Die “Krise“ und die Soziologie

(da der Zugang zu SOZBLOG für mehrere Tage blockiert war kommt dieser letzte Post verspätet und schon ausserhalb meiner ‚Amtszeit‘ – ich bitte um Verständnis, GGV)

Soviel „Krise“ war noch nie. Nicht unbedingt der Grad der Betroffenheit konkreter Gruppen (zumindest in Deutschland spürt man im Alltag von einer Krise noch wenig), sondern die Vielfalt der Krisenerscheinungen und ihre dichte Abfolge ist, zusammen mit der verständlichen öffentlichen Aufgeregtheit, bemerkenswert. Und trotz vorsichtig optimistischer Töne zum Ende der letzten Woche (die dann in absurde neue Turbulenzen umschlugen) ahnen alle, dass ein Ende der Krisenentwicklung nicht absehbar ist und das ‚dicke Ende‘ erst noch kommt.

Auch die Soziologie widmet sich gerne mit Angstlust und professionellem Voyeurismus den sich überschlagenden Krisen all überall. So auch die Sektion, an deren Herbstsitzung zum Thema „Krise“ der Autor bei der Abfassung eines ersten Entwurfs zu diesem Post teilnahm. Es ging dort nicht nur um die aktuelle Finanzkrise, sondern auch um das ‚normale‘ zyklische Krisengeschehen von Wirtschaft und Industrie und insbesondere um die fundamentalen „Krisen“ in Folge des sozialen, ökonomischen und technischen Strukturwandels der letzen Jahrzehnte mit seinen Auswirkungen auf Arbeit, Beschäftigung, Interessenvertretung usw. Thema war zugleich  (wie an vielen anderen Stellen auch) ein fast schon nicht mehr zu überschauendes Szenario von weiteren sozialen Krisen aller Art, von der „Krise des Sozialstaats“ bis zur „Krise der fordistischen Familie“. Auch wenn vom „Ende“ des Berufs, des traditionalen Geschlechterverhältnisses, des Betriebs o.ä. die Rede ist oder ein sozial folgenreicher Entwicklungsbruch für einen Gegenstand diagnostiziert wird, geht es immer um krisenhafte Konsequenzen von Strukturveränderungen, zum Beispiel (ein weiteres Thema) des demographischen Wandels.

Es ist sicherlich nicht falsch, festzuhalten, dass sich die Soziologie schon immer mit bemerkenswerter Intensität den Krisen dieser Welt zugewendet hat. Eigentlich ist sie sogar ein Kind der Krise, nämlich der sozialen Verwerfungen in Folge des Übergangs zur Industriegesellschaft. Und die danach mit wenig schöner Regelmäßigkeit immer wieder aufbrechenden Sozialkrisen (oft als Folge ökonomischer Krisen) waren für das Fach durchgehend ein entscheidender, wenn nicht gar zentraler Gegenstand, so dass man die Soziologie ohne Übertreibung als Krisenwissenschaft und insofern auch  als Krisengewinnlerin sehen kann.

Aber Krisen sind tückisch. Sie erzeugen nicht nur eine Fülle mehr oder weniger weitreichender sozialer Folgen oder „Kosten“ (für die, dies es gerne ökonomistisch haben, um den unmittelbaren menschlichen und sozialen Konsequenzen nicht allzu direkt ins Gesicht blicken zu müssen), sondern aus begrenzten Krisen ‚in‘ Systemen können, wie man soziologisch weiß, schnell Krisen ‚der‘ Systeme selbst werden, die sich dann tsunamimäßig ausbreiten und alles in ihre Fluten hineinziehen.

Krisen sind auch deswegen tückisch, weil sie bei den einen die oben erwähnte Angstlust auslösen – und mancher dann mehr Krise sieht, wenn nicht gar herbeiwünscht, als wirklich da ist. Bei den anderen lösen sie dagegen einen resignativen Katzenjammer aus, der erst realitätsblind und dann handlungsunfähig macht. Eine dritte Gruppe betreibt systematisch Verdrängung, weil man das Krisengerede „nicht mehr hören kann“. Man marginalisiert oder leugnet die Probleme: „So schlimm ist es nicht“; „Das ist sehr unterschiedlich, man muss differenzieren“; „Früher war es auch schwierig und wir haben es überlebt“; „Krisen gibt es immer, die Guten gehen gestärkt daraus hervor .. um die Schlechten ist es nicht schade“; „Das Ganze ist nur eine Medieninszenierungen und interessengeleitete Dramatisierung“ usw. Und schließlich gibt es noch die Möglichkeit, die Krise immer nur bei den anderen wahrzunehmen, so dass man sich selbst auf die bequeme Rolle des Beobachters zurückziehen kann.

