Organisation und Repräsentation

Die Tatsache, dass die Initiatorinnen der Akademie dieser das Wort „Soziologie“ beigesellen, hat für viel Verdruss gesorgt, selbst bei wohlmeinenden Kollegen, die den umgekehrten Verdruss der Akademie-Gründerinnen über die aktuelle Verfassung der DGS und ihrer Gremien in größeren Teilen nachvollziehen konnten, aber sich und ihre Art Soziologie zu treiben in der Akademie nicht wiederfinden. Hätte sich eine „Akademie für standardisierte Sozialforschung“ gegründet, hätten sich manche vielleicht gefragt: Wofür brauchen wir so etwas? Empörung wäre aber vermutlich nicht aufgekommen.

What’s in a name? Mir fiel dazu kürzlich ein Zitat des Begründers der Tübinger Soziologie, Ralf Dahrendorf, in die Hände:

„Soziologie ist das, was die Leute, die sich Soziologen nennen, tun, wenn sie von sich sagen, daß sie Soziologie betreiben. Mehr nicht. Die Suche nach ‚der Soziologie‘, als sei sie ein Ding, gar ein Ding an sich, ist reine Metaphysik, boden- und hoffnungslos zugleich. … Gewiß ‚darf man fragen, ob eine wissenschaftliche Disziplin ‚im Kern‘ so etwas wie eine ‚innere Einheit‘ darstellt‘; nur eine Antwort auf die Frage darf man nicht erwarten. Es gibt keinen Kern von Fachdisziplin und auch keine innere Einheit, sondern nur deren historisch gewachsene äußere Mehr-oder-minder-Einheit. Alle weiteren Fragen sind empirisch: was verbindet die Leute, die sich zugehörig fühlen, wenn sie ihr Tun mit dem Namen des Faches zieren?“ [1]

 

Es können also, mit Dahrendorf gesprochen, Leute etwas tun, was sie Soziologie nennen, und dann ist es auch Soziologie. Nun würden wir vermutlich etwas mehr Reziprozität in der Bedeutungszuweisung erwarten, also: dass auch andere denen, die ihr Tun Soziologie nennen, zuschreiben, dass sie Soziologie betreiben. Das macht die Sache realistischer, aber nicht einfacher. Die Akademie-Gründung und die sich darum entfaltende Diskussion im Fach kann man durchaus auch als Streit darüber lesen, wer sich denn nun wohl mit Fug und Recht als Soziologin bezeichnen darf.

Wenn ich die Zeichen richtig deute, dann finden viele derer, die es in die Akademie treibt, sich und ihre Art Soziologie zu betreiben, in der Repräsentation des Faches durch die Deutsche Gesellschaft für Soziologie nicht wohlgelitten/angemessen rezipiert/willkommen. Gerne wird der Bamberger Soziologie-Kongress als Tropfen genannt, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Zuwenig Beiträge aus der z.B. analytischen Soziologie und anderen Feldern einer vorwiegend modellbildenden, mit Simulationen arbeitenden oder sonstwie quantitativ und theorie-testend operierenden Sozialforschung, zu wenig Berücksichtigung dann auch in den Wahlvorschlägen für die Gremien der DGS zu den anschließenden Wahlen. Da ist zweifelsohne etwas dran.

Wobei man auch hier unterscheiden muss und die Dinge in größeren und länger wirkenden Zusammenhängen denken muss:

