Ballastabwurf

Weihnachten ist eine die Zeit, in der jede Menge Zeug angesammelt wird. Daher möchte ich mich in diesem Beitrag mit dem Thema Ballastabwurf beschäftigen. Ausgangspunkt ist das aktuelle Buch What Use is Sociology? (Cambridge 2014), in dem Zygmunt Baumann sich in Gespräche mit Michael Hviid Jacobsen und Keith Tester verwickeln lässt. Vielleicht eine neue Modeform, diese Dialoge zwischen Soziologen? Die Lektüre verspricht jedenfalls Aufregung pur.

Barrieren

Das Buch will Soziologen Mut machen, sich als Personen zu verstehen, die sich „aktiv“ an die Welt „da draußen“ richten, anstatt nur „werturteilsfreie Techniker“ einer „angeblichen Wissenschaft“ zu sein. Daher fordern die Autoren ihre Leser zu „frischen Reflektionen“ darüber auf, „was wir tun, warum wir es tun und für wen wir es tun“. Das Buch selbst will ein Beispiel dafür sein, wie ein anderer (Schreib-)Stil innerhalb der Soziologie aussehen könnte.

Ausgangspunkt der Argumentation ist die uns allen geläufige Besonderheit der Soziologie, selbst Teil der Welt zu sein, die sie untersucht. Für die Gesprächspartner ist dies aber zugleich auch die Erklärung dafür, warum sich das Potenzial der Soziologie nicht ausreichend verwirklicht. Dabei nehmen sie kein Blatt vor den Mund.

Sie sprechen explizit von „Barrieren“, die sich immer wieder zwischen Soziologie und sozialer Welt schieben. Für sie sind das: dauernder Methodenfetischismus, Betonung der Wertneutralität sowie esoterische Fachsprache(n). Sie behaupten weiter, dass derart aus der Soziologie eine „wissenschaftliche Hexerei“ würde, die ein Eigenleben entwickelt, weit entfernt von den menschlichen Wesen, die es vermeintlich zu beobachten, zu untersuchen und zu analysieren gilt. Es soll, so deuten Baumann & Co. es an, Soziologen geben, die sich hinter den von ihnen selbst errichteten Barrieren geradezu verstecken. Das Ergebnis dieses Prozesses fassen sie in nur einem vernichtenden Wort zusammen: Irrelevanz. Und sie fordern konsequent: „Sociology needs to be rescued from sociology“.

Mir kam das irgendwie bekannt vor. Ich erinnerte mich an ein anderes Buch, das diese These geradezu spiegelt. Wenn auch in einem außersoziologischen Format, einer Tragikomödie.

Red Bull für die Theorieproduktion

Als ich vorletzten Sommer mit dem Rad der Donau entlang nach Wien folgte, kam ich am Örtchen Ybbs vorbei. Dort wurde Richard Schuberth geboren, der das wunderbare Theaterstück Wie Branka sich nach oben putze schrieb. Ich fasse kurz zusammen:

Magistra Moser, eine Gesellschaftswissenschaftlerin mit einem Faible für Energy-Drinks lebt in einer architektonischen und akademischen Parallelwelt, in der sie versucht, einen Text für einen Kongress zu schreiben, der ihre Karriere endgültig beflügeln soll. Ihre Putzfrau mit Migrationshintergrund, Branka, zerstört nach und nach den unhinterfragten Referenzrahmen der jungen Akademikerin. Branka: Welche Sprache sprechen Sie? Magistra Moser: Poststrukturalistisch.

