Dieser Blog enthält immer wieder Annoncen zu Autorinnen und Autoren sowie zu Themen bzw. Fragestellungen, die nach meinem Dafürhalten für eine Weiterentwicklung soziologischer Zeitdiagnostik relevant sind: das Recht, die öffentlichen Güter und Infrastrukturen, die Urbanität und Kommunalität des Sozialen. Wichtig ist hierbei Max Webers Dreiklang aus Interessen, Ideen und Institutionen nicht aus dem Blick zu verlieren. Ohne Akteure (soziale Klassen) und ihre Handlungsbereitschaft (soziale Interessen) verfehlen wir in der Soziologie die konstruktive wie destruktive Konfliktdynamik der gesellschaftlichen Entwicklungen, die wir analysieren.
In diesem Zusammenhang darf schließlich als paradigmatisches Feld der Gesellschaftsanalyse die Erwerbsarbeit nicht fehlen. Dazu muss ich einfach noch etwas sagen!
Wichtig ist zunächst, dass das soziologische Interesse an der Arbeit in der Entwicklung der modernen Gesellschaftswissenschaften niemals nur Spartenfach war. Die Arbeitssoziologie war und ist (zumindest an bestimmten Orten) von dem starken Bewusstsein, ja von der Emphase getragen, eine Soziologie des Fortschritts und der Emanzipation sowie der politischen Neugestaltung der Gesellschaft durch Neugestaltung der Arbeit zu sein. Das gilt von den Enqueten des „Vereins für Socialpolitik“ bis zur aktuellen Debatte um „Industrie 4.0“.
Arbeitsgestaltung war und ist Gesellschaftsgestaltung – und umgekehrt. Dieser Zusammenhang kann besonders gut am Beispiel der frühen bundesrepublikanischen Industriesoziologie studiert werden. Einen wesentlichen Teil ihrer Faszination bezog die junge Arbeitssoziologie seit den 1950er Jahren aus der Formel: Wer die Gesellschaft im Sinne sozialer Demokratie gestalten möchte, wer die Gesellschaft durchlässig machen möchte, wer gesellschaftlichen Zusammenhalt herstellen möchte, der muss die betriebliche Wirklichkeit der Erwerbsarbeit verändern. Das war praktische Gesellschaftstheorie. Dafür haben sich Leute interessiert, die einen Gestaltungsanspruch an Gesellschaft hatten.
Es gab in Dortmund die Gruppe um Heinrich Popitz und Hans Paul Bahrdt, die in den 1950er Jahren in ihren Studien über „Technik und Industriearbeit“ und „Das Gesellschaftsbild des Arbeiters“ nach dem Wandel des Klassenbewusstseins und dem Einfluss der technischen Entwicklung auf die Erfahrung der industriellen Arbeitswelt fragten. Zur gleichen Zeit arbeiteten Burkart Lutz und Theo Pirker in München unter der Überschrift „Arbeiter, Management, Mitbestimmung“ zu Prozessen betrieblicher Demokratisierung. Und schließlich sind in diesem Kontext die „Betriebsklima-Untersuchungen“ unter der Leitung von Ludwig von Friedeburg aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung zu nennen.
Fragen nach Demokratie, politischer Stabilität und gesellschaftlicher Integrationsfähigkeit wurden in der arbeits- und industriesoziologischen Forschung vom Betrieb her gedacht und formuliert. Das Denken der Gesellschaft fand im industriellen (Groß-)Betrieb seinen Ausgangspunkt. Die Industriearbeiterschaft rückte auf diese Weise als zentraler Akteur gesellschaftlicher Entwicklung in den Blickpunkt neuer, moderner Sozialforschung. Die Arbeiter waren in diesem Typus der Arbeitssoziologie nicht Heroen des Klassenkampfes, sie waren lebenspraktische, kritische Subjekte, deren Arbeits- und Lebenssituation ernst genommen werden musste, wollte man an der sozialen Wirklichkeit einer demokratischen Gesellschaft bauen. Die Arbeiter, zumal die aufstiegswilligen und berufsfachlich orientierten Facharbeiter, waren in nüchterner Pragmatik die zentrale Trägergruppe der demokratischen Industriegesellschaft.
Über Arbeit zu forschen war zugleich immer auch mit reformpolitischen Verbesserungsversprechen verknüpft. Im Partikularen der Arbeit spiegelten sich die Universalien des Sozialen. Die Haltung, vom Partikularen der Arbeit auf das Universale der Gesellschaft zu schließen, setzte sich fort: Von den Arbeitsbedingungen und von dem Gesellschaftsbewußtsein der Industriearbeiterschaft in den 1950er und 1960er Jahren über die umfangreiche Diskussion der „Dienstleistungsgesellschaft“ als Zukunftsform moderner Arbeit in den 1970er Jahren bis in die 1990er Jahren in den Forschungen zur Kreativwirtschaft, die als Prototyp flexibler, mobiler und prekärer Beschäftigung vorgestellt wird.
In der Entwicklung arbeitssoziologischen Denkens, in der soziologischen Kritik der Arbeit lassen sich daher drei Perspektiven unterscheiden: Die Kritik der Arbeit als Postulat politischer Emanzipation (Interessen!); die Kritik der Arbeit als Forderung nach personaler Würde (Recht!); die Kritik der Arbeit als Suche nach neuen Wirtschafts- und Arbeitsformen (öffentliche Güter!).
Entlang dieser Blickrichtungen lassen sich über und mit einer soziologischen Diagnostik und Kritik der Erwerbsarbeit zum einen Aufstiegs- (und Abstiegs-)geschichten erzählen, die von kollektiver Mobilität und beruflicher Mobilisierung handeln; es lassen sich Individualisierungsgeschichten erzählen, in deren Mittelpunkt der Kampf um die Würde der Arbeit und um das Ethos des Berufs steht; und schließlich sehen wir Transformationsgeschichten, in denen neue Wege gesucht werden, um Wohlstand zu produzieren und zu verteilen, Rechte zu justieren und Interessen auszugleichen. In diesen Blickrichtungen liegt die Zukunft der Arbeitssoziologie als Gesellschaftsanalyse.
Sehr realistisch