, ich hatte es schon erwähnt, ein beträchtliches Wandlungspotential zu. Um dieses Potential zu aktivieren, braucht es neben wandlungsfördernden Institutionen wie z.B. Märkten, verbindlichen Rechtsregeln usw. geeignete Mechanismen, die es in realisierten Wandel überführen. Zu den wichtigsten Mechanismen dieser Art zählen bekanntlich formale Organisationen, die, wie Luhmann sagt, die Funktionsbereiche der Gesellschaft „organisieren“, ihnen praktische Gestaltungsmacht verleihen. Auch deren Population hat in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten rasant zugenommen. Zwar mangelt es an die gesamte Bandbreite moderner Organisationen erfassenden Statistiken, es gibt aber sektoral spezifische Daten, die zumindest grobe Anhaltspunkte zu den allgemeinen Entwicklungstrends liefern. So stieg zwischen 1990 und 2007 allein in China die Zahl der behördlich registrierten Privatunternehmen von einer auf 40 Millionen an – das ist mehr als die Summe aller Wirtschaftsorganisationen in den USA und Europa zusammen. In Indien wird für denselben Zeitraum „nur“ eine Verdoppelung von knapp 7 auf über 13 Millionen privater Unternehmen registriert. Ebenfalls verdoppelt hat sich zwischen 1990 und 2010 die Zahl multinationaler Konzerne (von 30.000 auf 60.000).Allein diese wenigen Zahlen indizieren eine Expansion wirtschaftlich ausgerichteter Organisationstätigkeit, die historisch ohne Beispiel ist. Auf anderen Feldern, wie z.B. bei nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen, sind die Steigerungsraten ähnlich. Und wenngleich viele Organisationen kurzlebig sind, kann kein Zweifel daran be­stehen, dass die in diesen Trends sich manifestierende Ausweitung des Organisationsgeschehens die Transformationskraft der sozialen Welt von heute gegenüber den nur eine Generation zurückliegenden Verhältnissen außerordentlich gesteigert hat.

Die Bedingungen und Faktoren, die den Wandel fördern, treten nicht nur zeitgleich oder zeitnah zueinander auf, sie schrauben sich auch wechselseitig hoch. Das Weltsozialprodukt ist größer als je zuvor, was bedeutet, dass mehr Mittel für die Ausbildung von immer mehr Menschen auf beständig höherem Niveau abgezweigt werden können. Die Erhöhung des Ausbildungsstands steigert zugleich die Produktivität der Arbeitskraft, trägt also zu einer weiteren Mehrung des Sozialprodukts bei. Das wiederum schafft Spielräume für zusätzliche Bildungsinvestitionen, aber auch z.B. für die Erhöhung der Forschungsmittel. Zugleich verbessert die mit dem erhöhten Bildungsstand verbundene Anhebung der kognitiven Kompetenz der Bevölkerung die Chancen zur Aneignung von Wissen und Technologie auf höchster Entwicklungsstufe, für dessen Diffusion selbst in die hintersten Winkel der Welt die Revolutionierung der Kommunikationstechnologie sorgt. Nachzüglern ermöglicht das, die Abstände zu den Vorreitern rasch zu verkürzen, zu diesen aufzuschließen, um dann selbst Spitzentechnologie und neues, die Forschung vorantreibendes Wissen zu generieren. Dadurch geraten die Vorreiter unter Druck, ihrerseits verstärkt in innovationsfördernde Forschung und Entwicklung zu investieren, und dafür benötigen sie nicht nur mehr Geld, das sie mit den Renditen hochtechnologischer Produkte verdienen, sondern auch besser ausgebildetes Personal. Und so weiter. Und all das angesichts eines nie dagewesenen Maßes an Konkurrenz auf Güter- und Faktormärkten, vieler Hundert Millionen neuer Arbeitskraftanbieter, die binnen weniger Jahrzehnte auf global vernetzte Arbeitsmärkte gedrängt sind, sowie der Herausbildung einer globalen Mittelschicht, deren Konsumbedürfnisse Unternehmen aus aller Welt ungeahnte Absatzchancen bieten.