So geht es dann hysterisch durch das ganze Stück, in dem ein Ex der Akademikerin wie nebenbei erklärt, dass sich hinter der komischen Sprache der Magistra „bloß das Bedürfnis nach geschlossenen Systemen und selbstreferenzieller Klarheit“ verberge, um sich „vor Uneindeutigkeiten zu schützen“. Die Putzfrau engagiert sich unterdessen zusehends als Chiropraktikerin, um die „kulturellen Verkrampfungen“ und den „geilen Kulturvermessungsblick“ ihrer Chefin zu lösen, die als „Diskurstrottel“ weiterhin „viel mit Weber und Stuart Hall“ arbeitet. Worauf Branka, naiv natürlich, fragt: „Und wer sagt, dass die auch mit dir arbeiten wollen?“. Wieder bloß so ein Theaterstück, das nicht viel mit der Wirklichkeit zu tun hat.

Riten, Litaneien und Übertreibungen

Trotzdem will ich noch ein wenig beim Thema Ballast bleiben. Im letzten Blog-Beitrag kam ich auf die Ethnopoesie zu sprechen. Einer ihrer Hauptvertreter, Hubert Fichte, hat sich in seinen Ketzerischen Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen mit den Verkrampfungen der Sprache beschäftigt. Dort schfreibt er, dass die „Regressionen der Sprache (…) nicht nur Ausdruck von Verhaltensstörungen“ sind, nein, er geht noch einen Schritt weiter, indem er behauptet, dass sie auch neue Verhaltensstörungen hervorrufen würden. Fichte meinte damit „aseptische Riten“, „quasisyntaktische Litaneien“ und „heuchlerische Übertreibungen“. Er selbst suchte zeitlebens nach neuen schriftlichen Ausdrucksformen, gründete eine eigene Gattung und löste andere auf.

Diese Riten, Litaneien und Übertreibungen sind der Ballast, den es abzuwerfen gilt. Dafür sind sie zunächst einmal in den Blick zu nehmen. Gerade die Soziologie könnte mittels ihrer Fähigkeit zur „doppelten Hermeneutik“ erkennen, dass die von Fichte kritisierten Ausdrucksformen nicht viel mehr bewirken, als Wissenschaft zum Knechtungsakt zu machen. Gerade die Soziologie könnte das Trennende erkennen – die Barriere – die damit errichtet wird. Das Problem ist eher ein berufsständisches als ein inhaltliches oder konzeptionelles, weil alles, was nicht gleich diese Riten, Litaneien und Übertreibungen enthält als „unwissenschaftlich“ und/oder „unterkomplex“ abgetan wird (wahrscheinlich gerade in diesem Moment).

Vom Ballast befreien

Wenn aber der Hauptteil von Vorträgen auf Kongressen und Tagungen aus Signalsprache, Absicherungsrhetorik und Distinktionsformen besteht, geht Wesentliches verloren. Lange Herleitungs- und Zitierketten vom Typ DURCKHEIMWEBERSIMMEL oder FOUCAULTDERRIDALACON oder LUHMANNLUHMANNLUHMANN erinnern eher an die Tragikomödie von Branka und Magistra Moser, als an Soziologie, die Komplexität erhält und dennoch Verständlichkeit ermöglicht (wie ich es im letzten Blog-Beitrag gefordert habe). Achtung! Es geht nicht darum, dass die oben genannten Autoren (oder andere) unwichtig wären. Es geht allein um die mögliche Geste des Ballastabwurf, die dazu befähigt die Richtung zu ändern – hin zu eigenen Gedanken. Jeder eigene Gedanke sucht sich eine Form, aber nicht jede Form enthält automatisch einen eigenen Gedanken. Sprache also nur als taktisches Medium einzusetzen, greift zu kurz.

Vielleicht hilft es, selbst im Kontext soziologischer Texte die berühmten Schreibregeln von Elmor Leonard zur Kenntnis (wenn auch nicht zu ernst) zu nehmen. Die Masterregel lautet: „When something sounds like writing, I rewrite it.“ Oder die Regel #10: „Try to leave out the part that readers tend to skip“. Und das kann schon mal den Hauptanteil von Fachtexten ausmachen. Die üblichen Schreibregeln für wissenschaftliches Schreiben raten eher zu Ballastzuladung als zum Ballastabwurf. Wenn elegante Wissenschaft Komplexität erhält und dennoch Verständlichkeit ermöglicht, dann muss sie sich aber mit Ballastabwurf beschäftigen und dabei an der indischen Tempelkunst orientieren: Lasse alles Überflüssige weg und verstärke den Rest.

