Zählt eine neue Bestzeit über 400m? Oder gilt sie als Leistung nur, wenn sie für die Nationalmannschaft errungen wurde, nicht aber beim Seniorensport? Zählt auch die Leistung des Trainers nur, wenn sie beruflich statt ehrenamtlich erfolgt, am besten in einer Profisportart, die von börsennotierten Unternehmen getragen wird? Die Reinigungskraft auf einer Autobahnraststätte leistet etwas. Dafür erhält sie eine geringe Entlohnung. Sie erhält Gegenleistungen in Form von Arbeitslosengeld, wenn sie arbeitslos wird und wenn sie zuvor sozialversicherungspflichtig beschäftigt war. Putzen zuhause zählt nicht. Die eigenen Kinder zu erziehen, ist seit jüngstem eine Leistung im Sinne des Sozialgesetzbuches. Jedenfalls für einige Monate und als Ersatz für zuvor verdientes Einkommen. Als normgerechte Leistung gilt Kindererziehung immer dann, wenn sie für fremde Kinder verrichtet wird, also in einem Erwerbsverhältnis stattfindet. Leistung für andere stiftet Sinn, aber muss sie auch Wert haben, um zu zählen, um anerkannt zu sein und um Gegenleistungen zu rechtfertigen?
Anlässe für solche grundlegenden Fragen und Auseinandersetzungen um Werte finden sich selbst in der der Endphase des hiesigen Wahlkampfs wenig. Wo die geneigte Wählerin sich einen Streit um die besten Ideen und Ansätze wünscht, finden sich die Bewerber auf die politischen Spitzenämter unter persönlichem Beschuss: Zu spät die Pädophiliedebatte aufgearbeitet? (Trittin) Vielleicht doch eine Reinigungskraft nicht sozialabgabepflichtig beschäftigt? (Steinbrück) Oder – noch wirksamer – darf sich ein Kanzlerkandidat als Pop-Artist inszenieren?
Kein Wunder, dass es mit dem Streiten nicht so recht klappen will, denn ein Blick auf die Sammlung von „Wahlprüfsteinen zum Grundeinkommen“ (erfragt und veröffentlicht durch das Netzwerk Grundeinkommen) zeigt große Übereinstimmungen. Die markantesten Formulierungen zum Selbstverständnis der Parteien bzgl. der Gerechtigkeitsauffassungen lauten (nach Reihenfolge ihrer Fraktionsgröße im gegenwärtigen Bundestag):
„Unser Sozialstaatsprinzip gibt niemandem das Recht, auf Kosten der Gemeinschaft zu leben.“ Deshalb: „Arbeit für alle ist ein Kernstück sozialer Gerechtigkeit. Arbeit ermöglicht Selbstverwirklichung und ist eine entscheidende Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe“. (CDU/CSU)
Deutung: Wer nicht arbeitet, obwohl er arbeitsfähig ist, lebt auf Kosten der Gemeinschaft. Gerecht ist es daher, Arbeit für alle zu schaffen. Soziale Transferleistungen gelten zu diesem Normalfall als definierte und zu legitimierende Abweichung: Wer entweder arbeitswillig ist, aber vorübergehend keine Arbeit findet (Sozialgesetzbuch/SGB II) oder Arbeitsunfähigkeit (SGB XII) ist.
„Die Integration in den Arbeitsmarkt ist für die Menschen Voraussetzung für Teilhabe, Selbstbestimmung und Anerkennung.“ Zum Bekenntnis für „Erwerbsarbeit als Schlüssel für Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ (…) „gehört vor allem auch, seinen Lebensunterhalt selbst durch die eigene Leistungsfähigkeit zu erarbeiten.“ (SPD)
Deutung: Eine Leistung findet Anerkennung, wenn sie als Erwerbsarbeit erbracht wird. Das damit verbundene Einkommen ermöglicht Teilhabe und Selbstbestimmung. Gerecht ist es, wenn jeder die Möglichkeit hat, ein solches Erwerbseinkommen zu erzielen. („Arbeit für alle ist…“ siehe CDU.)
„Wir setzen uns für eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe aller Bürger und zugleich für Leistungsgerechtigkeit ein.“ (FDP) Arbeits- und Ausbildungsplätze zu erhalten und neue entstehen zu lassen, sei Voraussetzung dafür, Hilfebedürftigkeit präventiv zu verhindern.
Deutung: Gerecht ist es, wenn jeder durch eigene Arbeitsleistung ohne staatliche Hilfe „die Möglichkeit hat, ein solches Einkommen zu erzielen“ (siehe SPD).
Kurswechsel in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik mit drei Elementen: „1. Eine Versicherung gegen Erwerbslosigkeit, die den Lebensstandard sichert (…), 2. Eine Arbeitsmarktpolitik, die mit öffentlichen Mitteln mehr gute Arbeitsangebote schafft, und 3. eine bedarfsgerechte und sanktionsfreie Mindestsicherung, die Betroffene gegen Armut absichert und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht.“ (Die Linke)
Deutung: Wer trotz staatlich geförderter Arbeitsplätze keine Erwerbsarbeit findet, soll mit dem gewährten Arbeitslosengeld seinen Status halten können („Leistungserechtigkeit“ siehe FDP), grundsätzlich soll Schutz vor Armut bei Bedarf gewährt werden.