Die Gremienrepräsentanz der – pauschal und vereinfachend gesagt – quantitativ forschenden Kolleginnen in Vorstand und Konzil war in den vergangen Jahren deutlich unterdurchschnittlich. Für die DGS ergibt sich daraus aktuell ein Repräsentationsproblem, das gelöst werden muss. Das ist nicht so sehr ein Gerechtigkeitsproblem, sondern eher eine Opportunitätsfrage. Es ist letztlich keine Gerechtigkeitsfrage, weil über längere Zeiträume betrachtet erhebliche Unterrepräsentanzen bestimmter Richtungen (methodisch, theoretisch, politisch) in den DGS Gremien immer wieder einmal aufgetreten sind. Nachdem viele Jahre (wenn man es in Richtungen grob benennen will) standardisierte Sozialforschung und klassische soziologische Theorie überrepräsentiert war und andere Richtungen (z.B. die qualitative Sozialforschung) teilweise stark unterrepräsentiert, ist es nun – vorübergehend, wie zu hoffen steht – einmal umgekehrt. Es ist auch deswegen kein wirkliches Gerechtigkeitsproblem, weil wir oft genug auch erleben durften, dass Kollegen aus dem Bereich der standardisierten Sozialforschung und der analytischen Soziologie bei Wahlen einfach kein Mandat erringen konnten. Für die Präferenzmuster der Wählerschaft trägt aber nicht die Organisation die Verantwortung, sondern ebenso die Kandidatin mit ihrer Fähigkeit, Mehrheiten zu organisieren. Man mag mit gutem Recht einwenden, dass die Prozesse der Kandidatenaufstellung mancher Ambition auf Mitarbeit in den Gremien frühzeitig ein Ende gesetzt hat, richtig ist aber auch, dass namhafte und aussichtsreiche Kandidaten der nun unterrepräsentierten Richtungen nicht unbedingt Schlange gestanden haben.

Das Repräsentationsproblem der DGS ist eine Opportunitätsfrage, weil eine akademische Fachgesellschaft kein Tendenzbetrieb ist, wie etwa eine Partei oder eine Religionsgemeinschaft. Eine Fachgesellschaft wie die DGS hat die Aufgabe, das Fach in seiner Breite zu nach außen zu vertreten und nach innen in Kommunikation und Austausch zu bringen. Nur dann erfüllt sie ihren Zweck. Leider erfüllt die Akademie mit ihrem exklusiven Gestus diese Anforderungen nicht nur nicht besser, sondern eher noch schlechter als die DGS in ihrem gegenwärtigen Zustand.

Die Themenrepräsentanz ist von der Gremienrepräsentanz zu unterscheiden, weil bei ersterer die Verantwortung auf wesentlich mehr Schultern verteilt ist: Im Vorfeld der letzte Soziologiekongresse ist immer wieder und von vielen Seiten Klage darüber geführt worden, dass die thematische Ausrichtung der Plenarveranstaltungen und die Bestellung von Organisatorinnen sehr intransparent ausgehandelt wurde. Den Plenarveranstaltungen kommt besondere Bedeutung als relativ konkurrenzlose Schaufenster für Vertreter des Faches zu, weil nur wenige Parallelveranstaltungen zugelassen werden. Zugleich sollen die Themen mindestens dieser Plenarveranstaltungen sichtbar auf das Kongressthema Bezug nehmen. Die Festlegung des Kongressthemas wiederum gebührt vor allem den Veranstaltern vor Ort in Absprache mit dem Vorstand der DGS. Festlegungen, die dort getroffen werden, schlagen auch auf die thematischen Möglichkeiten der Plena durch. Bei Fächern, die eine größere Homogenität aufweisen und bei denen eine klare ‚Front der Forschung‘ auszumachen ist, mag das weniger problematisch sein, weil sich die Kongressthemen fast von selbst ergeben. In der Soziologie mit ihrer Vielfalt aktueller Themen, den diversen methodischen Zugängen und differenten Theorieperspektiven ist die Themenfindung heikler: Ist das Kongressthema zu breit und nichtssagend, finden zwar alle ihren Platz im Programm, das dann aber beliebig wird und keine Aufmerksamkeit (auch in der Öffentlichkeit) generiert. Wird ein pointierter gerahmtes Thema verfolgt, ergeben sich schnell thematische Standortvorteile bestimmter Sektionen oder Schulen.