Alle genannten Reaktionen lassen sich derzeit auch in der Soziologie beobachten. Dabei ist die letzte Sichtweise von besonderer Brisanz, weil sie verhindert, wahrzunehmen, dass auch die Soziologie in die Krisendynamik der Gesellschaft hineingezogen wird – mit der Folge, so soll hier trotz der zu erwartenden Schelte behauptet werden, dass sie selbst in eine „Krise“ zu geraten droht.

Die Soziologie ist ja auch in dem Sinn ein Kind der Industriegesellschaft (und ihrer „Krisen“), dass sie sowohl hinsichtlich ihrer traditionellen Themen als auch hinsichtlich ihrer paradigmatischen Ausstattung und Institutionalisierung (etwa die in vielen Bereichen deutliche Bindung an die Institutionen der fordistischen Gesellschaftsregulierung) eng mit ihr verwoben ist. Kurz: Die Soziologie ist durch und durch so industrialistisch oder sogar fordistisch wie ihr Objekt. Und sie gerät mit den systematischen Grenzen des Industrialismus, vor allem aber mit der jetzt auch dem Letzten deutlich werdenden Krise des Fordismus, nun auch selber an grundlegende Grenzen. Es ergeht ihr damit ähnlich wie anderen Institutionen des Fordismus, etwa den Sozialsystemen, den Gewerkschaften oder den Parteien des „sozialdemokratischen Jahrhunderts“ (Ralf Dahrendorf). Die Soziologie will diesen Übergang und die daraus resultierende potenzielle „Krise“ des Selbstverständnisses (mit daraus resultierenden Anforderungen an die Veränderung von Strukturen und Prinzipien) jedoch noch nicht wahrhaben, dabei sind die Symptome ausgesprochen deutlich. Hier nur einige Beispiele:

  • Immer häufiger hören wir von der Streichung von Soziologiepositionen oder ganzen Departements an den Hochschulen – und zwar nicht allein mit Einsparungsargumenten, sondern mehr oder weniger offen unter Verweis zum Beispiel darauf, dass das Fach nicht mehr „zeitgemäß“ sei. Sogar in der Forschungsförderung (Stiftungen, Ministerien, allgemeine Forschungsförderung) gibt es gelegentlich hinter vorgehaltener Hand vorgetragene Zweifel an der thematischen Relevanz und wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit der Soziologie, zumindest bezüglich manch ihrer traditionalen Positionen. Dabei droht das Fach zwischen die Stühle einer streng an naturwissenschaftlichen Idealen ausgerichteten ‚harten‘ Wissenschaftsorientierung und eines inzwischen hin wieder auf neue Weise gewertschätzten und geförderten kultur- oder geisteswissenschaftlichen Verständnisses von Wissenschaft zu geraten – wir sind und können (zumindest in der Außenwahrnehmung – wie es wirklich ist, soll hier nicht Thema sein) möglicherweise beides nicht wirklich.
  • Keineswegs selten leisten sich soziologische Institute oder andere Forschungszusammenhänge auf neue Weise Lagerkämpfe, die nicht nur die jeweiligen Bereiche, sondern das Fach insgesamt in denkbar schlechtem Licht erscheinen lassen. Manches dabei erinnert auf unangenehme Weise an die ehemaligen Kämpfe von „Marxisten“ und „Bürgerlichen“. Da stehen etwa diejenigen, die einen Alleinvertretungsanspruch auf richtige Sozialtheorie (wenn nicht sogar auf Wissenschaftlichkeit überhaupt) eitel vor sich her tragen, Vertretern einer alteuropäischen Sinnwissenschaft gegenüber, die nicht wahrhaben wollen, dass sich der Wind in Akademia brutal verschärft. Nicht nur Kontroversen um Paradigmen, sondern albernerweise zum Teil immer noch um Methoden werden mit manchmal mittelalterlich anmutender Verbissenheit ausgetragen, statt zu erkennen, dass Multiparadigmatik und Methodenvielfalt nicht nur ein traditionaler Wesenszug, sondern eine essentielle Stärke des Fachs sind.
  • Hinter der vorübergehend steigenden Nachfrage nach Soziologie als Studienfach verbergen sich oft Motivionen, die wenig schmeichelhaft für uns sind: Hohe Hürden an den Sozialarbeitstudiengängen der Fachhochschulen lassen Soziologie für viele zur ungeliebten zweiten Wahl werden; der Ruf als „leichtes“ und „soziales“ Fach lockt Studierende, die Soziologie wählen, weil etwa Wirtschaft zu schwierig ist; niedrige Notenforderungen bei NCs (oder völlig fehlende Hürden) ziehen systematisch Abiturienten mit schlechten Abschlüssen an; Soziologie ist aufgrund der Wahlfächer oft naheliegendes Parkstudium bis zur Aufnahme des eigentlichen Wunschfachs usw. Nur vereinzelt finden wir (noch) Studierende, die das Fach aus intrinsischem Interesse wählen. Die Soziologie war einmal bei qualifizierten und engagierten jungen Menschen eine attraktive Studienoption; davon ist so gut wie nichts mehr übrig geblieben. Wer heute in die Zukunft blickt (sei es mutig oder wütend) und etwas bewegen will, der studiert nicht mehr Soziologie.
  • Komplementär zum eben Gesagten ist immer wieder zu beobachten, dass nicht selten gerade die interessantesten, klügsten und mutigsten Studierenden nach dem Abschluss schleunigst das Weite suchen. Sie wenden sich anderen Fächern zu oder streben in Tätigkeitsfelder, deren Bezug zu Soziologie bestenfalls marginal ist. Sie wollen Berater, Organisationsentwickler, Webgestalter, Medienunternehmer, Personalexperten, Bildungsreferenten u.v.a.m. werden und lassen die Soziologie, so scheint es, leichten Herzens, vielleicht sogar erleichtert, zurück. Es ist sehr zu begrüßen, wenn gute Soziologinnen und Soziologen in der ‚Praxis‘ erfolgreich sind (und viele sind es ..) – aber für die wissenschaftliche Soziologie und damit für die Zukunft des Fachs sind sie verloren. Die Entwicklung ist auch in den immer unattraktiven Berufsbedingungen allgemein in der Wissenschaft begründet, aber nicht allein.
  • Zunehmend ist erkennbar, dass in Ausbildungsordnungen, z.B. für Sozialberufe, in denen die Soziologie bisher einen festen Platz hatte (und woraus mancher Arbeitsplatz für SoziologInnen entstand), das Fach systematisch ausgedünnt, wenn nicht gar gestrichen wird, meist zugunsten von Wirtschaft, Management, Recht u.ä. In der Sozialkunde (ein zentraler Faktor bei der Expansion des Fachs in den 60er Jahren) erodiert die Soziologie bis zur Unkenntlichkeit, wenn sie überhaupt noch vertreten ist.
  • Nicht zuletzt wird die Soziologie in der Öffentlichkeit kaum mehr als Wissenschaft wahrgenommen, die substantielle Erkenntnisse für die Analyse des Wandels von Wirtschaft und Gesellschaft (und der aktuellen „Krisen“) und für die notwendige „Zeitdiagnose“ zur Verfügung stellen kann. Im Zweifel sind es inzwischen eher Experten aus anderen Fächern, die gefragt werden und sich nun Themenfelder aneignen, die lange Zeit eine Domäne der Soziologie waren, oder unsere Konzepte für sich instrumentalisieren (z.B. diverse „Trendbüros“). Aber davon war schon in einem früheren Post die Rede.

Darüber, ob diese Eindrücke verallgemeinerbar sind, wird man sicher unterschiedlicher Meinung sein. An dieser Situation, sollte die Einschätzung zutreffen, ändert zudem wenig, dass es ohne Zweifel sehr erfolgreiche Forschungen mit hoher Außenwirkung gibt, gelegentlich ein Department auch einmal regelrecht aufblüht (so zur Zeit in Jena) oder die eine oder andere Person prominent in den Medien auftaucht, weil sie ohne Scheu steile Thesen riskiert, die zu öffentlichen Kontroversen führen (wofür sie im Fach dann schräg angesehen wird). Das Bild des Fachs ist trotzdem in seiner Gesamtheit, so hier die Behauptung, alles andere als gut.

Die Soziologie hatte einmal den Ruf, unverständlich, theorielastig und praxisfern, ja sogar systemgefährdend zu sein. Das hört man heute kaum mehr – was die Sache aber überhaupt nicht besser macht. Im Gegenteil. Die Soziologie droht in die Situation zu geraten, dass sie gar keinen Ruf mehr hat. Früher waren wir ‚abgehoben‘ und ‚gefährlich‘, jetzt werden wir möglicherweise nur noch als irrelevant, rückwärtsgewandt oder schlimmstenfalls als langweilig wahrgenommen. Kurz: Die Soziologie macht gerade keine „bella figura“ und ich behaupte, auch wenn dies erhebliche Kritik auf sich ziehen sollte: Sie steckt in einer „Krise“.

