Zwei Zeitungsmeldungen aus den letzten Wochen: 1. Die Verhandlungen über eine transatlantische Wirtschaftszone zwischen den USA und der EU stocken. Einer der strittigen Punkte sind die Schiedsgerichte, vor denen Investoren künftig Streitfälle austragen können. 2. Für die deutsche Justiz stellt sich die Frage, wie sie mit den Friedensrichtern umgehen sollte, vor denen islamische Großfamilien ihre Konflikte klären.
Ich glaube, beide Meldungen hängen zusammen. Sie zeigen auf unterschiedlichen Ebenen die Tendenz zur Bildung von Parallelstaaten.
Viele regen sich über Parallelgesellschaften auf, Soziologen nicht. Sie nennen das Phänomen „soziale Gruppen“. Ob die relativ getrennt voneinander agieren, ist so lange kein Problem, als sie sich nicht ins Gehege kommen. Und selbst wenn sie miteinander Beziehungen unterhalten, sind das häufig reziproke Austauschbeziehungen (Güter, Informationen, Heiratspersonal). Ansonsten sollen die einen das eine glauben und die anderen das andere tun – weder ein Normenkonsens noch feste Verhaltensregeln „halten unsere Gesellschaft zusammen“, wie genauso regelmäßig wie erfolglos gefragt wird. Schon die französischen Aufklärer suchten vergeblich nach dem „Band der Gesellschaft“ (lien de la société), erklärten mal das eine, mal das andere dazu, aber verstanden dabei nicht, dass sie einer Chimäre hinterher jagten: „die Gesellschaft“ ist eine Abstraktion aus zusammengefaßten Einzelerscheinungen, und sie hat weder Haut noch Knochen.
Die bloße Existenz verschiedener sozialer Gruppen in einem bestimmten Gebiet ist also kein Problem, zumindest so lange, als sie nicht in Konflikt geraten. Auch Konflikte kann man reziprok regeln. Wenn der eine Indianerstamm dem anderen die Pferde klaut, lauert jener auf eine Gelegenheit, die Pferde wieder zurückzuklauen oder sonstwie den Gegner angemessen zu schädigen. Eines der ältesten reziproken Schadensausgleichsysteme ist die Blutrache.
Diese reziproken Systeme der Konfliktregelungen zwischen sozialen Gruppen funktionieren allerdings nur so lange, als beide Seiten über ungefähr gleiche Mittel verfügen. Sind diese Mittel stark und dauerhaft asymmetrisch, entstehen Machtverhältnisse und die eine Gruppe kann der anderen ihren Willen aufzwingen. Dauern Machtverhältnisse über längere Zeit an, stellen sich beide Seiten darauf ein: die Unterlegenen gewöhnen sich daran, regelmäßig ausgeraubt zu werden (man nennt das dann: Steuern, Abgaben, Tribute), die Überlegenen müssen sich nicht mehr so anstrengen, ihre Überlegenheit auch durchzusetzen, weil die Unterlegenen nun daran glauben, dass es schon irgendwie in Ordnung sei, wenn sie unterliegen, kurz: Legitimität bildet sich, Macht transformiert in Herrschaft.
Herrschaft aber ist immer regelgebunden, und sei es, indem die Regeln aus der Gewohnheit des Ausraubens entsprungen sind. Regeln tendieren zur generellen Anwendung. Das hat den Vorteil, dass sich unter ihnen nun soziale Gruppen verschiedener Größe und Macht entfalten können. Die größte Toleranz entwickelte sich stets in stabilen Herrschaftssystemen. Je sicherer der Sultan auf seinen Kissen sitzt, desto besser geht es den Juden und Christen in seinem Reich. Man könnte auch sagen: „Gesellschaft“ (verstanden als dauerhafte Beziehung asymmetrischer sozialer Gruppen) entwickelt sich erst im Rahmen von Herrschaft. Mit ihr ist eine Instanz gegeben, die Streitfälle zwischen Gruppen auch nicht-reziprok entscheiden kann: die eine Partei „hat Recht“ und die andere muss sich fügen; nicht dem Gegner, sondern der übergeordneten Instanz, der Herrschaft, die über die exekutiven Mittel verfügt, ihren Willen auch gegen das Widerstreben anderer durchzusetzen.
