Chöre und erzählerische Wahrheit

Für das Sozialkunstprojekt „Sein oder…“ (gefördert vom Jobcenter des Landkreises Karlsruhe) wurden sechs Monate lang Hartz-IV-Empfänger freigestellt, um unter künstlerischer Anleitung „ein Theaterstück aus dem eigenen biografischem Stoff zu weben“. Ein paar Stunden vor der Premiere (!) lädt mich die Regisseurin ein. Warum? Mitten im Stück wird mein Buch „Schamland“ auf einen Tisch geknallt. Damit soll effektvoll die Frage beantwortet werden, in welchem Land wir eigentlich leben. Vielleicht ist das auch eine soziologische Form? Ich weiß es nicht. Ich habe es als Autor einfach gerne gesehen und war dankbar für die Einladung. Aber die Frage, welche Form soziologische Texte annehmen könnten, beschäftigt mich permanent. Gibt es in der Soziologie etwas, das in der Literatur selbstverständlich ist – Eleganz? Wie könnte eine elegante Soziologie aussehen, die Komplexität erhält und dennoch Verständlichkeit ermöglicht?

Ungestillter Realitätshunger

Einen Zeitungsartikel überlas ich fast, weil er sich an die Zunft der Schriftsteller richtete. Darin wurde beklagt, dass die zeitgenössische Literatur – „bis auf wenige Ausnahmen“ – ihr eigentliches Potential nicht entfalte (DIE ZEIT, 25. Juli 2013). „Wir leben in so spannenden, hochexplosiven Zeiten, warum packen die Schriftsteller nicht die Gegenwart bei den Hörnern und liefern uns einen radikalen Blick auf unsere Umbruchzeit? Die Stoffe lägen auf der Straße“, so das Fazit.

Beim Lesen musste ich daran denken, dass damit doch eigentlich (auch) die Soziologie gemeint war. Können denn aktuelle soziologische Texte den vorhandenen Realitätshunger stillen? Und wenn ja, welche Form müssten sie dazu annehmen? Wer kümmert sich (noch) um die Umbrüche, die neuen Wirklichkeitserfahrungen? Um die existentiellen Dringlichkeiten unserer Zeit? Wer nimmt die politische und ökonomische Wirklichkeit auf, indem er meisterhaft beobachtet, geistreich schreibt und auch (ein bisschen) boshaft kritisiert?

Müssen es denn allein die Schriftsteller sein, die uns als „Ethnologen des Inlands“ die eigene Stadt, die eigene Gesellschaft immer wieder vor Augen führen? Jemand wie Clemens Meyer mit seinem neuen Roman „Im Stein“, in dem er in der Tradition der Ethnopoesie von Hubert Fichte „bewunderswert und geradezu aberwitzig einfallsreich“ Unterwelten vorstellt (Ina Hartwig in der Süddeutschen). Warum gilt ein solches Buch als „großes Gesellschaftsepos unserer Zeit“?

Chor der Tafelnutzer

Diese Frage musste ich mir unfreiwillig selbst vor einiger Zeit stellen. Schnelldurchlauf, zunächst die Ausgangslage: 150 qualitative Interviews mit Armutsbetroffenen und Nutzern von Lebensmitteltafeln in ganz Deutschland. Das Problem: Was mache ich mit dem ganzen empirischen Material? Die Lösung: der „Chor der Tafelnutzer“. Lösungsweg: Eines Abends, ich höre Mozarts Ascanio in Alba. Darin gibt es einen wundervollen und kraftstrotzenden Chor. Einem Chor zuzuhören, ist ein ganz eigenartiges Erlebnis, der Hörer wird von Transzendenz umschmeichelt. Daher vielleicht die zündende Idee: Wie wäre es, die Interviews wie Stimmen zu behandeln und so zu überlagern, dass sie sich gegenseitig verstärken?

