Mit einem Auge ist man halb blind: Von Einheit und Uneinigkeit der Soziologie

Prolog

Ich habe ein durchaus emphatisches Verhältnis zu meinem Fach, der Soziologie. Meines Erachtens ist sie –  neben der Sozialanthropologie – die Grundlagenwissenschaft für alle mit Sozialität oder Gesellschaftlichkeit verbundenen Fragen und informiert damit auch viele unserer Nachbarfächer, wie Politologie, Erziehungswissenschaft oder empirische Kulturwissenschaft. Zugleich liefert sie differenzierte und reflektierte Diagnosen der Gegenwartsgesellschaften und ihrer Probleme. Daher lässt es mich nicht unberührt, wenn eine Gruppe von Vertreterinnen und Vertretern unseres Faches den Begriff für sich reklamieren und ihn dabei inhaltlich so ausdünnen, dass – wie ich behaupten möchte – wesentliche Leistungen und zentrale Funktionsweisen der Soziologie als akademischer Disziplin verloren zu gehen drohen. Um Schaden vom Fach Soziologie in Deutschland abzuwenden, bedarf es dringend einer gründlichen Debatte über einige inhaltliche Grundfragen, aber auch über professionspolitische Strategien. Eine Debatte, die ich mit diesem Blog anstoßen möchte, von der ich mir aber wünsche, dass viele Kolleginnen und Kollegen aus den unterschiedlichsten Traditionen, ‚Schulen‘ und ‚Lagern‘ unseres Faches ihre Perspektive dazu beisteuern. Und die Debatte sollte nicht auf diesen Blog beschränkt bleiben, sondern auf den Fluren der Institute ebenso stattfinden wie auf Tagungen und in der medialen Öffentlichkeit.

Das erfreuliche an den Wissenschaften ist, dass das Streiten zu ihren vornehmsten Verkehrsformen gehört. Nicht nur ist das Bessere der Feind des Guten, auch die Urteile darüber was als besser gelten soll, gehen häufig und oft mit guten Gründen auseinander und führen im Idealfall zu gelehrten Disputen. Hoffen wir, dass dieser Idealfall auch hier eintritt.

Worum es geht

Wer die Debatten der letzten Monate verfolgt hat, wird wissen, um was es hier gehen soll: Die im Juli diesen Jahres von einer Gruppe quantitativer Sozialforscherinnen und Sozialforscher gegründete sogenannte „Akademie für Soziologie“ hat einerseits zu Recht, aber leider nur implizit, auf Unzulänglichkeiten in der DGS aufmerksam gemacht: Mangelnde Transparenz bei der Gremienbesetzung, wenig ausgewogene Repräsentation der verschiedenen Strömungen innerhalb des Faches in Konzil und Vorstand, mangelnde Repräsentation der Sektionen in der Willensbildung der DGS, aber auch eine übertriebene Politisierung der soziologischen Argumentation mitunter auf Kosten der fachlichen Qualität. All das kann man mit gutem Recht mahnend ansprechen und Abhilfe einfordern. Der Akademie-Initiative [1] aber geht es andererseits nicht einfach um innerorganisatorische Manöverkritik oder um das Ingangsetzen eines organisationalen Reformprozesses. Sie verstehen die Akademie-Gründung als Kampfansage an und Konkurrenz zur DGS – und schrauben dafür dort gleich einmal das Namensschild ab, um es an der neuen eigenen Haustür anzubringen.

Man kann das empörend finden, ich finde es aber vor allem nicht besonders weise. Denn die neu gegründete Akademie verhält sich zur DGS in etwa wie eine Business School zu einer Volluniversität: Ein methodisch, theoretisch und inhaltlich schmales Segment unseres Faches organisiert sich dort in einer Weise, die wesentliche andere Theorieströmungen, Methodentraditionen und Forschungsfelder exkludiert und sich nach Art der Anwendungsforschung auf Wissenstransfer in die Gesellschaft beschränkt. Das wird auf Dauer für die Akademie-Mitglieder wenig  befriedigend sein, lässt aber eben auch die DGS unvollständig zurück. Klüger erschiene es mir, den fachlichen aber auch den professionspolitischen Diskurs innerhalb der DGS neu zu beleben, Widersprüche auszuhalten und produktiv zu wenden.