Entscheidend ist hierbei jedoch ein Monopol, nämlich das auf legitime physische Zwangsgewalt in einem Territorium. Es konstituiert nach Max Weber den Staat als ein eigenes Handlungssystem jenseits der sozialen Gruppen. Sobald dieses Monopol in Frage gestellt wird, mutiert das einzelne staatliche Handeln (der Richterspruch, die Polizeimaßnahme, der Verwaltungsakt, der Parlamentsbeschluss) zum bloßen Mittel derjenigen Gruppen, die über den Staat als Organisation verfügen – und es verfügen immer irgendwelche Gruppen über den Staat (was Bourdieu richtig erkannt, aber nicht anerkennungstheoretisch weitergedacht hat). Dann tritt der Staat nicht mehr als legitimes Recht setzende und exekutierende, sondern als verhandelnde Macht auf, degradiert sich gleichsam selbst als Partei in die gesellschaftlichen Interessen- und Ideenkämpfe hinein. Jetzt bilden sich auf allen Ebenen Parellelstaaten aus, anders formuliert: judikative und exekutive Handlungsakte diffundieren.
Und hier liegt das eigentliche Phänomen: Was den Staat von unten stört, betreibt er oben selbst. Unten stehen die – meist muslimischen – Clans, die die deutsche Gerichtsbarkeit nicht mehr anerkennen, ihr mit allen Mitteln zu entkommen suchen und ihre Mitglieder als Exekutivorgane einsetzen, wenn ein Friedensrichter seinen Spruch gefällt hat. Erst jüngst hat eine griechisch-stämmige Polizistin beklagt, dass die deutschen Polizei in diesen Gruppen keinerlei Respekt genießt – und große Zustimmung ihrer Kollegen geerntet. Das ist kein Produkt von Parallelgesellschaften, sondern von Parallelstaaten. Das in unseren Augen Archaische an der Scharia ist ja auch ihr Reziprozitätscharakter: die Strafe wird hier als Strafe genommen, und nicht als Schutz für die Gesellschaft und Therapie für den Täter.
Aber dieses allmähliche Vordringen der reziproken Konfliktlösungen ist keineswegs auf marginale soziale Gruppen beschränkt, es kommt aus der Mitte staatlicher Institutionen. Immer größere Teil der Justiz verstehen sich als vermittelnde Instanz zwischen den Konfliktparteien, und zwar weit über das Zivilrecht hinaus. Mag ein solches Verfahren in einem Scheidungsprozess noch seine Berechtigung haben, so wird es im rechtlich komplexen Zivilprozess schon fraglicher, ob es der richtige Weg ist, auf einen Vergleich zu drängen, um die Festlegung durch ein Urteil zu vermeiden. Ganze Branchen wie die Autoversicherungen haben sich darauf geeinigt, aus prozessökonomischen Gründen auch nur leicht anzweifelbare Schuldfragen nicht mehr gerichtlich zu klären, sondern sich die Kosten zu teilen (und danach den Versicherungsnehmern aufzuhalsen). Am Ende dieser schiefen Ebene stehen nicht nur die unzähligen Strafverfahren, die „gegen eine Geldbuße eingestellt werden“, sondern der „deal“, die Strafverfahren gegen große Unternehmen (etwa Banken), die gegen Regeln verstoßen haben, und mit denen die Aufsichtsbehörden nun wie auf dem Basar eine Strafzahlung aushandeln, um beiden Seiten die Kosten und Mühen eines langwierigen Prozesses zu ersparen.
Diese Entwicklung zur reziproken Justiz ist aber nicht der Faulheit der Akteure zuzuschreiben, sondern der Komplexität eines Rechtssystems, das verbindliche Entscheidungen immer schwieriger macht. Die internationalen Schiedsgerichte sind die oberste Instanz reziproker Justiz. In ihnen verhandelt der Staat als eine Partei gleichwertig mit den investierenden Firmen über die Berechtigung ihrer Ansprüche, er verzichtet also gänzlich auf die normsetzende Gewalt, symbolisiert durch die Tatsache, dass die Orte dieser Schiedsgerichte nicht auf seinem Territorium liegen: Alles ist Vertrag, alles ist verhandelbar.
Wenn der Staat also mit internationalen Firmen reziproke Konfliktlösungen erarbeitet – warum nicht mit arabischen Großfamilien? Oder deutschen Kleinfamilien? Oder mit jedem einzelnen? „Gut, ich bin zwar bei Rot über diese Ampel gefahren, aber hundert Euro sind mir zu viel. Treffen wir uns in der Mitte: fünfzig!“ Was Goldman Sachs recht ist, kann dem Bürger nur billig sein – unter Reziprozitätsgesichtspunkten.