Mit dem Chor wollte ich zeigen, dass es sich nicht nur „um ein paar bedauernswerte Einzelfälle“ handelt. Ich wollte die vielen O-Töne zu einem großen Ganzen montieren und orientierte mich dabei (zunächst) an einem Bild von Walter Kempowski: „Wind ist nur am Kornfeld darzustellen, nicht am einzelnen Halm.“ Ich begann den Chor zu ‚dirigieren’: „Wir sind die, die seit Jahren Almosen in Empfang nehmen … Damit ist jetzt Schluss. Hier und jetzt erzählen wir von unseren Erlebnissen. … Um diese Rolle haben wir uns nicht bemüht, aber nun machen wir das Beste daraus. Das Beste ist, darüber zu sprechen, damit wir endlich gehört werden.“ Und dann berichtet der Chor, eine Montage aus 1.000 Interviewzitaten, vom Leben im Schamland…

Chöre und Stimmengewirr

Erst nachdem ich den „Chor“ geschrieben hatte, entdeckte ich (durch Zufall?) immer mehr außersoziologische Werke, die mich darin bestärkten, dass gerade ein Chor eine Form ist, „die Komplexität erhält und dennoch Verständlichkeit ermöglicht“: Walter Benjamin plante, ein Buch herauszugeben, das vollständig aus Zitaten bestand. Auch der bereits erwähnte Clemens Meyer bediente sich der Montagetechnik. Sein Buch sei ein „vielstimmiger Gesang der Nacht“, so eine Kritikerin.

António Lobo Antunes nutzt das Stilmittel des Chors in Mein Name ist Legion (2012). In diesem Buch berichtet ein älterer Polizist über die Lebenswelten, die sich in einem Slum von Lissabon überlagern. „Die unterschiedlichen Stimmen, die Antunes vermischt, zeigen die sozialen Verwerfungen der Metropole – stellvertretend für ganz Europa – auf.“ Ein hypnotisierendes Denkmal.

Das Techno-Buch Der Klang der Familie von Felix Denk und Sven von Thülen berichtet aus einer soziologischen Perspektive vom Aufstieg und Fall der „sozialen Architektur“ aus Musik. Dies gelingt, indem die Autoren „aus Interviews von siebzig Musikern, Clubmachern und Ravern einen vierhundertseitigen Dialog montieren“. Total geflasht.

Die 2013 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnete Swetlana Alexijewitsch beschäftigte sich ausgiebig mit den „Katastrophen der Moderne“ und arrangierte „sorgsam recherchierte Zeitzeugenaussagen zu vielstimmigen Chören“. Beispielhaft kommen Leidtragende in ihrem Buch Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft in einem „postsowjetischen Stimmengewirr“ zu Wort: „Ich habe einiges Material … Ich habe sieben Jahre lang gesammelt: Zeitungsausschnitte, eigene Aufzeichnungen, Zahlen. Ich geben Ihnen das alles … Ich werde nie von diesem Thema loskommen, aber selbst schreiben kann ich nicht.“

Erzählerische Wahrheit

Sicher, das sind nur ein paar zufällig ausgewählte Beispiele. Aber sie zeigen, welche Kraft derartige Formate entfalten können – und das durchaus mit dem Anspruch, soziologische Analyse und Reflexion zu betreiben. Für mich sind es Beispiele einer eleganten Soziologie, „die Komplexität erhält und dennoch Verständlichkeit ermöglicht“. Einer Soziologie, die sich für die Idee einer „erzählerischen Wahrheit“ öffnet und sich am Leitbild Voltaires orientiert: „Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige“. Eine schwierige, aber lohnenswerte Aufgabe.

7 Gedanken zu „Chöre und erzählerische Wahrheit“

  1. Hallo Welt, hallo DGS, hallo Hr. Selke.

    Vielen Dank für den wundervollen Artikel und die interessanten Fragen.

    Einerseits meine ich, dass die Frage „[w]arum […] ein solches Buch als „großes Gesellschaftsepos unserer Zeit [gilt]““ nicht so schwierig zu beantworten sein sollte, wenn man sich die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft vor Augen hält. Andererseits muss man sich in Bezug auf die Funktion eines Textes als Buchstütze oder gar Wurfgeschoss fragen, was das journalistische Interesse von Soziologen mit ihrer Profession zu tun hat? Gibt es nicht wirklich richtig gute Journalisten, die auch hätten Soziologen werden können? Ist nicht meine 89-jährige Tante mit ihrer Lebenserfahrung und Weisheiten eine viel bessere Soziologin als ich es bin? Und ist Soziologie nicht „nur“ eine Wissenschaft – und sonst nichts -, die u.a. Handwerkszeug für Kommunikationen in massenmedialer Öffentlichkeit versucht zu produzieren? Ohne den Werturteilsstreit neu aufbrechen zu wollen, ich finde man sollte in den Massenmedien Journalist bleiben und in der Wissenschaft Soziologe. Wer beides kann – umso besser. Deswegen Danke an den Hinweis der soziologischen Form „Werfendes Buch“ (vielleicht auch bei Simmel zu finden?).

