Das Religiöse am Spitzensport

Staunen und Respekt löst es aus, wenn jemand in ungünstiger Lage nicht aufgibt, sondern alles daran setzt, das Blatt zu wenden und schließlich damit Erfolg hat. Gut zu beobachten war das letzte Woche beim Mehrkampf-Wettbewerb der Turner-WM. Medaillenanwärter und Reckspezialist Fabian Hambüchen war schlecht gestartet. Nach der Übung am Seitpferd war er Letzter der 24 Teilnehmer. Doch dann begann seine Aufholjagd, Hambüchen setzte auf Risiko und arbeitete sich Station für Station nach vorne: auf Platz 17 nach den Ringen, auf Platz zehn nach dem Barren usw. Am Ende wurde es der Bronze-Rang. Ein solcher Verlauf ist nicht nur spannend anzusehen, sondern berührt den Betrachter.

Man kennt dieses Phänomen auch vom Mannschaftssport, wo es in der Dynamik des Zusammenspiels ohnehin stärker zu vermuten ist. Prägnantes Beispiel dafür war in der letzten Saison der Fußball Champions League das Viertelfinalspiel von Borussia Dortmund gegen Málaga CF. Nach einem Rückstand von 1:2 holte der BvB noch in der Nachspielzeit einer verloren geglaubten Partie die beiden entscheidenden Tore und sicherte sich den Einzug ins Halbfinale. Im Fußball begeisterten Ruhrgebiet entstand in den letzten Spielminuten ein regelrechter Sog an Aufmerksamkeit und Spannung. Je nach Wohnlage war dem nicht zu entkommen.

Was ist das Begeisternde, das Berührende an diesen Momenten? Es geht nicht einfach um einen erkämpften Erfolg, den Siegestreffer oder die Spitzenleistung. Erfahrbar wird hier die Spannung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit. Hier sind beide Sphären der Realität involviert, folgt man dem dualen Realitätsbegriff wie ihn Oevermann[i] im Anschluss an das Modell der Prädizierung von Peirce herausgearbeitet hat. Im Hier und Jetzt der unmittelbaren Erfahrung erlebt sich das Subjekt in seinem krisenhaften Sein. Erst durch die Existenz der ebenso realen Möglichkeit ist die Krisenlösung eröffnet: Ich bin jetzt Letzter, aber eine Medaille ist nicht unerreichbar. Zwischen Krise und Lösung liegen Raum und Zeit. Beides kann nicht gleichzeitig erfahren werden. Oft aber sind es nur wenige Minuten oder Meter zwischen dem, was ist, und der Realisierung dessen, was als Möglichkeit vorhanden ist.

Was ist zur Krisenlösung notwendig? Welche Fähigkeiten, Haltungen, Kenntnisse sind Voraussetzung für das Erreichen einer Lösung? Beim Spitzensport ist die Basis der Möglichkeit das fachliche Können, ein hohes Trainingsniveau, eine gute „Form“ wie es heißt. Doch nicht alle gut Trainierten schaffen die Realisierung der Aufholjagd. Hinzukommen muss das, was im Feuilleton etwas abgenutzt das ‚Prinzip Hoffnung‘ genannt wird.

Pointiert findet es sich im Sinnspruch: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Der Spruch, der dem Reformator Martin Luther in den Mund gelegt wird, stammt nach Volkmar Joestel[ii] aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Er formulierte in dieser schwierigen Situation zwischen Verzweiflung und Hoffnung eine Möglichkeit als Fluchtpunkt. Zu Luther passt er dennoch, weil sich darin seine Überzeugung widerspiegelt, dass der christliche Glauben auf das Hier und Jetzt bezogen ist und auf das Vertrauen baut, dass Gott zum Guten richtet, was der Einzelne nicht beeinflussen kann oder zu können meint. Glaube bedeutet nach Luther Zuversicht dem Zukünftigen gegenüber. Damit ist nicht nur eine selbstverantwortliche Glaubenshaltung angesprochen, sondern auch eine recht irdische Quelle beschrieben, aus der die nötige Tatkraft sprudelt, der es zum Eingehen von Wagnissen bedarf.

Soziologisch hat diese Zusammenhänge Max Weber[iii] unter dem Begriff des Charismas gefasst. Dabei handelt es sich um mehr als die Ausstrahlung des potenziellen Siegers. Sondern Charisma dient erstens der Selbstcharismatisierung, befördert also den eigenen Glauben an das Bewähren der Entscheidung, an den Erfolg der Anstrengung. Zweitens begründet es einen Antrieb, der aus der Überzeugungskraft resultiert und sich in tatsächliches Handeln übersetzt. Aus dem Glauben an das Gelingen wird der erfolgversprechende Handlungsvollzug. Es wird hier der Schritt aus der krisenhaften Situation (Gegenwärtigkeit) zur krisenlösenden Möglichkeit vollzogen.

Man muss dazu nicht einmal zu den Profis aufblicken, um das berührende Phänomen des Ringens mit den Gegebenheiten und den Möglichkeiten, den Kampf gegen die Wahrscheinlichkeit zu erleben. Auch in den Kinder- und Jugendstufen des Breitensports finden sich diese Momente von Aufholjagden, gemeinsamer Anstrengung und nicht nachlassendem Mut. So erfährt der säkularisierte Sportmensch von früh an eine urchristliche Gewissheit: dass es sich zu hoffen lohnt, wenn man bereit ist, die Möglichkeit zu ergreifen – potenziell jedenfalls. Der Volksmund bringt es auf die Formel: Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott. Von der Antike bis zur Moderne reicht die Quellenlage dieses Sprichworts. Seine Verallgemeinerbarkeit verdankt es der skizzierten Gültigkeit des zugrundeliegenden Antriebs.

Spätestens an dieser Stelle geht es nicht mehr nur um eine Strukturhomologie zwischen Leistungssport und christlichem Glauben, um die Übereinstimmung von sportlichem und religiösem Habitus. Sondern thematisch wird die weltliche Frage nach den Bedingungen möglicher Krisenbewältigung. In der Sozialen Arbeit ist dieses Strukturprinzip in den Grundsatz der ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ gekleidet. Nun lässt sich auch dieser deutlicher fassen. Denn einem großen Teil derer, die Hilfestellungen bedürfen, fehlt gerade der beschriebene Glaube an sich selbst. Mut und Hoffnung sind abhanden gekommen, weil sie im Herkunftsmilieu vielleicht nicht prämiert, im schlechteren Fall auch sanktioniert wurden. Von hier aus lassen sich nun Ansatzpunkte und Konzepte sozialer Hilfen ableiten: Sie müssen diese Erfahrungslücke im Einzelfall konkret bestimmen, um an eben dieser Stelle ansetzen zu können, insofern nachholende Erfahrung möglich ist, und dabei innere Stärke sowie Charisma entstehen lassen.


[i] Oevermann, Ulrich (1993): Die objektive Hermeneutik als unverzichtbare methodologische Grundlage für die Analyse von Subjektivität. Zugleich eine Kritik der Tiefenhermeneutik. In: Jung/Müller-Doohm (Hg.): Wirklichkeit” im Deutungsprozeß. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Frankfurt a.M., S. 106-189. Und: ders. (2004): Objektivität des Protokolls und Subjektivität als Forschungsgegenstand. In: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung, 5. Jg., Heft 2, S. 311-336.

[ii] Joestel, Volkmar (1992): Legenden um Martin Luther und andere Geschichten aus Wittenberg. Berlin, 1992.

[iii] Weber, Max, 1980/1921: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen, hier v.a. S. 140ff.