Von Marcel Mauss stammt ein schönes Zitat, dass die Arbeitsweise deutscher Soziologen verdeutlicht: „Viel von jener sogenannten deutschen Gelehrsamkeit ist nichts als dummes Zeug, ständig suchen sie einen Plan zu erarbeiten, der die Summe allen Wissens darstellen soll. Ich selber dagegen arbeite einfach an meinem Material, und falls sich hier und da eine brauchbare Verallgemeinerung zeigt, dann notiere ich sie mir und wende mich dann etwas Anderem zu.“ Das ist natürlich sehr böse, sehr „unterkomplex“ und klingt zudem sehr nach Branka. Aber eine kritische Selbstverständigung über den Charakter eines Faches und (s)einer öffentlich anschlussfähigen Ausdrucksform könnte hieran anschließen. Es tut niemandem gut, den Punkt der Welterklärung in so großer Distanz zur Lebenswirklichkeit anzusetzen, dass menschliches Denken, Fühlen und Handeln nur noch als anonymer Prozess und anhand abstrakter Logiken beschreibbar sind. Weil es so schön passt, Zygmunt Baumann und seine Gesprächspartner zum Abschluss: „There is an alternative but it is up to us to make it.“ (Ich weiß, auch ein Zitat).

5 Gedanken zu „Ballastabwurf“

  1. Mensch sollte überhaupt damit aufhören, all das Zeugs wiederzukauen, was er mal gelesen, gesehen oder gehört hat:

    Macht Euch doch alle einmal ganz unbefangen neue und frische Gedanken: staunt doch, was das Zeugs hält, es gibt doch auf dieser Welt genug zum Staunen: Dunkle Energie, Dunkle Materie, Schwarze Löcher und die – bislang – vollkommen fruchtlosen Strings!

    Fragt Euch, wie eine viale Gesellschaft auszusehen hat! Fragt Euch, wie eine jede Gesellschaft all die Lahmärsche integrieren kann und soll, die sich der kommunikativen positiver Mitarbeit durch Dummheit oder Faulheit bislang versagen?

    Überlegt Euch mal in aller Ruhe und ganz frei von Vorurteile, was uns – den Menschen – die Sexualität bedeutet oder zumindest bedeuten könnte? Es gilt, künftig fröhlicher und unbefangener miteinander zu vögeln!

  2. Warum fällt mir dazu spontan ein vielzitierter und immer noch gelehrter Satz von Hajo Friedrichs zum Thema Objektivität im Journalismus ein? „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache …“

    Weil das ebenfalls so eine unreflektierte Unentschiedenheit von außerhalb unserer realen Welt ist, mit der Menschen wenig anfangen können? Alleine schon die Auswahl eines Themas ist subjektiv.

    Dann doch gleich mit klaren Worten sagen, wofür man steht, welche Argumente pro und kontra einem relevant erscheinen und warum.