Über den Anspruch des Staates, „das Allgemeine“ zu vertreten, ist viel gespottet worden, und das zurecht, versteckten sich dahinter doch häufig partikulare Interessen. In Rechtsstaaten ist das Allgemeine aber die legitime Regel. Die Regel ist in ihrer Anwendung nicht Verhandlungssache, sondern eine Sache von Verhandlungen, etwa in Justizverfahren, an deren Ende ein Urteil steht, kein Kompromiss. Sie ist nicht reziprok, weil durch Herrschaft konstituiert, sie muss einfach nur exekutiert werden – solange sie gilt.
Indem politisches Handeln auf den oberen Ebenen die Anwendung von Regeln Situationen, Verhandlungen, Kräfteverhältnissen unterstellt, entzieht es ihnen unten den Legitimitätsglauben. Wenn der Maastricht-Vertrag oder Urteile des Bundesverfassungsgerichts je nach politischer und ökonomischer Lage beiseite geschoben, ignoriert oder hintergangen werden, braucht man sich über Normerosion im Steuerrecht nicht wundern. Und wenn Sigmar Gabriel stolz verkündet, in Sachen EEG „mit Brüssel ein gutes Verhandlungsergebnis“ erzielt zu haben (wo es um die Anwendung des bestehenden Wettbewerbrechts geht), braucht er sich nicht zu wundern, wenn zu Hause die Wutbürger allenthalben längst beschlossene Projekte zu jeder Zeit ihrer Entwicklung in Frage stellen: Wenn man nur laut genug ist, kann man alles neu verhandeln. Die Selbstermächtigung der Politiker gegenüber dem bestehenden Recht korrespondiert mit der Selbstermächtigung der Bürger gegenüber Entscheidungen, die eben nur noch situativ kollektiv verbindlich sind. Das Primat der Politik (oder ihre Selbstbindung an Regeln) gilt unter egalitären Idealen gesamtgesellschaftlich.
Wie alle großen gesellschaftspolitischen Tendenzen fällt auch diese Entwicklung nicht vom Himmel, sondern ist lange ideenpolitisch vorbereitet. Als Carl Schmitt Ende der 30er, Anfang der 40er Jahre die Epoche des Staates für abgeschlossen erklärte, konnte er eine genuin gesellschaftliche Unterscheidung, die zwischen Freund und Feind, an seine Stelle setzen. Parallel dazu erklärte auf der Hegel’schen Linken Max Horkheimer den Staat zur Beute sozialer Interessengruppen, der „rackets“. Dieses Denken entfaltet sich in den folgenden Jahrzehnten aus dem inneren der Staatsrechtslehre heraus, die Stück für Stück zur politischen Soziologie mutierte: „Der Staat der Industriegesellschaft“, titelte lange vor Niklas Luhmann Ernst Forsthoff, und nicht etwa: Die Industriegesellschaft im modernen Rechtsstaat. Kein Wunder, dass am Ende dieses Prozesses die stillschweigende Übereinkunft stand, der Staat sei stets Teil, nicht aber Gegenstück der Gesellschaft. Mochten Böckenförde und Isensee in den 70er Jahren noch einmal vorsichtig für die Gleichrangigkeit beider Kategorien plädiert haben, so konnten sie sich damit nicht durchsetzen, weder bei Juristen noch bei Politologen, schon gar nicht bei Soziologen. Und so stehen wir heute beim schwächsten aller Staatsbegriffe, der „Selbstbeschreibung des politischen Systems der Gesellschaft“.
Damit werden in der Rechtsentwicklung die dogmatischen durch sozialpolitische Leitplanken ersetzt. Nun muss sich die Verfassung der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung anpassen, nicht umgekehrt (etwa im Familienrecht). Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zum „dynamischen Recht“ – und die alte Funktion des Rechts in schriftlosen Kulturen, bestehende Verhältnisse zu bestätigen, Teil des gesellschaftlichen Austauschs zu sein, ist wiederhergestellt.
