Dieser Tage[1] kommt mir ein Interview zu Augen: Jean-Jacques Rousseau, soeben 300 Jahre alt geworden. Das dürfen Qualitätsmedien natürlich nicht verpassen, und so suchen sie Rousseau-Fachleute, zum Beispiel Literaturwissenschaftler. Einer von ihnen, der sich sprachgewaltig auch mit anderen „Gespenstern“ (recht unterhaltsam) auseinandergesetzt hat, wird befragt, warum man heute noch Rousseau lesen sollte. Die pointierte Antwort: Der Mann ist wie ein Brühwürfel.
Monat: Juni 2012
Theorie des Straktanten
Die Ameisen-Theorie (ANT[1] oder ANTheorie) hat eine neue Epoche in der Soziologie eingeleitet. Sie hat die letzten künstlichen, verwirrenden Distinktionen durchbrochen, welche sich bloß als erkenntnisverstellend erwiesen haben, jene zwischen Gesellschaft und Natur, zwischen Mensch und Technik, zwischen Person und Materie, zwischen Ich und Es, zwischen Sender und Empfänger, zwischen Schreiber und Computer, zwischen Wissenschaftler und Objekt, zwischen dem Kaffeetrinker und seiner Tasse. Alles interagiert mit allem, und im Grunde ist alles Eins. Diese paradigmatische Perspektivenänderung macht klar: Der Wissenschaftler unterhält sich mit seiner Theorie. Die Türklinke veranlasst das Individuum, die Tür zu öffnen. Die Pistole schießt mit dem Menschen.[2] Aber das genügt noch nicht.
Alles wird gut
Dieser Tage hatte ich eine Podiumsdiskussion mit dem Gouverneur der Österreichischen Nationalbank, einem Bankdirektor und einem Journalisten – natürlich über die aktuelle Wirtschaftskrise. Ich warnte die Herren in der Vorbesprechung, dass ich in meiner Einführung nicht allzu viel Aufbauendes sagen würde. Das mache nichts, meinten die beiden Bankleute, und der Chef der Nationalbank fügte hinzu: Er werde schon etwas Beruhigendes sagen, das gehöre zu seiner job description. Er hat Recht: Notenbankvertreter sind, wie Bankdirektoren generell, zur Pazifizierung des Publikums verpflichtet, und amtsinhabende PolitikerInnen fühlen sich auch meist dieser Aufgaben verbunden. Wirtschaftliche Märkte sind Nervensache, politische Märkte sind Gefühlssache, und die Amtsinhaber üben somit bloß ihre sozialtherapeutische Funktion aus.
Wir brauchen mehr Katastrophen
Dieser Tage gibt es einen Artikel in Nature[1], der eine plausible, aber ziemlich unangenehme Möglichkeit erörtert: dass wir nicht notwendigerweise, wie in den meisten Umweltstudien angenommen, einen langsamen ökologischen Verschlechterungsprozess über den Zeitraum des nächsten Jahrhunderts erleben könnten, sondern dass es einen „Kippeffekt“, einen Tipping Point, geben könnte, einen plötzlichen Zusammenbruch des Ökosystems. Aufgrund der Analysen der Forschergruppe sei dies ab dem Jahr 2025 möglich, und es werde dann immer wahrscheinlicher. Diese plötzlichen Zusammenbrüche seien irreversibel. Eine neue biologische Welt entstünde.
Die therapeutische Versuchung
Letzte Woche war ich zu Vorträgen bei einem Juristenverein und bei einem Rotarier-Club eingeladen: die Demokratie, die Korruption, die Zukunft. Eine der Erfahrungen, die jeder macht, der zuweilen einen Vortrag für ein allgemeineres Publikum hält (aber im Grunde gibt es ähnliche Erfahrungen durchaus auch in engeren wissenschaftlichen Kontexten): Man erzählt dies oder das über die Gesellschaft da draußen, und wenn man der Soziologie als Krisenwissenschaft gerecht wird, dann sind es ja nicht nur Freundlichkeiten, die man über diese Welt mitzuteilen hat, ganz im Gegenteil. Manchmal bei der ersten, spätestens bei der zweiten Diskussionsanfrage geht es häufig schon nicht mehr um die Analyse, sondern um die Therapie: „Sie haben die Sachlage geschildert, aber ich habe Vorschläge vermisst…“ – „Was soll man jetzt tun?“ – „Wie kommen wir aus der Krise wieder heraus?“