Die grüne Grundsicherung für Arbeitssuchende „umfasst Teilhabegarantien und Existenzsicherung“. Sie „steht für eine verlässliche materielle Absicherung mit einem höheren Regelsatz als heute. Zugleich unterstützt sie den Zugang zu individueller und passgenauer Förderung bei der Arbeitsvermittlung ohne Gängelung.“ (Bündnis 90/Die Grünen)
Deutung: Durch bessere Arbeitsvermittlung soll Arbeit für alle (siehe CDU, SPD, FDP) gesichert werden. Wer trotz Suche keine Erwerbsarbeit findet, soll in seiner Existenz gesichert sein (siehe Die Linke).
5:0 für die Auffassung, dass Teilhabe an der Gesellschaft direkt mit der Erwerbsarbeit verknüpft ist. Zwei Gründe werden dafür genannt:
1. Erwerbsarbeit sichert Einkommen, ohne das Teilhabe nicht gelingen kann. Arbeit erscheint hier als Recht auf Einkommen.
2. Erwerbsarbeit stiftet „Anerkennung“ und ermöglicht „Selbstverwirklichung“. Daher ist sie selbst ein wesentlicher gesellschaftlicher Bereich, an dem es teilzuhaben gilt. Arbeit erscheint hier als Recht auf Sinnstiftung.
Die Diskussion um den Doppelcharakter der Arbeit als Quelle von Einkommen und Quelle von Sinn hat inzwischen eine lange Tradition. Sie hat neue Aktualität gewonnen mit der Verkrustung struktureller Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig wachsendem Wohlstandsniveau durch steigende Produktivität. Unter solchen volkswirtschaftlichen Durchschnittswerten lagert eine wachsende soziale Spaltung der Vermögen. So wurde nicht nur das Gerechtigkeitsthema virulent, sondern es stellte sich die Frage nach der Zukunftsfähigkeit eines Sozialsystems, das auf „Arbeit für alle“ aufbaut und unter den „Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ den Druck zur Arbeitsaufnahme erhöht. Umso erstaunlicher ist die Beharrlichkeit, mit der aktuelle Parteiprogramme festhalten an Überzeugungen und sozialpolitischen Regelungen, als seien sie in Stein gemeißelt.
An alternativen Entwürfen mangelt es nicht. Die analytische Trennung der beiden Funktionen der Erwerbsarbeit (Einkommen und Sinn) hat die Diskussion darüber forciert, wie beide Funktionen auf getrennten Wegen politisch-praktisch erfüllt werden können. Prominente Bedeutung hat dabei der Vorschlag eines Bedingungslosen Grundeinkommens erlangt. Es böte „Einkommen für alle“ und die Möglichkeit der „Sinnstiftung für alle“ durch Teilhabe in jeglichen Formen des Tätigseins auf der Basis einer gesicherten Existenz.
Die Frage des Wertes der Leistung stellte sich dann nicht unmittelbar über ihren Marktpreis. Sie würde zu einer Abwägung des Sinns für sich selbst und andere. Wertvoll, wenn auch nicht unbedingt tauschwertvoll, wäre eine Leistung, in der sich der Einzelne zum Ausdruck bringt („Selbstverwirklichung“) und die eine Bedeutung über sich selbst hinaus, für ein übergeordnetes Ganzes erlangt (Evidenz). So wäre der gelungene 400m-Lauf eine sinnstiftende Leistung, weil hier jemand seine Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Langsprints zeigt und der Lauf einen Beitrag für die Gemeinschaft der Seniorensportler liefert, indem er Werte des sportlichen Wettbewerbs belebt und insofern Kultur schafft.
Wieso ist gesellschaftliche Teilhabe und Erwerbsarbeit scheinbar untrennbar miteinander verbunden? Welchen Sinn geben die Menschen ihrem Leben, wenn für ihr Einkommen schon gesorgt ist?
Im besten Falle stösst die Forderung nach einem Grundeinkommen eine breite gesellschaftliche Debatte über genau diese Fragen an.
Der engen Verknüpfung von Erwerbsarbeit und gesellschaftlicher Teilhabe scheint ein Menschenbild zu Grunde zu liegen, wonach nur demjenigen, der etwas leistet, zusteht sozial, kulturell, politisch und materiell teilzuhaben. Wie gut das gelingt, wird über weite Strecken als individuelle Einzelleistung betrachtet. Und auch der Selbstwert der meisten Menschen scheint sich daraus abzuleiten. Welcher Art die Leistung ist, und ob diese tatsächlich „gesellschaftlich nützlich“ ist, wird oft genug nicht groß hinterfragt.
Es freut mich außerordentlich, dass Sie dieses Thema hier im SozBlog aufgreifen. Bitte mehr dazu! Vielleicht auch zu den Fragen, was mit Teilhabe gemeint ist? Und wie die Trennung von Einkommen, Auskommen und Sinn weiter gedacht werden kann.
Die politische Aussage ist einfach und effizient. Jeder, der Arbeit erbringt, kann finanziell am gesellschaftlichen Leben teilhaben und seinen Teil zum Fortschritt leisten. Na klar ist auch die häusliche Arbeit richtige Arbeit, trägt aber nicht direkt dazu bei, dass Fortschritt erlangt wird, bzw. bringt der Gesellschaft nichts. Das sind meine 5 Cent ;-)
Wieso wird denn z.T. für häusliche Arbeit gezahlt, wenn es der Gesellschaft angeblich nichts bringt? Wieso erhält eine Tagesmutter Geld für die Betreuung fremder Kinder und für die Betreuung der eigenen Kinder keine Geld? Wer von uns ist im Stande zu beurteilen, welche Arbeit, die heute erbracht wird, in der Zukunft zum »Fortschritt« beitragen wird oder nicht …?