    In der Tat glaube ich ebenfalls (es riecht schon nach religiöser Profession), dass es daran mangelt, dass aus der Wissenschaftsdisziplin entsprechend semantisch transformiert die erkenntnistheoretischen Essenzen in die Welt hinausgetragen werden sollten oder sich gute Journalisten, Künstler oder andere Professionen sich diese aus der Wissenschaft herausholen. (Nebenbei bemerkt eine interessante soziologische Form – wie würde man sie bezeichnen?).

    So oder so – es bleibt bestimmt viel soziologisch zu tun und zu erklären. Deswegen vielen Dank noch mal für den interessanten Teaser. Vielleicht sollte man doch mal die Idee eines Studenten aus Bielefeld wieder aufgreifen und eine richtige Zeitung „Soziologie“ herausgeben (wer entscheidet was rechten ist) – natürlich um neueste Semantiken, soziologische-evolutionäre Ideen und sachliche Werkzeuge bereichert (Fernsehen, Geruch, Musik). Gute Online-Versuche wie hier diese gibt es zum Glück ja schon. Aber wir lesen dann doch lieber ZTS (Münster) oder die Mittwochsausgabe der FAZ, oder? Zu lesen gibt es ja schon zum Glück doch eine Menge, aber auch zu erforschen.

    Viele Grüße aus dem soziologisch-journalistischen OWL. Sorry für den tangential response,
    Lutz Ebeling

  2. Ich finde, die beste soziologische Form ist, außer wissenschaftlich redlich vor allem verständlich (!), darüber hinaus spannend zu schreiben und dabei Tacheles zu reden. Hier sind Sie doch schon sehr gut dabei! Zumindest habe ich die letzten Wochen Ihre Posts und noch so manches andere von Ihnen, dass ich begleitend entdeckte, mit Genuss und Interesse gelesen. Sie heben sich in diesem Blog ziemlich ab ;-)

  3. Sie sprechen ein Thema an, welches mich auch beschäftigt. Gerade der Soziologe sollte die in seiner Disziplin gängigen Formen hinterfragen und gegebenenfalls hinter sich lassen können.

    Dass sich festgefügte Textsorten und Darstellungsweisen dank etwas Witz und Leichtigkeit überwinden lassen, sieht man an diesem Beispiel sehr schön. Das Theater Rigiblick (eine Bühne für Kleinkunst in Zürich) hat letztes Jahr seinen Geschäftsbericht in Form eines Reclam-Taschenbuches vorgelegt:

    http://www.youtube.com/watch?v=fKEgQjKW-uI

  4. Ich wollte eigentlich gar keine Differenzen herstellen, sondern nur auf Differenzen aufmerksam machen…danke für die vielen tollen Beispiele und Kommentare!