Das ist, ich hatte es an anderer Stelle schon einmal gesagt, eine andere Welt, eine Welt, die uns in vielerlei Hinsicht vertraut ist, sich zugleich jedoch radikal von den Verhältnissen selbst noch der jüngsten Vergangenheit unterscheidet. Erheblichen Anteil an ihrer Hervorbringung hat eine gesellschaftliche Grundstruktur, für deren Erfassung die Luhmannsche Systemtheorie die besten Mittel bietet. Luhmann generalisiert Marxens auf die kapitalistische Wirtschaft bezogenes Diktum von der Akkumulation um der Akkumulation willen, von der Steigerung der Profite nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Selbstzweck, indem er es, adaptiert an ihre jeweiligen Sonderbedingungen, auf alle oder wenigstens die meisten Funktionssysteme der modernen Gesellschaft überträgt. Nicht nur gibt es keine wirtschaftlichen Gründe, die gegen mögliche Steigerungen der Wirtschaftsleistung sprechen, es gibt auch keine wissenschaftlichen Gründe gegen die Vergrößerung des Wissensstocks, keine edukativen Gründe gegen die Ausweitung des Bildungswesens, keine medizinischen Gründe gegen medizinisch indizierte Behandlungen usw. Der Expansionismus der Funktionssysteme ist keine akzidentielle Größe, sondern Kernbestandteil ihrer Identität, der spezifischen Rationalität, mit der sie auf die Welt zugreifen. Die Logik dieser Rationalität kennt keine inneren Stopregeln, kein „genug ist genug“. Sie setzt unaufhörlich Prämien auf die Steigerung des outputs und auf die Verbesserung der Performanz der Systeme, treibt den Wandel also kontinuierlich weiter an.

Der historische Durchbruch dieser Art von Gesellschaftsstruktur hat die Verhältnisse erst Europas und dann der Welt revolutioniert. Auf heutigem Entwicklungsstand ist ihre Wirkungsmächtigkeit freilich viel größer als im 18., 19. und selbst weiten Teilen des 20. Jahrhunderts, als sie nur eine Minderheit der Weltbevölkerung erfasst und auf Technologien, Organisationen, Wissensstände und kognitive Kompetenzen trifft, deren Transformationskraft sich im Vergleich mit denen der Gegenwart „bescheiden“ ausnimmt. Das begründet meine These von der dramatisch gesteigerten Wandlungsdynamik der globalen Moderne.

Aber stößt diese Dynamik nicht längst an unüberwindbare Grenzen des Wachstums? Die Vermutung, es gebe solche Grenzen – nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in anderen Bereichen –, ist naheliegend und scheint mir in vielen Fällen logisch stimmig. Wo genau sie liegen, ist allerdings (einstweilen noch?) ungewiss. Der Blick in die Vergangenheit gemahnt jedenfalls zur Vorsicht sowohl gegenüber „zu optimistischen“ als auch „zu pessimistischen“ Prognosen, denn beides hat sich wiederholt als falsch erwiesen. So prognostizierte, um nur einige Beispiele für den zweiten Typ zu nennen, John Stuart Mill im Jahre 1848, dass das phänomenale Wirtschaftswachstum Großbritanniens von seinerzeit durchschnittlich 1,2 % pro Jahr (was, wie Angus Maddison errechnet hat, ungefähr einer Verdreißigfachung der Verhältnisse der vorangegangenen drei Jahrhunderte entsprach) sich nicht mehr lange werde durchhalten lassen und weitere Wohlstandsmehrungen allenfalls noch in „rückständigen“ Ländern (wie z.B. dem damaligen Deutschland) erzielt werden könnten. Es hat sich dann aber doch fortgesetzt, und zwar auf nochmals erhöhtem Niveau mit der Folge, dass das Großbritannien von heute um ein Vielfaches reicher ist als das von vor 150 Jahren. Auch einige der wachstumsskeptischen Prognosen des Club of Rome von 1972 mussten später korrigiert werden. Die Lebenserwartung hat im 20. Jahrhundert den größten Sprung in der Menschheitsgeschichte gemacht, nimmt aber gleichwohl kontinuierlich zu, und fragt man Demographen nach dem oberen Limit, so wissen sie die Antwort nicht. Francis Collins, Direktor des United States National Human Genome Project, hält es aber immerhin für denkbar, dass gegen Mitte des 21. Jahrhunderts die Menschen vermehrt vor die Frage gestellt werden, wie lange sie leben wollen statt wie lange sie leben können.

