»Rise like a Phoenix?« Über den Beifall für Conchita Wurst, ‚europäische Werte‘ und die These einer Prekarisierung von Heteronormativität

Erinnert sich noch jemand an Conchita Wurst? Es ist etwas mehr als drei Monate her, da erregte eine Frau mit Bart große mediale Aufmerksamkeit. Sie gewann in Kopenhagen den Eurovision Song Contest mit einer Performance, die an Shirley Basseys Goldfinger-Interpretation erinnerte.

Mit Conchita Wurst hatte sich jedoch nicht nur ein Lied durchgesetzt, sondern, wie die Wochenzeitung Die Zeit erklärt, eine »Wertvorstellung«, konkreter gesprochen, »jene der Akzeptanz eines selbstbestimmten Daseins«. Für ein solches Zeichen gegen Homophobie und für sexuelle Selbstbestimmung war Conchita Wurst angetreten. Vor diesem Hintergrund ist auch ihr Name Programm – es ist ‚Wurst’, wie mensch aussieht und wie mensch liebt.

Unserem Argument aus unseren letzten Blog-Einträgen folgend, dass mit dem Bedeutungsverlust des männlichen Alleinernährermodells auch die bürgerliche Kleinfamilie als Norm in Frage gestellt werden könnte, fragen wir uns, ob der Beifall für Conchita Wurst als Symptom einer Prekarisierung der binären Geschlechterordnung von Mann und Frau sowie von Heterosexualität als Norm gelesen werden kann. Also: Steht Conchita Wurst für eine Prekarisierung von Heteronormativität?

Zunächst muss das Phänomen Conchita Wurst im bewegungspolitischen Kontext betrachtet werden. Schließlich sind es die sexualpolitischen Bewegungen, die spätestens seit den Stonewall Riots in New York Ende der 1960er Jahre maßgeblich für die rechtliche Gleichstellung von Lebensentwürfen kämpfen, die von der Norm der Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität abweichen.

Heute mag man sich über die erreichten (rechtlichen) Erfolge und die damit gleichzeitig einhergehenden neuen Ausschlüsse streiten: Wenn auch jeweils von erheblichen Kontroversen begleitet wurde 2001 in Deutschland etwa das Lebenspartnerschaftsgesetz (LPartG) eingeführt, bis 2011 wurden drei (2005, 2008, 2011) wichtige, bundesverfassungsgerichtliche Entscheidungen zum Transsexuellengesetz getroffen, die u.a. der Intimsphäre und körperlichen Integrität von Transsexuellen größeren rechtlichen Schutz gewähren und seit 2013 besteht mit der Änderung des Personenstandsgesetzes auch die Möglichkeit des Verzicht eines Geschlechteintrags in der Geburtsurkunde bei intersexuellen Kindern.

Allerdings finden etwa gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften nur Anerkennung, wenn sie sich der Normalfamilie nähern. Auch die Nachrangigkeit der Eingetragenen Lebenspartnerschaft gegenüber der Ehe bleibt bestehen. So können die Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht zum Transsexuellengesetz zwar als revolutionär bewertet werden, weil das Gericht anerkennt, dass Geschlecht nicht von Geburt an ‚natürlich’ determiniert ist. Auch wenn es Flexibilität in die heteronormative Geschlechterordnung gebracht hat, hält das Gericht aber nach wie vor an einer zweigeschlechtlichen (Männer – Frauen) Geschlechterordnung fest. Ähnlich steht es um die neue Option im Personenstandsgesetz. Denn auch hier wird weiterhin ein binäres Geschlechtersystem forciert. Auf einen Geschlechtseintrag kann nur verzichtet werden, wenn die ‚Uneindeutigkeit’ medizinisch diagnostiziert wurde. Ein Recht bzw. die Option auf ein eigenes drittes Geschlecht wird damit nicht begründet.

Die eng mit sexualpolitischen Bewegungen verknüpfte Queer Theory hat ebenfalls einen großen Anteil daran, dass Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit als Norm infrage gestellt werden. Sie kann als zentrale Forciererin einer Prekarisierung von Heteronormativität bezeichnet werden. Das Konzept Heteronormativität geht auf den US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael Warner zurück. Es beruht auf den zwei Annahmen, dass es ein vermeintlich natürliches binäres Geschlechtersystem (Männer – Frauen) gibt und Heterosexualität die unabänderbare Grundlage gesellschaftlicher Ordnung bildet. Heterosexualität fungiert hier als zentrales Machtverhältnis, das alle wesentlichen gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche durchzieht und hierarchische Beziehungen zwischen Menschen hervorbringt und strukturiert. Heterosexualität wird also nicht nur zur Norm stilisiert, sondern auch als Praxis und Lebensweise privilegiert.

