Sozialität im Web (2)

Heute möchte ich nochmals auf die Fragen zurückkommen, die ich zu Beginn unter der Überschrift „Nos réseaux de sociabilité“ versucht habe zu behandeln. Sie lauteten: Ob sich eine neue Art der Sozialität mit dem Web konstituiert? Ob man das Web versteht, wenn man es mit früheren Formen der Sozialität vergleicht? Mein Zurückkommen hat verschiedene Gründe. Einer liegt darin begründet, dass, wie einige Kommentare zu Recht kritisiert haben, ich die Fragen nicht zufriedenstellend beantwortet habe. Dies werde ich auch dies Mal nicht leisten. Ein weiterer Grund ist, dass ich – nicht zuletzt durch Leser_innen des Blogs – auf einige Studien zum Themenkomplex „Soziologe und Web“ aufmerksam gemacht wurde. Herzlichen Dank für die Lektüre und die Lesehinweise. Drei Untersuchungen möchte ich Ihnen heute kurz vorstellen. Dabei interessiere ich mich dafür, wie sich die Studien dem Web soziologisch nähern, beispielsweise als empirische Quelle, als Erhebungsort, als Ort mit eigener Sozialität etc.

Ein Kommentar der vergangenen Woche hat mich auf den Sammelband „Die qualitative Analyse internetbasierter Daten. Methodische Herausforderungen und Potenziale von Online-Medien“, der just erschienen ist, hingewiesen. Herausgegeben wurde er von Dominique Schirmer, Nadine Sander und Andreas Wenninger. Ich habe leider bislang nur einige Beiträge lesen können, aber die ausführliche Einleitung – verfasst von den drei Herausgeber_innen – gibt einen sehr guten systematischen Überblick. Dieser Band befasst sich vorwiegend mit den Fragen, welche Herangehensweisen qualitative Analysen internetbasierter Daten erfordern, ob auf etablierte Techniken zurückgegriffen werden kann und welche Erweiterungen vonnöten sind. Einige Autor_innen zeigen aber auch, welche neuen Erhebungschancen Online-Medien bieten, welche neuen Fragestellungen sich auftun. Hierzu kann man aus dem Band viel lernen.

Der Fokus des Sammelbandes liegt auf der „Reflexion der Arbeit mit qualitativen Methoden und Online-Daten“ (16). So erörtert die Mehrzahl der Beiträge, welche methodischen Veränderungen vorzunehmen sind, welche Eigenarten des digitalen Materials nicht erfasst werden können. Weniger wird diskutiert, ob sich beispielsweise in den sozialen Medien wie Facebook, Twitter, Blogeinträgen, Chats andere Formen von Sozialität ausbilden. Allerdings werden in manchen Beiträge „Irritationen“ erwähnt, die bei der Analyse entstanden, z.B. bei der sequenzanalytischen Betrachtung von Blogs (79). Und Stefan Meißner stellt ausdrücklich die Behauptung auf, „dass die Qualitative Sozialforschung durch internetbasierte Medien irritiert werden würde“ (35). Irritationen, das lernen wir bereits bei Schütz, sind Anstoß, auf Erkundungsreise zu gehen: „If we encounter in our experience something previously unknown and which stands out of the ordinary order, we begin a process of inquiry“ (1944: 507). Es wird gewiss spannend, wenn die Qualitative Soziologie weitere Erkundungsreisen im Web unternimmt und sich vorwiegend mit jenen Eigenschaften des Webs beschäftigt, die sich mit den etablierten Methoden kaum erfassen lassen. In dem Sammelband gibt es somit Beiträge zum Web als empirische Quelle und als Erhebungsort, aber kaum dazu, ob das Web ein Ort eigener Sozialität ist.

Nun zu einem weiteren Beitrag, einer quantitativen Studie. Markus Strohmaier war so nett, mir letzte Woche den Link zu einer Publikation zuzuschicken. Ihr Titel lautet: „The nature and evolution of online food preferences.“ Er hat die Studie zusammen mit Claudia Wagner und Philipp Singer verfasst. Es handelt sich um eine Analyse von Zugrifflogs auf Webseiten, wo Kochrezepte eingestellt werden, z.B. chefkoch.de. Die drei Autoren haben die österreichische Online-Plattform ichkoche.at ausgewertet. Sie haben Fragen untersucht, die zum klassischen Repertoire der kulturwissenschaftlichen Essensforschung gehören, die aber nicht nur von wissenschaftlichem Interesse sind. So haben sie geprüft, ob die Zugriffe auf Kochrezepte regional variieren, ob sich saisonale Unterschiede erkennen lassen und ob sich die Zugriffe nach Wochentagen unterscheiden. Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die Ergebnisse eingehen und auch nicht diskutieren, was sich eigentlich hinter einem Zugriff verbirgt, die Lektüre von Anregungen, was man kochen und essen könnte oder eine Anleitung, die in die Tat umgesetzt wird.