  3. Grundsätzlich würde ich die Forderung nach einer verständlicheren Soziologie unterstützen. Mich stört allerdings ein bißchen die Tabula-Rasa-Mentalität, die ich meine aus diesem und dem vorherigen Post herauszulesen. Es wäre vielleicht sinnvoller bei dem Thema öffentliche Soziologie zwischen der Innen- und der Außenwirkung zu unterscheiden. Anders ausgedrückt, will man um die Aufmerksamkeit der Kollegen oder um die der Laien werben? Ich denke, es versteht sich von selbst, dass man für die Kollegen andere Texte produziert als wenn man für Laien schreibt. Das Problem, aus dem sich die Forderung nach einer öffentlichen Soziologie ableitet, scheint mir zu sein, dass zu viel für Kollegen und zu wenig für Laien geschrieben wird. Wenn man nun beklagt, dass die hochgerüsteten Theoriesprachen von Laien nicht verstanden werden, dann ist das zwar richtig. Man begeht aber einen Kategorienfehler, wenn man meint Soziologen sollten generell auf Theorien verzichten. Für die Kommunuíkation unter Kollegen wird man auch weiterhin in einer Fachterminologie kommunizieren müssen. Man stelle sich nur mal vor, wenn man einen Quantenphysiker auffordert in einer Arbeit auf Mathematik zu verzichten. Man würde ihm seine Arbeitsgrundlage entziehen. So ähnlich verhält es sich auch mit den soziologischen Fachterminologien. Es gibt nun einmal Sachverhalte, die man für eine professionelle Arbeit nicht mehr einfach in der barrierefreien Alltagssprache ausdrücken kann. Das muss jedoch nicht bedeuten, dass man diese Sachverhalte nicht auch auf eine Weise darstellen kann, dass sie auch von Laien verstanden werden können. Und auch hier fällt mir als positives Beispiel für populärwissenschaftliche Darstellungen wieder die Quantenphysik ein. Ich hatte mich bereits nach dem letzten Post über die Chöre gefragt, wieso es Soziologen kaum gelingt ihre Forschungsgebiete popularwissenschaftlich aufzubereiten?

    Man könnte gerade die Fähigkeit komplizierte Sachverhalte in eine allgemeinverständliche Sprache zu übersetzen als den Markstein betrachten, an dem sich erweist, ob man versteht worüber man schreibt. Gerade wenn man in der Gesellschaft für die Gesellschaft forscht, wäre es ein ziemliches Armutszeugnis, wenn man nicht in der Lage ist, Wissen so aufzubereiten, dass es auch von Laien verstanden werden kann. Dabei müssten Soziologen doch eigentlich die sein, die mit kulturellen Codes am virtuosesten umgehen müssten, schließlich forschen sie darüber. Was allerdings klar sein sollte, ist, dass populärwissenschaftliche Bücher in Fachkreisen weniger anschlussfähig sind.

    Ob allerdings die im letzten Blog-Post besprochen Chöre – ich würde eher von Text-Collagen sprechen – eine geeignete Variante popularwissenschaftler Darstellung ist, wage ich zu bezweifeln. Die reine Präsentation der Aussagen von Befragten kommt noch keine wissenschaftliche Wahrheit zu. Vielmehr versteckt sich der Zusammensteller solcher Text-Collagen hinter den Aussagen der Befragten und suggeriert damit eine Pseudo-Objektivität eben durch den Verweis, dass man seine Forschungsobjekte selbst zu Wort kommen lässt. Da die Collage aber von jemanden anders als die Befragten zusammengestellt wurde, kann man die Collage nur schwerlich als eine unverfälschte Darstellung der „Realität“ betrachten. Selbst wenn der Zusammensteller der Collage der Meinung ist, er würde die Sichtweisen der Befragten durch seine Zusammenstellung angemessen wiedergeben, ist es trotzdem nur seine Sichtweise und nicht die der Befragten. Die Darstellung dessen, was man für die Realität hält, ist immer perspektivisch. Dieser Standpunkt muss expliziert werden. Bei der Übersetzung von Forschungsergebnissen in eine allgemeinverständliche Sprache, wären Collagen nur ein Mittel den eigenen Standpunkt zu invisibilisieren bzw. die Kriterien zu verschweigen, warum man das präsentierte Wissen für wahr hält. Ein weiteres Problem bei dieser Darstellungsform ist aus meiner Sicht, dass sie bei der Zusammenstellung künstlerischen und nicht wissenschaftlichen Kriterien folgt und deswegen im Prinzip auch als Kunst betrachtet werden müsste.

  4. Ich freue mich auch einmal in einem soziologischen Zusammenhang über Hubert Fichte zu stolpern. Danke für den interessanten Blogeintrag!

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