Aber hat dies alles vor dem geschichtlichen Hintergrund der Staatsvergottung nicht auch seine Berechtigung? Sicher, aber ob es wirklich klug ist, den Teufel der Staatsmetaphysik durch den Belzebub der Gesellschaftsmetaphysik auszutreiben, wird sich erst künftig zeigen. Auch Bürgerkriege sind reziprok. Die Lösung des Problems liegt jedenfalls nicht in einem Hegemoniewettstreit der Begriffe, sondern in der Einsicht, dass beide auf je spezifischen Ebenen des sozialen Handelns ihre Berechtigung haben: austauschorientierte Reziprozität und regelgebundene Herrschaft dort, wo sie angebracht sind.
Aber wo sind sie angebracht? Es gibt einen klaren Indikator für diese Unterscheidung: die Korruptionserwartung. Ein weicher Faktor, aber haben wir uns in Zeiten, in denen Politiker vor Fernsehkameras alle Sparguthaben garantieren, an Vertrauen als Basis ganzer Weltfinanzordnungen nicht längst gewöhnt? Inflations- und Deflationserwartungen sind gegenwärtig härtere Kriterien für die Notenbanken als Geldmengen.
In Deutschland dominiert, über Jahrhunderte gewachsen, eine vergleichsweise niedrige Korruptionserwartung. Der Führerscheinkontrolle durch die Polizei wird kein Fünf-Euro-Schein beigelegt, dem Baugesuch keine Einladung zur Ferienreise, den Prüfungsunterlagen keine Weinflasche – oder? Staatliches Handeln hat noch seine feste habituelle Verankerung, auch in der medialen Empörung. Aber wenn Richter auf Nebeneinkünfte angewiesen sind, weil ihre Gehälter in den letzten Jahrzehnten 20% hinter der privatwirtschaftlichen Einkommensentwicklung zurückgeblieben sind, wenn Ministerien sich juristischen Sachverstand von großen Kanzleien einkaufen, wodurch dasselbe Personal, das die Gesetzesvorlagen geschrieben hat, später die großen Industriebetriebe für das zehnfachen Honorar vor Gericht vertritt, wenn Politiker nicht mehr zwischen staatlichem und politischem Handeln unterscheiden können, indem sie Dienstgeheimnisse instrumentalisieren, wenn im größten aller Parallelstaaten, der EU, die Vertretungen der Landesregierungen gleichrangig mit den Vertretern der Industrieverbände und gesellschaftlichen Gruppen um Verhandlungstermine bei den Kommissaren bitten – dann sollte man etwas genauer überlegen, wo staatliches von gesellschaftlichem Handeln zu trennen ist.
Staatlichkeit ist eine historische Errungenschaft, die auch wieder verloren gehen kann – und keine Geschichtsmetaphysik der gesetzmäßigen Entwicklung zu funktional ausdifferenzierten Gesellschaften bewahrt uns davor. Es geht dabei um mehr als das Auswechseln von Selbstbeschreibungen. Staatlichkeit ist eine Kulturaufgabe, die durch permanente Anstrengung im alltäglichen Handeln vor gesellschaftlicher Reziprozität bewahrt werden muss – indem der Prüfer das nette Lächeln der Studentin von ihrer Prüfungsleistung trennt, der Polizist die Bekanntschaft von der Unfallaufnahme, der Politiker das Amt von seinen Interessen, etwa durch eine Karenzzeit bis zum Eintritt in die Privatwirtschaft. Auf alle diese Dinge sollte man künftig mehr achten, sonst entwickelt sich der Norden Europas nicht nur klimabedingt zum Teil des mediterranée. Denn Parallelgesellschaften, anders formuliert: pluralistische Sozialverhältnisse sind nur solange kein Problem, als wir die Entwicklung von Parallelstaaten vermeiden können. Ansonsten tendieren sie im günstigsten Fall zu Klientelsystemen und Nepotismus, im ungünstigen zum Bürgerkrieg.
„Wenn der Staat also mit internationalen Firmen reziproke Konfliktlösungen erarbeitet – warum nicht mit arabischen Großfamilien?“
Es gibt einen wesentlichen Unterschied: Die internationalen Schiedsgerichte dienen dazu, das Recht von Firmen gegenüber Staaten zu vertreten. Viele Staaten sind notorische Vertragsbrecher. Ausländische Firmen haben, gerade bei Gesetzesänderungen, keine Möglichkeit innerhalb des staatlichen Rechts dagegen vorzugehen.