Methoden-Schisma und Theorie-Monopole: Wege ins Abseits

Mitunter scheint sich der Eindruck festzusetzen, die mit der Akademie-Gründung verbundene Strategie ziele vor allem auf das Methoden-Schisma in der Soziologie und den Sozialwissenschaften insgesamt. Immerhin favorisiert der Gründungsaufruf der Akademie recht eindeutig Forschung mit quantitativen Daten in einer nomologisch-deduktiven Manier. Tatsächlich aber geht es nicht allein um eine Auseinandersetzung zwischen standardisiert-quantifizierenden und qualitativ-interpretativen Methoden. Es geht mindestens ebenso sehr auch um Theorie-Pluralismus in sozial-, wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Fragen, um die Bestimmung der Aufgaben der Soziologie, die Rolle des Politischen in den Wissenschaften. Es geht um nicht weniger als das Selbstverständnis unseres Faches, der Soziologie.

Ich will das kurz illustrieren: In einem von Roger Berger verfassten Papier [2], das dem Gründungsaufruf voranging und das in Mailinglisten quantitativer Sozialforscherinnen kursierte, wird sorgenvoll konstatiert, das Fach Soziologie könne sich seit seiner Gründung als akademische Disziplin „auf nichts einigen“ und gemutmaßt, dass diese Uneinigkeit zuvörderst aus einem Dissens „über die Grundannahmen zum Gegenstand und zur Methode des Fachs“ resultiert, über Axiome also, die nicht beweisbar sind und einfach nur „akzeptiert oder abgelehnt“ werden könnten. Vermutlich würde niemand in der Soziologie die Diagnose ernstlich bezweifeln. Spannender ist es allerdings zu prüfen, warum dieser Befund zum Ausgangspunkt einer Problembeschreibung gemacht wird, statt ihn für den Ausdruck zentraler Qualitäten der Soziologie als eines multiparadigmatischen Faches zu nehmen. Warum sollte es eigentlich schlecht sein, wenn wir uns in einer Wissenschaft nicht auf eine unbewiesene (weil eben unbeweisbare) axiomatische Grundposition festlegen, sondern eben diese Unentscheidbarkeit zum Ausgangspunkt einer Multiplizität theoretischer Perspektiven auf und methodischer Zugänge zu unseren empirischen Gegenständen machen?

Ein wichtiges Kriterium guter Forschung ist – darauf kann sich vermutlich dann doch das ganze Fach verständigen – die Gegenstandsangemessenheit der verwendeten Methoden und theoretischen Rahmungen. Wenn wir daran festhalten, dann könnte die Soziologie, die die Gründer der Akademie für sich reklamieren, allein solche Gegenstände erforschen, die sich der epistemologischen Perspektive eine „kritischen Realismus“, der Forschungslogik des Theorietests und dem Einsatz quantifizierender Verfahren fügen. Ganz zu schweigen von der absehbaren Beschränkung der theoretischen Perspektive auf Humankapitaltheorien und Rational Choice.

Es spricht aus meiner Sicht also wenig dafür, sich – wie im Beitrittsverfahren zur Akademie vorgesehen – per Selbstverpflichtung auf ein enges Theorie- und Methodenprogramm zu verpflichten. Es will mir auch ganz und gar nicht wissenschaftlich erscheinen, denn eine Wesensmerkmal von Wissenschaften ist doch, dass sie offen dafür sind, sich mit ihren Gegenständen weiter zu entwickeln.

Was ist der Job der Soziologie?

Sollte sich die Soziologie darauf beschränken, Gesellschaften möglichst präzise und vergleichend zu vermessen? Erschöpft sich unsere Aufgabe in so verstandenen Gegenwartdiagnosen von Gesellschaften? Sicher nicht. Es muss auch um nachvollziehende Prozessrekonstruktionen gehen: Wie sind Ungleichheitsverhältnisse entstanden, wie prozessieren sie im Alltag, wie werden sie dort reproziert? Wie hat sich ein bestimmter Sozialtypus herausgebildet? Welche Institutionen haben sich unter welchen Bedingungen entwickelt? In welche Praktiken ist das Alltagshandeln eingespannt und in welchen Situationen wird dieser Zusammenhang reflexiv aufgebrochen? Tatsächlich geht es aber um noch wesentlich mehr. Gerade weil Soziologie ein Teil der Gesellschaft ist, die sie untersuchen will, weil sie sich am Ende auch nur der interaktiven und sprachlichen Mittel bedienen, der Wahrnehmungsweisen befleißigen kann, die auch anderen Gesellschaftsmitgliedern zur Verfügung stehen, weil Soziologie also keinen privilegierten Beobachtungsposten außerhalb des Sozialen zu beziehen vermag, der sie von ihrem Untersuchungsgegenstand entkoppelt: Gerade deshalb muss die Soziologie immer wieder aufs Neue ihre Grundbegrifflichkeiten thematisieren: Was Handeln ist und was Gesellschaft, was wir als Institutionalisierung und was als Habitualisierung verstehen wollen, wie  Individuierung und wie Vergesellschaftung prozessieren, ist nicht in Stein gemeißelt, sondern Gegenstand des fachwissenschaftlichen Diskurses. Dieser generiert unterschiedliche, mitunter gar einander widersprechende Sichtweisen. Ist das movens sozialen Handelns besser in rationalen Wahlakten, in situierten Praktiken, in der Logik sozialer Systeme oder als Ergebnis internalisierter Normen konzeptualisiert? Die meisten von uns werden dazu eine Position haben. Soziologie wird daraus aber erst, wenn es sich dabei nicht um Glaubensbekenntnisse mit Alleinvertretungsanspruch handelt. Mit jeder dieser Perspektiven lassen sich unterschiedliche Aspekte und Dimensionen sozialer Phänomene sichtbar machen. Gerade dieser multiperspektivische Blick auf Gesellschaft scheint mir die Qualität unseres Faches auszumachen.

