Wenn wir Orte konstruieren, müssen wir hierzu eine Grenze zwischen Innen und Außen ziehen, wobei uns hierzu verschiedene Mittel zur Verfügung stehen, wie etwa der gebaute Raum oder Karten. Am Beispiel der Kumbh Mela lässt sich aber zeigen, dass soziale Grenzen v.a. interaktiv gezogen werden. Bei diesem größten religiösen Fest der Hindus, das 2010 in Haridwar (Indien) stattfand, waschen sich die Gläubigen rituell im Ganges, um an Erkenntnis zu gelangen und sich von ihren Sünden zu befreien.
Anders als bei christlichen Kirchen ist nicht ein Gebäude (Kirche), sondern der Fluss das Heilige. Dadurch fallen einige in Europa üblichen symbolischen Markierer von Heiligem und Profanen (Gebäudewände, Türen, Altar usw.) weg. Trotzdem fällt auf, dass es auch hier soziale Grenzen durch den physischen Raum symbolisch markiert werden: Flüsse haben ja ein Ufer, und auch wenn diese (physische) Grenze unscharf ist, so ist sie doch da. Unterstützt wird sie durch bauliche Maßnahmen: Fast in der ganzen Stadt ist das Flussbett nicht nur befestigt, sondern Treppenstufen führen direkt hinunter zum Fluss (wobei für die Gläubigen auch am nicht bebauten Ufer die Grenze zwischen Heiligem und Profanen klar ist).
Weiterhin gibt es besonders heilige Badestellen (hier Inseln). Auch diese sind befestigt und über Brücken mit dem Ufer verbunden. Sie werden zusätzlich über Schreine als besonders wichtig gekennzeichnet.
Neben dem gebauten Raum ist die Kleidung ein zweites physikalisches Objekt, das bei der Grenzziehung hilft, wobei sich die Kleidungsrituale von denen europäischer christlicher Kirchen unterscheiden. Zunächst gilt hier wie dort, dass man „ordentlich“ und „angemessen“ angezogen sein sollte. In europäischen Kirchen bedeutet das, dass wir von den Schultern bis zum Knie bedeckt sein sollte – Männer sollten min. eine lange Hose und ein T-Shirt tragen sollten, Frauen ebenfalls min. ein T-Shirt und einen genügend langen Rock oder eine Hose.
In Indien sollten Männer Hüften und Knie (z.B. durch ein Tuch) bedeckt haben. Ausnahme sind die Naga Babas, das sind Sadhus – heilige Männer –, die nur mit einem Lendenschurz und/oder heiliger Asche bekleidet sind. Frauen sollten traditionelle Kleidung tragen (Sari oder Salwar Kamiz). (Ich habe es aufgegeben zu versuchen zu verstehen, warum ein hautenger, körperbetonter Sari für Frauen in Ordnung ist, eine Schlabberhose mit T-Shirt aber nicht.)
Weiterhin spielt das Wechseln von Kleidungsstücken beim Grenzübergang eine wichtige Rolle. In europäischen Kirchen ziehen Männer beim Durchschreiten der Kirchentür den Hut, und in manchen Ländern wird von Frauen erwartet, dass sie ein Kopftuch überziehen. Der Grenzübergang ist bei der Kumbh Mela symbolisch markiert durch das Betreten der Treppenstufen bzw. der Uferböschung. Die meisten Frauen ziehen sich das Kopftuch über. Viel wichtiger ist aber – für Männer und Frauen gleichermaßen – das Ausziehen der Schuhe, das übrigens in ganz Süd- und Südostasien die wichtigste Handlung aller Gläubigen beim Betreten von heiligem Boden ist.
Eine ebenso wichtige Rolle spielen Zugangsordnungen. Zwar darf jeder den heiligen Grund (das Wasser) betreten, aber es gibt eine Reihenfolge der Zugangserlaubnis, was sich insbesondere an den großen Badetagen zeigt: An diesen Tagen wollen alle Gläubigen ins Wasser – am liebsten an den besonders heiligen Stellen und zu einer ganz bestimmten Uhrzeit –, weil das Bad im Fluss an diesen Tagen als besonders wirksam gilt. Das heißt konkret: Mehrere Millionen Menschen (man kann die Kumbh Mela auf Satellitenbildern sehen) wollen zur selben Zeit auf den paar hundert Quadratmetern ins Wasser tauchen.