Hier wie auf anderen Feldern scheint, unabhängig davon, wie man das bewerten mag, noch „Luft nach oben“ zu bestehen. Auch der Club of Rome geht davon aus, die absoluten Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums würden erst etwa gegen 2100 erreicht. Derek da Solla Price, der 1961 auf das exponentielle Wachstum der Wissenschaft seit etwa 1650 aufmerksam gemacht hatte, extrapolierte die Wachstumsraten der Vergangenheit in die Zukunft, und allein das genügte, um die Unmöglichkeit einer ungebrochenen Fortsetzung des Trends zu verdeutlichen: Die Grenze des Wachstums wäre aus evidenten Gründen spätestens dann erreicht, wenn alle Menschen Wissenschaftler sind, und es braucht nicht viel Überzeugungsarbeit, um plausibel zu machen, dass es dazu wohl eher nicht kommen wird. Freilich sind wir von dieser Grenze auch noch weit entfernt. Laut Susan Cozzens umfasste das wissenschaftliche Personal, das an der Wende zum 20. Jahrhundert an deutschen Universitäten beschäftigt war (also zu jener Zeit, da Deutschland nach einem verbreiteten Urteil die führende Wissenschaftsmacht der Welt war), 2.667 Personen. Ende 2011 waren es nach Angaben des Statistischen Bundesamts 334.000. Absolut gesehen entspricht das einer Steigerung um den Faktor 125. Wer eine solche Steigerung vor 100 Jahren vorausgesagt hätte, wäre vermutlich der Phantasterei geziehen worden. Auch anteilig, also umgerechnet auf die Gesamtbevölkerung, ist die Steigerung beträchtlich: von etwas über 0,004 % der Bevölkerung in 1900 auf gut 0,4 % heute. Ist das jetzt die Obergrenze? Oder geht da noch etwas? Können (müssen?) „wir“ uns vielleicht auch einmal 0,8 % leisten? Das würde die Zahl der Wissenschaftler bis 2050, bei dann geschätzten ca. 70 Millionen Einwohnern, bereits auf 560.000 hochtreiben.

Übertragen auf die globalen Verhältnisse wären 0,4 % gegenwärtig etwa 28 Millionen Wissenschaftler und 0,8 % in 2050 (bei dann geschätzten 9 Milliarden Menschen) etwa 72 Millionen. 2006 gab es laut Unesco weltweit etwa 7,2 Millionen Wissenschaftler. Das waren zwei Millionen mehr als 1997. Ist es da vermessen anzunehmen, es könnten 2017 oder selbst erst 2027 nochmals zwei, drei Millionen mehr sein – was immer noch kaum über 0,1 % der Weltbevölkerung entspräche? Aber 9 oder 10 Millionen Wissenschaftler würden wahrscheinlich mehr Wissen produzieren als 7 Millionen. [Die obigen Zahlen zur Entwicklung der Wissenschaftlerpopulation beschränken sich bei Cozzens und dem Statistischen Bundesamt definitiv, bei der Unesco wahrscheinlich auf den Hochschulbereich und schließen Forscher, die in Wirtschaftsunternehmen arbeiten, aus. Da diese zumindest in der entwickelten Welt typischerweise die Mehrheit der Wissenschaftler darstellen, wird man heute schon von etlichen Millionen weiteren Wissenschaftlern ausgehen müssen. Globale Datensätze, die beide Grupppen integrieren und zudem historische Vergleiche über längere Zeitstrecken erlauben, sind mir allerdings nicht bekannt]

Man könnte so fortfahren und ähnliche Überlegungen etwa am Fall des Bildungssystems durchspielen. Das erspare ich mir. Die Botschaft, die ich übermitteln möchte, dürfte auch so klar genug sein. Wenn meine These sich bewahrheitet, dann werden die Aufwärtstrends sich kurz- und mittelfristig auf vielen Feldern fortsetzen, und wenn das geschieht, dann ist mit einer alle Lebensbereiche erfassenden Radikalisierung des Wandels zu rechnen, die unsere Vorstellungskraft sprengt. Die Bewältigung dieses Wandels gehört vermutlich zu den größten Herausforderungen, vor die wir uns durch die (und in der) globalen Moderne gestellt sehen (werden).