Man stelle sich nur einmal ein Tagungspodium vor, auf dem in Ehren ergraute männliche Soziologiesenioren teils anregende, teils aber auch etwas abgestanden wirkende Einschätzungen von zweifelsfreier Kompetenz zu einem Thema (z.B. zur „Krise“) mit altväterlich ausholendem Gestus zum Besten geben. Garniert ist der ehrenwerte Herrenkreis von einer Alibifrau, die sich mit klugen Gedanken lobenswerte Mühe gibt, der Geschlechterfrage und der reproduktiven Seite von Gesellschaft Aufmerksamkeit zu verschaffen. Das gelingt ihr nur begrenzt, ja, sie wird sogar regelrecht abgeblockt, da mehrheitlich (bei nur leisem Widerspruch aus dem Publikum) selbstredend dem Vorrang eingeräumt werden soll, was man als soziologisch bedeutsame Themen (z.B. „betriebliche Produktion“) ansieht, bei denen die weiblicherseits eingeklagten Aspekte nur Nebenprobleme seien. Man braucht als Beobachter nur wenig Phantasie, um hinter den Gesichtern der Podiumsmehrheit ein nur mühsam unterdrücktes Augenverdrehen angesichts der Bemühungen um Öffnung der Perspektiven zu ahnen.

Hier scheint – zugegebenermaßen polemisch zugespitzt – eine Wissenschaft auf, die sich weigert wahrzunehmen, dass sie sich mit dem fundamentalen und dabei eben auch „krisenhaften“ Wandel ihres Gegentandes auch selbst völlig neu aufstellen und von überlebten Mustern verabschieden muss. Und das gilt keineswegs nur für die Teildisziplin, deren Treffen der Autor gerade beobachtet.

Diese „Krise“ des Fachs bietet jedoch, wie jede durchlebte „Crisis“, die Chance für eine fruchtbare Weiterentwicklung und vielleicht sogar für eine Neuorientierung, die durchaus an Traditionen anschließen kann und muss, aber nur dann erfolgreich sein wird, wenn man sie in neuer Weise mit Leben und Lebendigkeit füllt. Es gibt genug phantasievolle Kolleginnen und Kollegen, die mit zeitgemäßen Inhalten, unkonventionellen Perspektiven und innovativen Methoden dazu bereit und in der Lage wären. Aber sie verbleiben oft in wenig attraktiven Nischen, u.a. auch weil sie von disziplinären Zerberussen an der Entfaltung gehindert werden (vielleicht weil man Scores auf SSCI oder POP für die alleinseligmachenden Erfolgskriterien hält).

Wenn eine solche Neuorientierung nicht gelingt, überlassen wir unsere Wissenschaft den Beamten von der Soziologiesparkasse, in der Themen, Thesen und Instrumente (gerne auch die Temperamente) aus alten Zeiten mit minimaler Verzinsung mündelsicher – und das heißt veränderungsresistent – deponiert sind. Auf den globalisierten wissenschaftlichen Märkten ‚profitabel‘ verwertbare spannende soziologische Produkte sind dabei ganz sicher nicht zu erwarten. Das ist keinesfalls ein Plädoyer für windige soziologische Derivate oder forcierte wissenschaftliche Vermarktungswege ohne Rücksicht auf Verluste, bei denen eine „materiale“ (Weber) realwissenschaftliche Qualität von einer rein „formalen“ scientifischen Renditeorientierung verdrängt wird (insoweit ist ein wenig Sparkassenmentalität durchaus von Nutzen). Es soll hier vielmehr für eine radikale inhaltliche Öffnung und eine systematische methodisch-paradigmatischen Pluralisierung in Verbindung mit einer erheblichen ‚Demokratisierung‘ des wissenschaftlichen Stils und eine (wieder) offensiv Verantwortung übernehmende Zuwendung zur gesellschaftlichen Realität geworben werden.

Einer neuen Generation von Soziologinnen und Soziologen sei der Mut und die Kraft gewünscht, sich das Fach ohne Zögern auch gegen Widerstände neu anzueignen, es dabei lustvoll zu verändern und für die Gestaltung ihrer persönlichen und gesellschaftlichen Zukunft anzuwenden – und zwar bald. Die Krise des Fachs bietet alle Möglichkeiten dazu. Fast könnte man versucht sein zu fordern „Occupy Sociology!“, aber das wäre vermutlich dann doch zu viel der Provokation, zumal an dieser Stelle.

Ich verabschiede mich mit bestem Dank bei allen Lesern und wünsche der nachfolgenden Bloggerperson viel Spaß und Mut.