 

[1] http://akademie-soziologie.de/akademie/gruendungsaufruf/

[2] Berger, R. (2016). Soziologie als theoriegeleitete empirische Sozialforschung: Axiome. Unveröff. Papier, Universität Leipzig.

9 Gedanken zu „Mit einem Auge ist man halb blind: Von Einheit und Uneinigkeit der Soziologie“

  1. „Es spricht aus meiner Sicht also wenig dafür, sich – wie im Beitrittsverfahren zur Akademie vorgesehen – per Selbstverpflichtung auf ein enges Theorie- und Methodenprogramm zu verpflichten.“ – Was ist denn die Quelle hierfür? Ich sehe nur den alltäglichen Vermerk „Ordentliche Mitglieder der AS können alle Personen werden, die soziologische Forschung betreiben und die Ziele der Akademie unterstützen.“

    1. Lieber Herr Krieger,
      Sie fragen, woraus sich die m.E. enge Selbstverpflichtung qua Beitritt zur Akademie ergibt. Die Ziele der Akademie werden im Gründungsaufruf bestimmt und lassen sich dort nachlesen. Kritischer Realismus wäre damit eine der Festlegungen, ein bestimmtes Methodenverständnis ebenfalls und damit zugleich die Einschränkung auf empirische Forschung z.B. im Unterschied zu soziologischer Theorie.

      1. Selbstverständlich gibt es keine empirische Forschung ohne Theorie. Das wäre schlechter Empirismus bzw. Positivismus. Das Entscheidende ist, dass Theorien an der Wirklichkeit scheitern können müssen. Und damit sie das können, benötigt es überprüfbare, aus Theorien abgeleitete Hypothesen und Verfahren, die methodisch kontrolliert, nachvollziehbar und objektiv reliable und valide empirische Ergebnisse ermöglichen. Bedingung der Möglichkeit für das Überprüfen von Theorien ist wiederum, dass es so etwas wie eine beobachterunabhängige soziale Wirklichkeit gibt.

        1. Lieber Herr Schlager,
          es ist genau wie Sie sagen: „Bedingung der Möglichkeit für das Überprüfen von Theorien ist wiederum, dass es so etwas wie eine beobachterunabhängige soziale Wirklichkeit gibt“. Aber: Nur weil es die Bedingung der Möglichkeit ist, ist es noch lange nicht gegeben. Man kann es sich höchstens Wünschen, aber dasd hilft bekanntlich nicht immer. Was es gibt, sind zumindest sehr unterschiedliche Verständnisse davon, wie der Zusammenhang zwischen Welt/Umwelt und Handelnden/Interaktionen/Situationen beschaffen ist. Die Vorstellung einer universellen Realität ist eine dieser Vorstellungen. Die Idee einer Multiplizität beobachterabhängiger Realitäten, wie sie etwa aus pragmatistischer Perspektive von Mead vertreten wird, ist z.B. eine ganz andere. Beide Vorstellungen haben ihre Vorzüge, aber auch ihre Nachteile, und es lässt sich eben nicht per Setzung entscheiden, welche davon oder welche sonstige Vorstellung zutreffend ist. Wir befinden uns hier im Feld der axiomatischen Grundannahmen und müssen uns für konkrete Forschungen letztlich entscheiden, welcher Perspektive wir folgen wollen. Und wir müssen das offenlegen, also der Kritik zugänglich machen. Was wir aber nicht tun sollten: Die Soziologie qua Entscheid auf eine dieser Perspektiven verpflichten.
          Und wir sind uns auch ganz einig, dass empirische Forschung ohne Theorie nicht funktionieren kann, eine Einsicht, die schon Einstein formuliert hat:

          „Aber vom prinzipiellen Standpunkt aus ist es ganz falsch eine Theorie nur auf beobachtbare Größen gründen zu wollen. Denn es ist ja in Wirklichkeit umgekehrt. Erst die Theorie entscheidet darüber was man beobachten kann.“ [1]