Für die DGS und ihre Gremien wartet hier ein Haufen Arbeit, der ernst genommen werden sollte: Die wesentliche fachliche Arbeit wird innerhalb der DGS von den Sektionen geleistet. Schaut man sich aber an, wie diesen in die Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse eingebunden sind, stellt man erstaunt fest, dass es zwar eine Versammlung der in den Sektionen demokratisch gewählten Sprecherinnen gibt, diese aber nur über Beschlüsse des Vorstandes und des Konzils informiert werden. An bindenden Beschlüssen der DGS mitwirken können sie nicht. Das Konzil wiederum ist zwar durch die gesamte Mitgliedschaft der DGS per Wahl legitimiert, doch die Aufstellung der Kandidatinnen, aus denen gewählt werden kann vollzieht sich wenig transparenten Prozessen, dito die Nominierung von Vorstands- und Vorsitzenden-Kandidaten. Eine Satzungsreform ist überfällig. Und vielleicht sollten wir uns dabei von klugen Organisationssoziologinnen beraten lassen – den Luxus, die einschlägige Expertise im eigenen Haus zu haben, kann nicht jede Organisation für sich reklamieren. Es gibt keinen Grund, warum der Schuster die schlechtesten Schuhe tragen sollte…

Was das für die Frage des Umgangs mit der Akademie bedeutet? Zumindest sollte die DGS aus deren Satzung besser nicht abschreiben, denn die Akademie ist doch eher als Honoratiorenverein angelegt: Mitglied kann nur werden, wer wenigstens promoviert ist oder „qualitätsgeprüfte wissenschaftliche Publikationen als Voraussetzung für die ordentliche Mitgliedschaft“ vorweisen kann (§ 3,1).  Alle anderen soziologischen Menschen können nur assoziierte Mitglieder sein und müssen auf passives wie aktives Wahlrecht verzichten. Es gibt durchaus gute Gründe, warum studentischen Mitgliedern vielleicht noch nicht die Eignung für einen Vorstandsposten zugesprochen werden sollte, aber warum sollen sie und vor allen Dingen: Warum sollen ausgebildete Soziologinnen nicht den Vorstand ihrer akademischen Fachgesellschaft mitwählen können? Laut den Studienordnungen unseres Faches ist ein Studium der Soziologie berufsqualifizierend, und es sind zu einem erheblichen Teil (noch) nichtpromovierte Soziologen, die den Löwenanteil der Projektforschungs- und Lehrstuhlarbeit verrichten.

[1] Dahrendorf, R. (1989). Einführung in die Soziologie. Soziale Welt, 40(1/2), 2-10.

 

7 Gedanken zu „Organisation und Repräsentation“

  1. Letzter Absatz: stimme voll und ganz zu. Eine verschenkte Chance.

    Der Name Soziologie: ich wundere mich oft, was sich Soziologie nennt wenn ich das Feuilleton aufschlage oder SWR2 Wissen höre. Für mich ist das Philosophie oder Sprachforschung.

    Daraufhin zucke ich mit den Schultern und gehe weiter. Hindert mich nicht daran, meine Forschung zu machen. Eine Diskussion darüber, wer Soziologe ist scheint mir wenig zielführend. Die DGS hat den Namen sicher nicht erfunden.

    1. Lieber Herr Krieger,
      es ist wohl kaum zu bestreiten, dass die Soziologie als Fach viele Nachbarinnen hat, zu denen nicht nur die Lieblingsnachbarinnen der Akademie, also Wirtschaftswissenschaft, Psychologie, empirische Bildungsforschung, gehören, sondern ebenso die Philosophie, die Sprachwissenschaft und – leider zu selten erwähnt – die Geschichtswissenschaft. Von Anthropologie, Ethnologie, Empirischer Kulturwissenschaft und Erziehungswissenschaft ganz zu schweigen. Weil unser Gegenstand sehr vieldimensional ist, sind auch fachübergreifende Thematisierungsweisen eher eine Stärke als eine Schwäche des Faches – solange der fachliche Kern der Soziologie nicht verloren geht. Der aber besteht nicht einfach aus immer exakteren Daten, methodischen Kontrollen, Replikationen und einem enggeführten Erklärungsbegriff. Sondern aus der umfänglichen Erfahrung und systematischen emprisch-theoretischen Durchdringung unseres Gegenstandes. Dafür steht m.E. das akademische Fach Soziologie, das in Deutschland in voller Breite von der DGS vertreten wird.
      Mit besten Grüßen
      Jörg Strübing