 PS
(1) Ein gesonderter Dank gilt Eva-Scheder-Voß, die wesentlich zur Lesbarkeit der Posts beigetragen hat – alle trotzdem vorhandenen Unzulänglichkeiten gehen auf meine Rechnung.
(2) Wer mag, kann mir weiterhin auf Twitter und Blogger folgen.
Nachträge:
(1) Zum Thema „Krise“ und Soziologie siehe auch den Beitrag von Jenny Peunkert in „Soziologie“ 4/11
(2) Zum Thema könnte ein aktuelles paper interessieren: J. Holmwood, „Sociology after Fordism: Prospects and Problems“ Journal of Social Theory

2 Gedanken zu „Die “Krise“ und die Soziologie“

  1. Danke für Ihren professoralen Krisen-Beitrag!
    Er haut in eine ähnliche Kerbe wie meine bereits in der Sozialen Welt 1/2009 ab Seite 99 abgedruckte Mittelbau-Kommentierung des Jenaer DGS-Kongresses 2008. Zuvor hat auch schon Dirk Kaesler, ein weiterer angesehener Senior unserer Disziplin, auf fachinterne Wunden und Untergangspotentiale aufmerksam gemacht.
    Ursachen- und Kontextanalysen zur Gegenwart und Zukunft des Faches in Deutschland gibt es mittlerweile in beachtlicher Zahl (und geradezu regelmäßig wiederkehrend) – bezeichnenderweise überwiegend von Fachvertretern, die seit Jahren oder gar Jahrzehnten sowohl professionenpolitisch-institutionell als auch in wissenschaftlichen Publikationsorganen zu den einflussreichsten ihrer Generation zählen. Ohne hier eine pauschalisierte Schelte der Professions- und lehrstuhlintern praktizierten Nachwuchsförderpolitik so mancher arrivierter Ordinarien betreiben zu wollen, möchte ich zumindest aus eigener Erfahrung ergänzen, dass leider auch in der akademisch-soziologischen Lehr- und Forschungsrealität front stage-Rhetorik und und back stage-Praxis zum Teil erheblich auseinanderklaffen. Die gesellschaftliche Relevanz- und Folgenlosigkeit sozialwissenschaftlicher (Nachwuchs-)Forschung wird in den quali-kulturalistisch oder quanti-rationalistisch dominierten Speedy-PhD- und Postdoc-Kurzzeit-Befristungs-Anstalten republikweit derzeit geradezu normalisiert. Der prekär beschäftigte Postdoc-Nachwuchs bemüht sich, wenn er nicht frühzeitig aufgibt, heutzutage – erschreckend konservativ, aber individualkarrierebezogen gut nachvollziehbar – um Vermeidung jeglichen akademischen wie gesellschaftspolitischen Negativ-Selbstmarketings, welches auf dem langen und steinigen Weg zur Professur mit Anfang 40 schaden könnte.
    Mein Eindruck: ähnlich wie im sicherlich noch repressiveren China hat auch in Deutschland die derzeit dominante Post-68-Geburtskohorte in allen Sphären der bundesrepublikanischen Gesellschaft aus dem früheren (Trivial-)Studium von (Konter-)Revolutionstheorien gelernt, wie man potentiell revolutionäre Ideen und Protestbewegungen mit geschönten Bildungs- und Arbeitsmarktstatistiken massenmedial erfolgreich zerstreut bzw. schicksals-individualisiert.
    Ich bin wirklich gespannt, ob die in 2-3 Jahren auf den Arbeitsmarkt strömende G8-Bezahl-Studierendengroßkohorte auf den europäischen Arbeitsmärkten in ausreichender Zahl perspektivlos genug sein wird, um der alternden Politik/Wirtschafts/Wissenschafts-Republik hoffentlich friedlich, aber dennoch mit ausreichendem Nachdruck zu signalisieren, dass das allerorts beobachtbare, intergenerationelle Ungleichheitsumverteilungs- und zugleich mediale-Deutungshohheits-Spiel auch hierzulande künftig so nicht weitergehen kann. In Bourdieus Terminologie formuliert: je mehr Bellatores aller gesellschaftlicher Sphären ihre je feldspezifische Illusio – also den Glauben daran, dass sich die jahrelange Aneigung und Perfektionierung der von den feldspezifisch dominanten Oratores gesetzten Regeln des feldspezifischen (Kampf-)Spiels bei künftigen Kämpfen individuell auszahlen wird – verlieren, desto einsturzgefährdeter werden in der Folge auch die zuvor jahrzehntelang mühsam aufgebauten Institutionen und Privilegien der gesellschaftlich arrivierten Oratores. Vielleicht sind Arabischer Frühling, Piratenpartei und Occupy-Bewegung erst das Vorspiel…

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