          Nun kommt es aber darauf an, welchen Begriff von Theorie wir zugrunde legen und wie wir zu Theorien dieses Typs kommen. Auch da gibt es unterschiedliche Vorstellungen: Handlungstheorien, Interaktionstheorien und Systemtheorien sind schon mal eine relevante Unterscheidung. Eine andere hat Herbert Kalthoff herausgearbeitet: Er unterscheidet zwischen

          „1. Theorien als beobachtungsleitenden Annahmen,
          2. Theorien als aus empirschem Mateiral entwickelten Kategorien,
          3. Theorien als beobachtbaren Phänomenen.“ [2]

          Auch zwischen Sozialtheorien, die in sehr allgemeiner Weise darüber informieren, wie wir uns das Prozessieren von Sozialität und deren Beobachtbarkeit vorstellen können, Theorien mittlerer bzw. begrenzter Reichweite, die über begrenzte soziale Phänomene informieren, und Gesellschaftstheorien, die historische Gesellschafttypen oder -formationen charakterisieren [3].
          Und selbstverständlich können Theorien auch Scheitern, vor allem dann, wenn auf ihrer Basis erfolgreichen Handeln bzw. Problemlösen nicht mehr funktioniert.
          Und es bleibt die Frage: Wo kommen die Theorien eigentlich her, wie werden sie generiert. Diese Frage bleibt in dem von den Akademie-Gründerinnen als gesetzt betrachteten Modell unterbelichtet.

          [1] Einstein zitiert nach Heisenberg 1969: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München, S.92
          [2] Kalthoff, H. (2008). Einleitung: Zur Dialektik von qualitativer Forschung und soziologischer Theoriebildung. In H. Kalthoff, S. Hirschauer, & G. Lindemann (Hrsg..), Theoretische Empirie (S. 8–32). Frankfurt a. M..
          [3] Lindemann, G. (2008). Theoriekonstruktion und empirische Forschung. In H. Kalthoff, S. Hirschauer, & G. Lindemann (Hrsg.), Theoretische Empirie (S.. 107–128). Frankfurt a. M..

  2. Lieber Herr Strübing,

    herzlichen Dank für Ihren diskussionseröffnenden Beitrag. Ich möchte ergänzen: Gerade in einer Zeit der fortschreitenden Informatisierung, in der individuelle wie kollektive Entscheidungsprozesse in zunehmendem Maße auf (algorithmisch aggregierten bzw. evaluierten) objektivierten Kennzahlen fußen, kommt einer Soziologie, die sich ihrer eigenen Multiperspektivität in methodischer wie theoretischer Hinsicht und der Kontextgebundenheit bzw. Beobachterrelativität jeglicher Zahlenwerte, Beschreibungen und Prozessrekonstruktionen bewusst ist (und sich damit aktiv auseinandersetzt) eine zentrale Rolle zu. Eine derart dachorganisational sichtbare Zergliederung kann sich die Soziologie m.E. zudem auch mit Blick auf ihre öffentliche Wirksamkeit auf lange Sicht kaum leisten. Insofern erscheint in der Aufnahme von umfassenden Sondierungsgesprächen zwischen den unterschiedlichen „Lagern“ höchste Eile geboten.

  3. Lieber Herr Strübing,

    was verstehen Sie unter „kritischen Realismus“? Das Programm des kritischen Rationalismus, das sich relativ präzise mit bestimmten Personen (z.B. Hans Albert) und deren Positionen umschreiben lässt, oder eine allgemeine, erkenntsnistheoretische Grundposition, die davon ausgeht, dass eine reale Welt sehr wohl existiert, aber der menschlichen Wahrnehmung nicht sofort und unmittelbar erkennbar ist? Das Programm eines Roy Bhaskar oder von Margarete Archer meinen Sie wahrscheinlich nicht, obwohl das in England genau unter dem Label „critical realism“ diskutiert wird.

    1. Lieber Herr Mankillum,
      ich beziehe mich auf den Begriff wie er in dem Papier von Roger Berger (wie zitiert) als Spezifizierung des vorgeschlagenen „erkenntnistheoretischen Realismus“ eingeführt wird. Letzteren bestimmt Berger so: „annahmegemäß existiert eine hinreichend stabile soziale Außenwelt, die vom forschenden Subjekt unabhängige Strukturen, Muster, etc. aufweist. Diese Strukturen können prinzipiell intersubjektiv überprüfbar erforscht werden.“ Es geht also um eine allgemeine erkenntnistheoretische Grundposition, die in dem Papier aber eng mit dem Kritischen Rationalismus Poppers verbunden wird.
      Mit besten Grüßen
      Jörg Strübing

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