      1. Nach mehrfachem Lesen Ihrer Posts fällt auf, dass sie an mehreren Stellen in unterschiedlichen Wendungen beklagen, dass die Akademie für Soziologie eine Soziologie propagieren würde, die die Gesellschaft möglichst vermisst. In Ihrer Antwort hier: „Der aber besteht nicht einfach aus immer exakteren Daten, methodischen Kontrollen, Replikationen und einem enggeführten Erklärungsbegriff,“ im Post „Soziologie und Politik: Geht da was?“ schreiben Sie: „Auch das wäre wieder nur eine Form affirmativer und letztlich unkritischer Wissenschaft und insofern nicht besser als eine akribische, ‚evidenzbasierte‘ Gesellschaftsbeschreibung, die über den Status einer dem Stil des Realismus verpflichteten ‚Hofmalerin‘ herrschender gesellschaftlicher Verhältnisse nicht hinauskommt,“ im Post „Mit einem Auge ist man halb blind: Von Einheit und Uneinigkeit der Soziologie“ schreiben Sie: „Sollte sich die Soziologie darauf beschränken, Gesellschaften möglichst präzise und vergleichend zu vermessen?“ und im Post „Was für eine Wissenschaft soll die Soziologie sein?“ schreiben Sie „[…] dass Soziologie sich nicht darin erschöpft, möglichst präzise Datensätze über gesellschaftliche Zustände und Prozesse zu generieren.“

        Es ist an einzelnen Stellen nicht klar, ob Sie dieses Problem wirklich bei der Akademie sehen oder ob sie die Option an sich beklagenswert erachten. In jedem Fall wundere ich mich, wie Sie darauf kommen, dass eine bedeutende Strömung in der Soziologie die möglichst genaue Messung der Gesellschaft als zentrales Ziel hat. Ich würde nicht darüber streiten wollen, dass die empirische Sozialforschung gute Gegenstandsbeschreibung als Nebenziel hat, aber ich kann keine abgrenzbare Gruppe in der Soziologie erkennen, die als zentrales Ziel möglichst genaue Messung der Gesellschaft als zentrales Ziel hat. Vielleicht können Sie das ja etwas genauer erläutern oder Beispiele geben.

        Alf Krospur

        1. Hallo Herr … Ja, wie soll ich Sie eigentlich nennen?
          Alf Krospur heißen Sie offenbar nicht, es sei denn, Sie hätten Ihre Existenz vor Google und allen anderen Suchmaschinen erfolgreich geheim gehalten. Ich finde es erstaunlich und auch ein wenig erschreckend, wie viele Rückmeldungen auf meine kritischen Beiträge anonym bzw. von fake accounts kommen. Warum muss man eigentlich Angst davor haben, in einem seriösen fachöffentlichen Blog mit hochgeklapptem Visier aufzutreten.
          Zu ihrer Frage: Das Problem einer nur affirmativen, sich auf die Beschreibung des bestehenden beschränkenden Sozialforschung sehe ich nicht ausschließlich, aber sehr dominant in jener Richtung unseres Faches, die sich in der Akademie eine neue Heimat zu verschaffen versucht. Das ist die unerfreuliche Konsequenz, wenn man methodischer Kontrolle der Messungen einen Vorrang vor der Innovativität von Fragestellungen und Ergebnissen einräumt und mit einer kritisch realistischen Epistemologie die (im doppelten Wortsinne) konstruktiven Beiträge der Forschenden im Feld negiert. Soziologie aber kann mehr und ihre Institutionen sollten das auch offensiv vertreten, anstatt sich unhaltbaren Reinheitsgeboten zu verschreiben. Gute empirische Forschung muss zweifelsohne ‚gut gemacht‘ sein, doch darüber entscheidet nicht die technische Replizierbarkeit von Messungen, sondern die Konsistenz der Argumentation, deren empirische Sättigung und die theoretische Durchdringung des Gegenstandes – ganz zu schweigen davon, dass sie einen relevanten Mehrwert an soziologischen Wissen erzeugen sollte.
          Und nichts für ungut, aber denken Sie doch noch einmal über Ihre Identität nach…
          Jörg Strübing