Die arabischen Großfamilien schlichten hingegen untereinander in Fällen, in denen der Staat seine Rolle als möglichst neutraler Schiedsrichter oder Strafverfolger prinzipiell erfüllen kann. (Zudem sollte man zwischen Fällen unterscheiden, in denen lediglich privatrechtliche Belange verhandelt werden und solchen, in denen strafrechtlich relevante Tatbestände auf privatem Wege geregelt werden sollten. Vor allem gegen letztere Praxis islamischer Friedensrichter regt sich der Widerstand.)
Auf den Unterschied zwischen Zivil- und Strafrecht gehe ich ausdrücklich ein. Das Frappierende ist ja, dass Ausgleichsargumentationen in beiden Bereichen vorrücken. Und wenn Sie Staaten vorwerfen, notorisch Verträge zu brechen, dann kann man den Ball zurückspielen: internationale Konzerne brechen oder biegen notorisch Gesetze. Aber allein dieser Vergleich unterstützt schon meiner Argumentation, weil er die prinzipielle Differenz übersieht: Vertragsinhalte sind private Festlegungen und verpflichten nur die Vertragspartner. Investitionen stiften keine Verträge zwischen dem Investor und dem Staat, in dem die Investition erfolgt. Der Staat legt Rahmenbedingungen fest, und die können sich ändern wie Marktbedingungen. Das ist das Risiko. Gesetze in demokratischen Staaten aber sind Ausdruck einer kollektiven Willensbildung und haben somit eine völlig andere Bindungswirkung. Sie sind Ausdruck eines politischen Souveräns, nicht einer privaten Kapitalgesellschaft.
Lieber Herr Albrecht,
zunächst einmal herzlichen Dank für Ihre interessanten Bloggbeiträge, die mir regelmäßig die Prokrastination versüßen.
Ich habe an einer Stelle ein wenig gestutzt: Ist es wirklich das Gewaltmonopol des Staates & die Verfestigung eines Herrschaftsverhältnisses, das nicht nur Regelgebundenheit sondern auch Legitimität bzw. Legitimitätsglauben hervorbringt?
Demnach müsste ja ein totalitärer Staat mit besonders klarem Monopol auf physische Gewalt (Man denke an Nazi-Deutschland), gegenüber seinen Bürgern besonders gut als neutrale Instanz auftreten können. Auch bin ich mir nicht so sicher, dass tolerante & universalistische Regelungen tendenziell von Sultanen oder westlichen Pendants erlassen werden, die besonders fest auf ihrem Kissen sitzen. Sind es nicht historisch häufig Momente, in denen herrschende Gruppen um ihre Macht fürchten müssen, in denen sie sich zu einem „Entgegenkommen“ entschließen (mir fallen die deutsche Sozialpolitik unter Bismarck und die Christianisierung des römischen Reichs ein). Beide Punkte, so sie denn richtig sind, scheinen mir darauf hinzudeuten, dass man den ideengeschichtlichen Kern des demokratischen Rechtsstaats auch als Soziologe etwas ernster nehmen soll und die Formel der „Selbstbeschreibung“ zu kurz greift.
Völlig richtig: Toleranz kann gewährt oder erkämpft sein. Die Entstehung der Magna Charta ist ein Musterbeispiel für einen Herrscher, der gewähren muss, um Reste seiner Herrschaft zu bewahren. Mir ging es in meinem Argumentationszusammenhang allerdings nicht um die Toleranz „von oben“, sondern zwischen gesellschaftlichen Gruppen: Wann duldet die eine Gruppe eine andere neben sich, die völlig anderes glaubt, die anders lebt, die sich anders verhält – und eben nicht ungefähr gleich stark ist wie die eigene Gruppe. Und da meine ich, dass sich historisch viele Beispiele dafür finden lassen, dass erst ein gesicherter Herrschaftsraum, sozusagen die Figur des Dritten, diese Konstellation wahrscheinlich macht.