  5. Lieber Herr Selke,
    danke für Ihren interessanten Beitrag zu polyphonen Chören und erzählerischer Wahrheit! Übrigens verwendet auch Pierre Bourdieu immer wieder musikalische Metaphern – er spricht bspw. von „ungeschriebenen Partituren“ und „Akteuren [,die] glauben, jeder improvisiere seine eigene Melodie“ (1993: 86), aber auch davon, dass „das Geschlecht eine ganz fundamentale Dimension des Habitus [ist], die, wie in der Musik die Kreuze oder die Schlüssel, alle mit den fundamentalen sozialen Faktoren zusammenhängenden sozialen Eigenschaften modifiziert“ (1997: 222).
    Ihren Hinweis, soziologische Erkenntnis nicht ausschließlich innerhalb der soziologischen Disziplin zu suchen, finde ich unbedingt richtig. Bedeutet Ihr Verweis auf Literatur dann nicht aber umgekehrt zugleich, dass die Soziologie diese erzählerische Wahrheit nutzen kann und sollte, indem sie auch (fiktionale) Literatur in ihren Pool empirischen Materials einbezieht?
    Gerade dieser Tage bin ich über ein nun in deutscher Übersetzung erschienenes Buch von Luc Boltanski gestolpert: „Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft“. Boltanski schreibt im Vorwort: „Kriminal- und Spionagegeschichten […] sind heute die verbreitetsten narrativen Formen, und zwar weltweit. Dadurch spielen sie eine herausragende Rolle für die Vorstellung von der Realität […]. In diesem Sinne bilden diese Erzählungen bevorzugte Gegenstände für einen soziologischen Ansatz, der in Abkehr von einer strengen Dokumentenauswertung versucht, […] besonders politische Fragestellungen wieder aufzugreifen […].“ (Boltanski 2013: S. 17).
    Und außerdem: „Eines meiner Hauptanliegen bestand darin, symbolische Formen wieder aufzugreifen, die sich, weil sie an den Rändern der sozialen und politischen Realität liegen – dort, wo sie am handfestesten ist und fiktional besonders phantasievoll dargestellt wird –, weder dem Einsatz der klassischen soziologischen Methoden noch dem Rückgriff auf die Mittel, die die Literaturwissenschaft bereitstellt, ohne weiteres anbieten. Dies setzt eine Wiederbelebung der Verbindungen voraus, die die Soziologie immer schon in die Nähe des weiteren Bereichs der ‚Geisteswissenschaften‘ gerückt haben. “ (ebd.: S. 19)
    Eine solche Reanimation derzeit weitgehend brachliegender Verbindungen würde ich mir für die Soziologie wünschen, denn obgleich es vereinzelte Arbeiten gibt, die mit diesem Ansatz arbeiten (in der Soziologie bspw. Alkemeyer 2007; in der Literaturwissenschaft Wolf 2011), scheint mir, dass die empirische Hinwendung zur Literatur eine Methode ist, die gleichfalls „an den Rändern“ – der Soziologie – zu verorten ist, wodurch leider ein Potenzial zur soziologischen Erkenntnisgewinnung achtlos verschenkt wird …

    Literatur:
    Alkemeyer, Thomas (2007): Literatur als Ethnographie. Repräsentation und Präsenz der stummen
    Macht symbolischer Gewalt. In: Zeitschrift für Qualitative Forschung 8(2007)1, S. 11-31.
    Boltanski, Luc (2013): Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
    Bourdieu, Pierre (1993): Das Paradox des Soziologen. In: Soziologische Fragen. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 83-90.
    Bourdieu, Pierre (1997): Eine sanfte Gewalt. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Irene Dölling und Margareta Steinrücke [März 1994]. In: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 218–230.
    Wolf, Norbert Christian (2011): Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln, Weimar: Böhlau.

  6. Liebe Frau Suderland,

    danke für Ihren ausführlichen Kommentar. Das Buch von Boltanski lese ich gerade..es hat mich gleich ganz gefangen genommen. Allein aus Platzgründen bin ich nicht darauf eingegangen – und weil es natürlich unzählige weitere Beispiele dafür gibt. Daher würde ich unbedingt dafür werben wollen, fiktionale Literatur als empirisches Material zu betrachten, nicht nur Krimis (z.B. Manottis Beschreibungen der französischen Vororte und ihrer sozialen Probleme), sondern auch Hard Social Science Fiction …mir kommen da einige Bücher in den Sinn. Aber es geht um mehr: Literarische Formate eignen sich nicht nur zur Erkenntnisgewinnung, sondern auch zur Erkenntnisproduktion…

    Was die „Reanimation“ angeht, bin ich einerseits euphorisch (weil ich es mir wünsche) andererseits skeptisch. Darüber werde ich aber wohl im nächsten Beitrag mehr schreiben. Es braucht viele, die sich einig darüber sind, das „Potenzial zur soziologischen Erkenntnisgewinnung“ nicht „achtlos zu verschenken“ – eine wunderbare Formulierung, die ich mit Ihnen teile.

    Mir fällt in diesem Zusammenhang Max Planck ein, der gesagt haben soll, das man auch die Körner eines Sandhaufens zählen kann, dass dies aber noch keine Erkenntnis sei. Die Übertragung dieses Zitats auf „unsere“ Disziplin überlasse ich Ihrer Phantasie.

    Herzliche Grüße, Stefan Selke

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