  2. Lieber Jörg, liebe Blog-Leserinnen und -Leser,
    zur Frage der Repräsentanz in Gremien und der Mitwirkung in der DGS kann ich die erfreuliche Zwischeninformation geben, dass sich eine vom Konzil eingesetzte Satzungskommission in diesem Jahr sehr intensiv u.a. mit Fragen von Nominierungsverfahren für Wahlen, mit der institutionellen Stärkung der Sektionen und mit der Sichtbarkeit von Themen, die für verschiedene Statusgruppen von Relevanz sind, auseinandergesetzt hat. Die Kommission wird dem Vorstand und dem Konzil im neuen Jahr konkrete Vorschläge unterbreiten. Unabhängig davon, welche Änderungen nun mit welchem Effekt beschlossen werden – es wird deutlich, dass die DGS sich hierzu in einem konstruktiven Diskussionsprozess befindet.
    Nach dieser „Eigenwerbung“ schöne Vorweihnachtsgrüße von
    Nicole Burzan

  3. Lieber Herr Strübing,

    vielen Dank, dass Sie dieses wichtige Thema für die Soziologie als Profession in Deutschland aufgegriffen haben. Ich kann Ihrer Analyse in weiten Teilen zustimmen. Gleichwohl finde ich, dass Sie sich es zu einfach machen, einige wohlfeile Kritikpunkte an der Gründung der „Akademie für Soziologie“ herauspicken und den Standpunkt der Gründer*innen nur wenig anerkennen. Dies wäre meines Erachtens den Kolleg*innen gegenüber angebracht, die fast aus den halben Sektionen für Sozialstrukturanalyse und Methoden bestehen und unter denen sich ehemalige Vorsitzende der DGS (Martina Löw und Jutta Allmendinger), ein ehemaliger Direktor eines MPI (Karl‐Ulrich Mayer) und Direktorinnen von großen sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen (Sandra Buchholz und Jutta Allmendinger) und ebenfalls Ihr Tübinger Kollege Steffen Hillmert befinden. Das ist zwar nur ein Argumentum ad verecundiam, aber erklärt vielleicht den Ton von Josef Brüderl, der sich von Ihnen offenbar abgebügelt fühlt.

    Ich verstehe nicht, warum der Gründungsaufruf die Probleme der DGS wenn überhaupt nur implizit benennt und damit eine Chance für eine mögliche, öffentliche Diskussion vergibt. Ob es in der Sache einen Kompromiss geben kann, der das mögliche Schisma der deutschen Soziologie vor seinem endgültigen Öffentlich werden wieder kitten kann, wage ich zu bezweifeln. Ich freue mich schon auf die Kommentare von Jürgen Kaube. In weiten Teilen laufen die Gräben entlang von lange bestehenden Diskursgrenzen und voneinander abgeschotteten Netzwerken.

    Das Versprechen, die Gesellschaft mit „verlässlichen Informationen sowie praktischen Handlungsempfehlungen“ zu unterstützen, lässt einen Bezug auf die bekannten, soziologisch untersuchten Probleme von wissenschaftlicher Politikberatung schmerzlich vermissen. Hier scheint der Drang es den Wirtschaftswissenschaftler*innen gleich zu tun, alle wissenschaftliche Skepsis gegenüber den eigenen Annahmen und Ergebnissen zu besiegen, die angesichts von bekannten Problemen in Nachbarwissenschaften wie der Replikationskrise in der Sozialpsychologie sicherlich angebracht wären.