Das bedeutet aber nicht: je totaler die Herrschaft, desto pluralistischer die Gesellschaft. Man könnte umgekehrt argumentieren: totalitäre Herrschaftsapparate sind gerade ein Beispiel für unsichere Herrschaft, mangelnden Legitimitätsglauben, der dann durch Terror kompensiert wird. Und dass der Legitimitätsglaube genetisch traditionale Wurzeln hat, aus der Gewohnheit des alltäglichen Handelns entsteht, ist seit Jellineks berühmten Diktum von der „normativen Kraft des Faktischen“ bekannt. Das wird allerdings anders, sobald sich Legitimität an die Partizipation zu knüpfen beginnt: früh in Stammesgesellschaften („Großer Rat“), spät in Demokratien, nicht aber in Hierokratien oder Monarchien. Insofern: grobe Raster (wie von mir entworfen) fordern immer Differenzierungen, erst dann „stimmen“ sie. Man muss eben mit ihnen arbeiten. Aber ohne die Raster geht es eben auch nicht.
Erdogans osmanisch-türkischer PARALLELSTAAT in Deutschland!
Respekt, Herr Prof. Albrecht. Das ist ein überzeugendes Beispiel für die mögliche Soziologie und eine wunderbare Demonstration der Relativierung relativistischen Puddings.
Aus dem schildbürgerhaften Versuch, den Pudding an die Wand zu nageln, wird unversehens ein eindeutiger Akt mit einem Baseballschläger, der eine Persönlichkeitsstruktur in eine „Matschbirne“ verwandelt und konstruktivistische Perspektiven auf das Ergebnis hin drastisch reduziert.
Wenn die Soziologie diese Eindeutigkeit zielgerichtet immer zu erreichen versuchte, stünde die nächste Blütezeit bevor.
Die Anschlussmöglichkeit an den von mir angedachten „methodologischen Strukturalismus“ und die „Soziologie des Unbewussten“ ist offensichtlich. In Verbindung mit den kulturell-religiösen Strukturen des osmanisch türkischen Hintergrundes lässt sich die Prägung der VerhaltensVERTEILUNG türkisch-stämmiger Jugendlicher und ihr Konflikt mit der kuturell-religiösen Struktur Deutschlands plausibler SOZIOLOGISCH begreifen als mit der psychologisierenden, dominierenden Soziologie.
Andererseits deutet Ihr Begriff des „reziproken Austauschs“ auf eine ideologieverdächtige Abstraktionslage hin, die das Wesen sozialer Beziehungen und Strukturen begrifflich verschleiert. Die Folter kann man natürlich auch als den reziproken Austausch zwischen einem sadistisch veranlagten Folterer und der Beglückung eines masochistischen Gefolterten begreifen. Aber ob damit das Wesen dieser Beziehung erfasst wird, ist doch fraglich.
Verdammt noch mal! Ich kanne es mir einfach nicht abgewöhnen, Wesentliches und Unwesentliches zu unterscheiden, wahrscheinlich eine Frage meines fortgeschrittenen Alters. Ich hoffe, Sie sehen mir das nach.
Schon Max Weber war da ein Stück weiter:
§16.
M a c h t
bedeutet jede Chance,
innerhalb einer sozialen Beziehung den
eigenen Willen auch gegen Widerstreben
durchzusetzen, gleichviel worauf diese
Chance beruht. ”
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft,
Tübingen 1972, 5. Aufl. (1. Auflage 1921)
Schon auf der Ebene basaler Sozialität (Beziehungssstruktur) spielt Macht die entscheidende Rolle.
In dem Moment, wo zwei Menschen sich das erste Mal ansehen, passiert eine Verselbständigung der Beziehung, die Macht auf das TYPISCHE Verhalten innerhalb der Beziehung ausübt, inkl. eines Machtgefälles zwischen den beteiligten Personen im Normalfall, das sich nur im unwahrscheinlichen Ausnahmefall zu einem reziproken Austausch hin entwickelt, an dem beide Personen in gleichem Maße interessiert sind.
Ich gebe zu, diese Struktur kann man nicht anmalen. Deswegen existiert sie für einen Materialisten selbstverständlich nicht.
Die Wirkungen auf die VERTEILUNG des Verhaltens sind allerdings eindeutig.
Wie unzureichend eine Psychologisierung dieser Strukturen ist, zeigt die Tatsache, dass Morde zu 90% Beziehungstaten sind. Sie entstehen , weil die unbewusste Determination des Verhaltens die Menschen innerhalb der Beziehung hilflos macht und sie Entlastung oft nur durch katastrophale, meist UNGEWOLLTE Aktionen mit dramatischen Nebenwirkungen erreichen können.
Jeder, der Beziehungserfahrung hat, wird, wenn er über eine entsprechende Selbstwahrnehmung verfügt, die unbewusste Determination dieses TYPISCHEN Verhaltens innerhalb einer Beziehung, auch in weniger dramatischen Fällen bestätigen.