Mit der Sichtbarmachung und Diskussion von Heteronormativität ist das Anliegen verbunden, nicht-heterosexuelle Lebenslagen nicht länger als Abweichung von der Norm zu diskutieren, sondern vielmehr die Norm selbst zu hinterfragen. Es geht darum, Heterosexualität als selbstverständliche Grundlage menschlichen Zusammenlebens und damit auch das mit Heterosexualität verknüpfte Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit in Frage zustellen. Insofern ist die Diagnose antigenderistischer Positionen nicht ganz aus der Luft gegriffen, dass die Gender Studies – auch als „Verunsicherungswissenschaften“ (Degele 2003) – bisherige Gewissheiten in Frage stellen. Ihre Schlussfolgerungen sind aber deutlich abzulehnen, wenn auf die Prekarisierung von Heteronormativität etwa mit menschenverachtenden Diffamierungen nicht-heterosexueller Lebensweisen reagiert wird.

Dieses Infragestellen von Heteronormativität bedeutet aber keineswegs, dass sexuelle Orientierung und Zweigeschlechtlichkeit an Ungleichheitsrelevanz verloren hätten. Nicht zuletzt werden rechtliche und alltägliche Diskriminierungen über sozialpolitische Privilegien wie die ausschließlich heterosexuell lebenden Menschen vorbehaltenen Ehe vermittelt. Heterosexualität ist aber teilweise auf einer Ebene prekär geworden, die Pierre Bourdieu als Doxa bezeichnet hat – als unhinterfragte Selbstverständlichkeit, als Doktrin und Glaubenssatz.

Der Beifall für Conchita Wurst ist, so unser Deutungsangebot, aber nicht nur ein Beleg für die teilweise steigende Akzeptanz sexueller Vielfalt, die aus dem Brüchigwerden von Heteronormativität resultiert. Vielmehr zeigt der Fall Wurst, dass mit dem Prekärwerden der Doxa der Heteronormativität neue Räume für Aushandlungen, Deutungskämpfe und Ausschlüsse entstanden sind.

So wurde, und das nur als ein Exempel, mit Conchita Wursts Erfolg zugleich Europäischsein (neu) verhandelt – in Zeiten wachsender Euroskepsis, Europawahl, rigider Flüchtlingspolitik (siehe unser Blog-Eintrag „Prekäre Rechte“) und Ukrainekrise eine ebenfalls prekäre Identitätskategorie. Vor dem Hintergrund dieser politischen Entwicklungen bot sich die bärtige Diva als Projektionsfläche an: Wer sich positiv auf Conchita Wurst bezog, konnte seine Offenheit und Aufgeklärtheit in Szene setzen und gleichermaßen zu verstehen geben, was ‚uns’ (das aufgeklärte Westeuropa) besser macht als etwa ein Pussy Riot einsperrendes Russland, in dem, wir zitieren wieder aus Der Zeit, »Toleranz als ein gefährlicher Virus aus dem Westen gilt«.

Die US-amerikanische Geschlechterforscherin Jasbir K. Puar beschreibt die Verstrickungen von Sexualitäten und Nationalismus mit dem Begriff Homonationalism und geht damit über das auf Sexualitäten bezogene Konzept der Heteronormativität hinaus. Puar kritisierte mit Homonationalism, dass nach den Terroranschlägen vom 11. September in den USA häufig ein islamischer Glaube mit Frauenfeindlichkeit und Homophobie gleichgesetzt wurde und die Rechte von Frauen und Homosexuellen als Legitimationsstrategie des War on Terror missbraucht wurden.

In unserem Beispiel geht es demgegenüber um die Skandalisierung eines ‚falschen Europas’ – damit eben nicht nur um die Proklamation sexueller Vielfalt, sondern zugleich auch um (west-)europäische Selbstvergewisserung, die auf machtvollen Ausschlüssen basiert.