    Sie haben zurecht kritisiert, dass der Gründungsaufruf der Akademie einen deutlichen Einschlag des kritischen Rationalismus hat. Nicht von ungefähr kommt ein großer Teil der Unterzeichner*innen des Aufrufs aus dem Dreieck Mannheim-Köln-Konstanz und forscht quantitativ, stützt sich größtenteils auf einen methodologischen Individualismus und verwendet Rational-Choice-Handlungstheorien in der einen oder anderen Spielart. Jedoch muss ich Ihnen stark widersprechen, dass unter dieser Perspektive keine qualitative Forschung möglich wäre. Da scheint Ihr eigener Bias als deutscher, qualitativer Sozialforscher auf, die sich vorzüglich auf ihren epistemischen Inseln mit phänomenologischen, pragmatistischen und systemtheoretischen Versatzstücken eingerichtet hat. (Vielleicht weil die Zeilen zur qualitativen Sozialforschung im Schnell/Hill/Esser immer noch so verletzend formuliert sind?) In der amerikanischen Sozialwissenschaft gibt es dagegen methodologische Angebote für eine explizit qualitative Sozialforschung aus einem post-positivistischen/realistischem Paradigma (vgl. King/Keohane/Verba 1994), wenngleich hier eine kontroverse Diskussion zu existiert. Insgesamt hat die quantitative Soziologie in den USA mit Personen wie Andrew Abbott und Harrison White einige recht „häretische“ Vertreter für deutsche Verhältnisse. Deshalb frage ich mich, ob Sie mit der Schlagseite zum kritischen Rationalismus bereits eine der möglichen Spannungslinien der Akademie vorgezeichnet haben. Schließlich dürften einige der Unterzeichner*innen in ihrer Forschungspraxis auf Bourdieus und Harrison Whites Methodologie Bezug nehmen. Eine interessante Frage ist, wie die Akademie in Zukunft mit diesen eigenen „Häretiker*innen“ umgehen wird.

    Ihrem Argument, dass die Beschneidung der Soziologie auf quantitative Sozialforschung und kritischen Rationalismus durch die Akademie die Qualität der Soziologie einschränkt, kann ich nicht folgen. Sie brauchen nur einmal mehrere Ausgaben des European Sociological Reviews in die Hand nehmen, um zu erkennen, dass mit einem Programm wie der Akademie sehr gute soziologische Forschung betrieben werden kann. Sogar „häretische“ Beiträge sind dort zu finden, so dass eine gewisse Irritation zur weiteren Theorie- und Problementwicklung vorhanden bleibt. Ich zweifle daher, dass aus Sicht der Mitglieder der Akademie wirklich viel zu verlieren ist in der DGS. Ich kann auch nicht nachvollziehen, wieso Sie Multiperspektivität zum Qualitätsmerkmal schlechthin der Soziologie erklären. Multiperspektivität kann aus meiner Sicht nur ein Mittel zum Zweck sein, nämlich Erkenntnisse zu schaffen innerhalb das Wissenschaftssystems. Ohne die berechtigte Kritik von Genderforschung und anderer soziologie-immanenter Kritik an der „etablierten“ Lehrposition zu schmälern, erkenntnistheoretische Diversität darf nicht zu falsch verstandene Offenheit gegenüber esoterischen Programmen von „Alternativwissenschaften“ führen. Eine unangenehme Lesart des spannenden Artikels von Müller-Benedict (2014) zu Qualitätskriterien in Organisationen und Personalselektion ist allerdings, dass es für die Qualität einer Wissenschaftsorganisation recht unerheblich ist, ob sie methodologisch diskriminiert. Zumindest so lange sie ein Mindestmaß „Häresie“ zu lässt.

    Um es einmal polemisch zuzuspitzen: Auf den periodisch wiederkehrenden Krisendiskurs auf Soziologentagen kann gerne verzichtet werden auf dem Weg zu einer arbeitsteiligen Normalwissenschaft mit methodologisch und theoretisch austarierten und abgesicherten Programm. Unergiebig sind ebenfalls methodologische Schein-Debatten mit namhaften Vertreter*innen qualitativer Methoden, die den Frame „Positivismusstreit“ auf die letzten 50 Jahre der Entwicklung von quantitativer Methodologie und Methoden pressen.