Auf gesellschaftlich-struktureller Ebene demaskiert Michel Foucault die Ideologie des rationalen Diskurses (reziproker Austausch).
Er beschreibt in seiner Diskursanalytik der Macht den fundamentalen Gewaltcharakter der Interpretationen von Worten und Zeichen. Es kommt darauf auf, wer spricht, nicht wovon er spricht.
Er betont, „dass die Gesellschaft nicht von Diskursen strukturiert werde, sondern von Machtrelationen, die nicht nach dem >großen Modell der Sprache und der Zeichen des Krieges und der SchlachtDie Regelist … die kalkulierte Lust am Gemetzel und die Hoffnung auf Blut<. Alle Regeln haben ihre Wurzel in diesem Krieg, nicht um ihn zu überwinden, sondern als Teil des universellen Kampfes zwischen Herrschern und Beherrschten.“
(Sarasin 2005: 119)
Auf der universitären Ebene ist z.B. das „Gefällt mir, Herr Professor“ natürlich auch als „gemeinter Sinn“ interpretativ interpretierbar. Aber soziologisch realistischer ist die struktursoziologische Hypothese, dass das Machtgefälle eine Struktur schafft, die dieses Verhalten wahrscheinlicher macht, empirisch leicht überprüfbar (bei entsprechender phänomenologischer Reduktion ideologischer Scheuklappen).
Vom Missbrauch junger Menschen innerhalb dieser und ähnlicher Strukturen ganz zu schweigen. Sie zu erklären durch psychopathologische Verfehlungen einzelner Strukturprofiteure, kann man psychologisch selbstverständlich versuchen. Soziologisch interessant (natürlich nur im Rahmen der möglichen Struktur-Soziologie) ist die Wahrscheinlichkeit eines solchen Verhaltens und damit entsprechender Verteilungen inkl. der Varianz im Vergleich unterschiedlicher Strukturen. Macht natürlich nur Sinn, wenn man von der Annahme ausgeht, es gibt objektive Strukturen, relativ unabhängig von der subjektiven und intersubjektiven Wahrnehmung.
Für Sie, Herr Professor Albrecht, offensichtlich kein Weg zur sozialen Realität.
Wissenschaftlich erklären kann man natürlich nur das, was man erkennt:
„Erkennen beruht auf dem simul hoc der Gestaltwahrnehmung und ist großteils vorbewußt angelegt, das Erklären auf dem propter hoc, das großteils als bewußte Konstruktion der Erfahrung hinzuzufügen ist. Erkennt man diesen Unterschied nicht, kann es geschehen, daß das noch nicht Erklärbare aus der Welt des Erkennbaren verloren wird.“
(Riedl 2000: 341)
Womit wir wieder bei meiner „Soziologie des Unbewussten“ wären!
Ein blog-Beitrag ist zwar keine wissenschaftliche Arbeit. Aber da ein aufmerksamer und interessierter Kollege mich darauf hingewiesen hat, dass bei meinen Foucault-Teil einiges durcheinander geraten ist, hier die korrekte Fassung:
„Auf gesellschaftlich-struktureller Ebene demaskiert Michel Foucault die Ideologie des rationalen Diskurses (reziproker Austausch).
Er beschreibt in seiner Diskursanalytik der Macht den fundamentalen Gewaltcharakter der Interpretationen von Worten und Zeichen. Es kommt darauf an, wer spricht, nicht wovon er spricht.
Er betont, „dass die Gesellschaft nicht von Diskursen strukturiert werde, sondern von Machtrelationen, die nicht nach dem >großen Modell der Sprache und der Zeichen des Krieges und der SchlachtDie Regelist … die kalkulierte Lust am Gemetzel und die Hoffnung auf Blut<. Alle Regeln haben ihre Wurzel in diesem Krieg, nicht um ihn zu überwinden, sondern als Teil des universellen Kampfes zwischen Herrschern und Beherrschten.“
(Sarasin 2005: 119)"
Die verschiedenen Fassungen meines Gesamtkommentars wurden übrigens versehentlicht veröffentlicht, weil sie zuerst nicht akzeptiert wurden und dann, nachdem mehrere veränderte Fassungen erneut von mir versucht wurden zu senden, plötzlich alle auftauchten!