Das geht natürlich nicht. Daher haben die Naga Babas Badeprivilegien, wobei es auch hier eine Rangfolge gibt – die wichtigsten Naga Babas dürfen zuerst baden. Zu der Frage, wer „am wichtigsten“ ist (die am längsten existierende oder die größte Gruppierung?), gab es vor der Kumbh Mela einen Streit, der bewaffnet ausgefochten wurde. (Die Anwesenheit der Naga Babas ist übrigens eine weitere körperliche symbolische Markierung des Heiligen – Viele leben als zurückgezogene Einsiedler, die nur bei der Kumbh Mela zu sehen sind.)
Erst nach den Naga Babas und sonstigen Sadhus dürfen die übrigen Gläubigen ins Wasser steigen. Da die Gläubigen angesichts der Erwartung der Vergebung ihrer Sünden nicht besonders diszipliniert sind, wird diese Zugangsordnung über zusätzliche logistische und bauliche Maßnahmen durchgesetzt, damit es zu keiner Massenpanik wie in Duisburg kommt:
An den großen Badetagen wird die gesamte Stadt bereits kurz nach Mitternacht von der Polizei mit Barrikaden abgesperrt. Die Barrikaden haben einen Puffer, d.h. wenn der Druck der Masse zu groß wird, kann die Polizei einige Leute ins Stadtinnere lassen, um zu verhindern, dass jemand totgetrampelt wird.
Die Masse der pilgernden Gläubigen wird aber durch die Straßensperren erst einmal mehrere Kilometer außerhalb der Stadt geführt und dann wieder über an Kuhgatter erinnernde Absperrungen im Zickzack in die Stadt zurückgeführt, was ein Vielfaches länger dauert, als aus der Stadt zu wandern. Der Effekt ist übrigens, dass sehr viele Gläubige nach mehreren Stunden aufgeben und einfach an einer etwas weniger heiligen Stelle im Fluss baden (nach dem Motto: „Ganges ist Ganges“).
Eine weitere Trennung zwischen Heiligen und Profanen sind Nutzungsordnungen, d.h. wir tun innerhalb und außerhalb des heiligen Raumes sehr unterschiedliche Dinge.
Während außerhalb des heiligen Raumes durchaus alltägliche Handlungen vollzogen werden, werden im heiligen Raum (Ganges) Rituale vollzogen.
Hierzu gehört u.a.: sich rituell zu waschen; zu beten; ein Schiffchen mit einer Kerze, Geld und Wünschen den Fluss hinunterschwimmen zu lassen; und heiliges Wasser zu schöpfen, um es nach Hause mitzunehmen, z.B. für diejenigen, die nicht kommen konnten.
Flankiert werden diese Rituale durch eine Reihe von Ritualen, die außerhalb des heiligen Raumes stattfinden. Das beginnt damit, dass – ungeachtet aller Sicherheitsmaßnahmen des internationalen Flugverkehrs – Ganges-Wasser ganz offiziell im Flugzeug transportiert werden darf.
Im Umkreis von 10km von Haridwar darf bei Androhung von Strafe kein Fleisch oder Alkohol genossen werden. Während der Kumbh Mela werden außerhalb der Stadt ganze Zeltstädte für die Pilger errichtet, in denen es u.a. religiöse Zeremonien, Umzüge und mobile Krankenhäuser gibt.
Diese sozial gezogenen Grenzen sind nicht absolut. Wenn etwa die mit Geld beladenen Schiffchen im Fluss versinken, stört sich niemand daran, dass Münzsammler die Münzen aus dem Ganges ziehen (es geht schließlich um das Opfer, also um das Weggeben von Geld, ungeachtet dessen, wo es landet). Ebenso wenig stört man sich, wenn Frauen am Flussufer ihre Wäsche waschen. Offensichtlich ist die sozial gezogene Grenze so stark, dass sie diese Grenzbrüche verträgt.