    Aus meiner Sicht haben Sie an einer anderen Stelle sehr gut einen der Punkte angesprochen, an denen wir ansetzen müssten, um die Verinselung der deutschen Soziologie zu überwinden: „[Die] pragmatistische Forschungslogik und insbesondere das Modell der „Inquiry“ bei Dewey [ist] von ihren Schöpfern nie als exklusives Konzept einer rein qualitativen Sozialforschung verstanden, sondern immer als allgemeines wissenschaftstheoretisches Modell für jede Art von Forschung mit empirischen Bezug entwickelt worden.“ (Strübing 2008: 311) Offenbar möchten Sie mit Ihrer Forschung durchaus mit den anderen KollegInnen, die quantitativ forschen kommunizieren. Ich frage mich daher, wie Ihrer Meinung nach quantitative Forschung aus pragmatistischer Forschungsperspektive aussehen könnte? Welche Anknüpfungspunkte gibt es zwischen Ihrer empirischen Forschung und der Forschung von z.B. Josef Brüderl oder Steffen Hillmert? Ohne gleich methoden-integrative Ansätze zu entwickeln, die bislang oft nur holzschnittartige Zuschreibungen von qualitativen (explorativ, Sinnorientiert, usw.) und quantitativen Methoden (erklärend, usw. ) feilbieten, ginge es darum Diskussionen anzustoßen und Kommunikationswege zu eröffnen innerhalb der Soziologie, die aufgrund der hohen methodischen Spezialisierung lange verschütt gegangen sind.

    Um den Ball wieder in das Feld der qualitativen Sozialforschung zu spielen: dass liegt u.U. an der häufigen Abneigung von qualitativ und konstruktivistisch orientierter Forscher*innen gegenüber formalen Methoden und Formalisierung allgemein. Forderungen nach Quotenregelungen von Methodenlehrstühlen, wie sie Stefan Hirschauer de facto äußert, sind hier auch nicht hilfreich. Eine Umwidmung von 50% der Methodenlehrstühle würde zu einem rapiden Bedeutungsverlust der quantitativen Soziologie im Vergleich zu jetzt bereits übermächtigen Nachbardisziplinen wie Ökonomie und Psychologie führen. Das wäre wohl der Alptraum der Akademie-Mitglieder. In den Kommentaren wurde bereits darauf hingewiesen, wie wenig ausreichend die quantitative Methodenausbildung heute schon ist. Die Ergebnisse von Windrich (2016) zeigen dies ebenfalls. Nicht von ungefähr gibt es in Großbritannien eine „Quantitative Methods Initiative“, gefördert u.a. vom Economic and Social Research Council, da die Fähigkeiten in quantitativen Methoden dort auch nicht ausreichend sind.

    Mit kollegialen Grüßen
    Ihr Alfred Sulzpaal

    Literatur:
    King, G., Keohane, R. O. and Verba, S. (1994) Designing social inquiry. Scientific inference in qualitative research, Princeton Univ. Press.
    Müller-Benedict, V. (2014) Grenzen der Meritokratie oder warum Quotenregulierungen sinnvoll sind, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 66, Nr. 1, S. 115-131.
    Strübing, J. (2008): Pragmatismus als epistemische Praxis. Der Beitrag der Grounded Theory zur Empirie-Theorie-Frage, in: Herbert Kalthoff, Stefan Hirschauer und Gesa Lindemann (Hg.), Theoretische Empirie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 279-311.
    Windrich, I. (2016) Mathematikkenntnisse von Soziologiestudierenden, in: Soziologie, Jg. 45, Nr. 3, S. 294-316.

    1. Lieber Herr Sulzpaal,
      haben Sie herzlichen Dank für Ihre ausführlichen Überlegungen, auf die ich hier nur ausschnitthaft eingehen kann (andere Aspekte folgen noch in weiteren Blog-Beiträgen).