Aus meiner Sicht zeigt diese Analyse dreierlei: Erstens hält das Web viele Daten über soziale Phänomene bereit, die sich ansonsten nur aufwändig erheben ließen. Zweitens – darauf bin ich bisher noch gar nicht eingegangen – verdeutlicht die Studie, wie methodisch herausfordernd es ist, diese Daten auszuwerten. Drittens zeigt sie, dass die Daten eine Möglichkeit eröffnen, die aber ohne eine vertiefte Kenntnis des Gegenstandes – gleich ob off- oder online – sich nur schwer nutzen lässt. Somit ist diese Studie – wie vermutlich intendiert – eher methodisch spannend denn inhaltlich ergiebig. Diese Untersuchung ist daher in erster Linie ein Beispiel, wie das Web als empirische Quelle für soziologische Fragestellungen genutzt werden kann.

Ganz kurz möchte ich Ihnen ein weiteres Projekt vorstellen: „Big Data: Demonstrating the Value of the UK Web domain dataset for Social Science research“. Es wird von Helen Margetts geleitet. Das Ziel des Projekts ist es, exemplarisch zu demonstrieren, wie sich die sozial- und geisteswissenschaftliche Forschung das UK Web Archiv erschließen kann. Margetts geht von der These aus: „Underneath all interaction and content on the web are links.“ Hyperlinks verbinden elektronische Dokumente, verknüpfen die Nutzer von Twitter und anderen sozialen Medien und sie ermöglichen den Nutzern, Webauftritte von Organisationen und Einrichtungen zu erreichen. Aus diesem Grund könnte eine Analyse der Links aufdecken, welche Entitäten innerhalb eines Diskussionszusammenhangs eine zentrale Position einnehmen, welche eher peripher sind und welche Akteure Zentrum und Peripherie überbrücken. Eine solche Analyse der „Verlinkungen“ der British Library ist unter folgendem Link zu finden. Bitte scrollen Sie auf die Seiten 29 und 30. Sie werden da nicht viel Inhalt sehen, aber ein schön „erblühendes“ Gebilde.

Ich habe Ihnen diese drei Studie vorgestellt, weil man sie als Versuch betrachten kann, eine Analyseperspektive und ein Methodenset zu entwickeln, welche vom Web ausgeht und nicht umgekehrt, Etabliertes auf das Web zu übertragen. Vielleicht könnte dies ein Weg sein, sich die Sozialität des Webs zu erschließen.

A. Schuetz: The Stranger. An Essay of Social Psychlogy, in: AJS 1944, pp. 499-507.

Ein Gedanke zu „Sozialität im Web (2)“

  1. „Ich habe Ihnen diese drei Studie vorgestellt, weil man sie als Versuch betrachten kann, eine Analyseperspektive und ein Methodenset zu entwickeln, welche vom Web ausgeht und nicht umgekehrt, Etabliertes auf das Web zu übertragen.“

    Die Frage ist wohl weniger, ob man vom Web ausgeht oder vom Etablierten. Dass neue Analyseperspektiven und Methodensets entwickelt wurden, liegt doch ziemlich klar an den neuen technischen Lösungen, die mit dem Internet angeboten werden. Die drei Schlussfolgerungen, die Sie am Ende ziehen, beziehen sich alle nur auf die neuen technischen Herausforderungen, die sich mit dem Internet stellen. Das allein sagt aber noch nichts über die Frage aus, ob sich im Internet eine neue Form der Sozialität entwickelt hat.

    Hier müsste vielleicht noch ein wenig präzisiert werden, was denn mit „Sozialität“ gemeint ist. Ich würde eher von Beteiligungsformen sprechen. Und ich würde immer noch sagen, dass es sich beim Internet zunächst nur um neue technische Lösung für alte Probleme handelt. Nur diese neue technische Lösung machen es überhaupt möglich heute die Essensvorlieben via Internet zu untersuchen. Die Nutzung von Kochbüchern statt Internetforen für die Rezeptrecherche ließe sich nicht so einfach untersuchen. Sieht man von den technischen Unterschieden ab, handelt es sich in beiden Fällen um dasselbe.

    Würde man nur von der neuen Technologie ausgehen, um zu der These zu gelangen, dass sich im Internet eine neue Form der Sozialität entwickelt hätte, so könnte man analog auch behaupten, nur weil Bücher nicht mehr in Papierform gelesen werden sondern als E-Book, hätte sich eine neue Form von Sozialität entwickelt. Aber nur weil sich das Verbreitungsmedium geändert hat, heißt dass noch nicht, dass sich die mitgeteilten Informationen geändert hätten und damit auch die Funktion des Buches. Andere technische Mittel, um dasselbe zu realisieren, bedeutet also nicht zwingend, dass sich eine neue Form von Sozialität gebildet hat.

    Das soll nicht heißen, dass sich nicht möglicherweise neue Formen von Sozialität bilden können. Ich bin allerdings skeptisch, ob man mit der Annahme, dass es sich bei Kommunikation via Internet unbedingt um eine neue Form von Sozialität handeln muss, wirklich weiterkommt. Nimmt man damit nicht das vorweg, was es eigentlich zu zeigen gilt? Letztlich liegt Ihren Ausführungen die einfache Annahme zugrunde: die Technik ist neu, also muss auch die Sozialität neu sein. Damit macht man es sich möglicherweise etwas zu einfach. Ich kann nicht erkennen, was diese Annahme rechtfertigen würde.

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