      – Ich habe mich ja deutlich kritisch zur Gründung und Ausrichtung der „Akademie für Soziologie“ geäußert, aber auch versucht deutlich zu machen, dass meine Kritik sich nicht auf mangelnde Kompetenz oder Relevanz ihrer Mitglieder bezieht, sondern dass ich wissenschaftstheoretische sowie professionnsstrategische Gründe für meine Kritik habe. Dass eine Reihe namhafter Kolleginnen der Akademie beigetreten sind, ist bekannt. Bekannt ist aber auch, dass viele ebenfalls namhafte Kollegen der Akademie dezidiert nicht beigetreten sind. Das also ist nicht der Punkt.
      – Sie haben durchaus Recht mit der Einschätzung in weiten Teilen der qualitativen Sozialforschung gäbe es Vorbehalte gegen formalisierende Methoden. Diese Vorbehalte gibt es allerdings nicht nur dort, sondern in vielen Feldern der Soziologie, inklusive großer Teile der soziologischen Theorie – und übrigens auch in vielen unserer Nachbarfächer, etwa der ja durchaus angesehen Geschichtswissenschaft, der empirischen Kulturwissenschaft etc. Und, wichtiger noch: Für diese Vorbehalte gibt es sachliche Gründe, etwa den, dass formalisierte Methoden viele unserer Gegenstände verfehlen, auch wenn sie zu anderen nützliche Annäherungen liefern können. Mir geht es ja nicht um ein Entweder-Oder, sondern ich argumentiere gegen den exklusiven Duktus von Vertreterinnen der Akademie. Ich kritisiere den hegemonialen Diskurs, der da betrieben wird, der die von Ihnen ja zutreffend geschilderte methodisch-theoretische Ausrichtung der Akademie zum Paradigma des ganzen Faches zu erklären und damit andere Positionen in der Soziologie zu marginalisieren trachtet. Ich freue mich, dass es Kollegen gibt, die das dicke Brett von Simulation und Modellbildung bohren mögen, auch wenn mich hier und da der Verdacht beschleicht, dass Aufwand und (soziologischer) Ertrag nicht im besten Verhältnis stehen. Andere bohren andere dicke Bretter. Wir könnten auch darüber sprechen, dass es in manchen Teilen unseres Faches und auch in manchen Nachbardisziplinen (z.B. häufig der Wirtschaftswissenschaft) große Vorbehalte dagegen gibt, sich der sozialen Welt konkret auszusetzen (also „Erfahrung“ mit ihr zu machen), über die sie Aussagen zu machen versprechen. Oder über die ebenso verbreiteten Vorbehalte dagegen, sich der mühsamen und ebenfalls viel Kompetenz erfordernden Arbeit der Textinterpretation zu unterziehen. Aber das ist nicht das Problem. Es gibt in modernen Wissenschaften funktionale Differenzierungen, vulgo: Arbeitsteilung. Aus mir wird keiner mehr einen Experten für formale Modellbildung machen, ebenso wenig wie zu erwarten steht, dass die von Ihnen genannten, geschätzten Kollegen zu Experten für tiefenhermeneutische Interpretationen werden. Oder für Praxistheorien – denn es geht, es sei noch eimal betont, nicht allein um Methodenfragen.
      – Was Ausbildung und Lehrstühle betrifft: Der Kollege Michael Hutzler hat zu Recht gefragt, was denn wohl davon zu halten ist, wenn die quantitative Sozialforschung trotz der überwältigenden Umfänge an materiellen und personellen Ressourcen, die ihr dafür zur Verfügung stehen, sich dennoch nicht in der Lage wähnt, damit kompetetenden Nachwuchs auzubilden. Mir erscheinen die Klagen aus Akademiekreisen als Jammern auf hohem Niveau und gelegentlich geäußerte Forderungen nach noch mehr Ressourcen für maßlos.

      Soviel für den Moment. Ich hoffe, Sie bleiben unserem Blog gewogen,
      mit besten Grüßen
      Jörg Strübing

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