Die anhaltenden Repressionen und Menschenrechtsverletzungen gegenüber queeren Aktivist_innen durch den russischen Staat sind nach wie vor dramatisch und sollen nicht verharmlost werden. Doch auch hierzulande stehen Homophobie und Transphobie auf der Tagesordnung. Man denke etwa an die Petition „Zukunft – Verantwortung – Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“, die im Januar 2014 Baden-Württemberg 192.500 Unterstützer_innen fand.

Conchita Wurst ist explizit als Kunstfigur konstruiert worden. So sehr ihr Bart vielleicht einige Menschen provozieren mag und sie ganz explizit von Transphobie betroffen ist, so könnte man auch argumentieren, dass eben dieses Wissen, dass Conchita Wurst nach wie vor Tom Neuwirth ist und damit der Gedanke, dass auch Frauen einen Bart haben könnten, nicht zu Ende gedacht werden muss.

Wie wären die Reaktionen ausgefallen, wenn der Rückzugsort ‚Travestiekünstlerin’ nicht gegeben wäre? Schließlich bieten auch Zeitungen, die sich Conchita-positiv zeigten, regelmäßig Stimmen ein Forum, die gegen die Prekarisierung von Heteronormativität aufbegehren, wie etwa in einem Artikel des Rechtsprofessors Christian Hillgruber nachgelesen werden kann.

Wenn, wie im Fall von Conchita Wurst, also eine Frau mit Bart zu einem Symbol für ein tolerantes (West)Europa wird – aber ein Mann bleiben muss, um einen Bart tragen zu dürfen – gerät die Binarität der Geschlechterordnung zwar auf den ersten Blick, faktisch aber nicht wirklich in Gefahr. Und außer Kraft gesetzt wäre sie erst, wenn Conchita Wurst keinen besonderen Nachrichtenwert mehr hätte.

 

 

Degele, Nina (2003): „Happy together. Soziologie und Gender Studies als paradigmatische Verunsicherungswissenschaften“. In: Soziale Welt 54 (1), S. 9-30.

4 Gedanken zu „»Rise like a Phoenix?« Über den Beifall für Conchita Wurst, ‚europäische Werte‘ und die These einer Prekarisierung von Heteronormativität“

  1. Ich habe mich vor allem an der – zwar nicht direkt affirmativen, aber doch unkritischen – Erwähnung der These von Puar gestoßen. Jene ‚Theorie‘ des sog. „Homonationalismus“, aus der dann Begrifflichkeiten wie „Pinkwashing“ etc. hervorgingen, sind lediglich neue Manifestationen von Antisemitismus und Antiamerikanismus (wobei allem Israel als Staat mit einer liberalen Gesetzgebung bzgl. Homosexualität Ziel der Kritik ist). Gleichzeitig wird offenbar vergessen, dass in Staaten, die qua Verfassung etc. islamisch organisiert sind, Homosexuelle Menschen in großer Zahl hingerichtet werden.
    Von sowas soltle sich m.E. klarer distanziert werden.

  2. Degele, Nina (2003): “Happy together. Soziologie und Gender Studies als paradigmatische Verunsicherungswissenschaften”. In: Soziale Welt 54 (1), S. 9-30.

    Aus der Wissenssoziologie ist die „Paradigmatische Verunsicherungswissenschaft“ geworden!?

    Es gibt keine wissenschaftstheoretischen Grundlagen in der Soziologie und keine akzeptable Methodologie (Gerhard Wagner), aber ein neues Paradigma.

    Deutlicher kann die Entkopplung von universitärer Soziologie und gesellschaftlicher Wirklichkeit nicht demonstriert werden.

    Ausnahmen werden zur Regel hochstilisiert und Ursache und Wirkung ideologisch komfortabel vertauscht. Die aktuell handelnden Menschen schaffen die Strukturen, die vor ihnen bestanden haben. Absurder geht es nicht mehr.

    Der Begriff der Wissenschaft ist auf der Basis der medial gesteuerten Massen- und Intellektuellen -VERblödung derart inflationär aufgeblasen worden, dass rein ideologische Unternehmungen als „Wissenschaft“ und „Paradigma“ verkauft werden.

    Unerträglich!

    Soziologie ist angetreten, um soziale Normalität zu ERKLÄREN! Das kann sie heute weniger als je zuvor.

    Kein Problem!

    Die soziale Normalität zu verunsichern, heißt das neue Paradigma!

    Die gesellschaftliche Wirkung dieser ideologisch motivierten „wissenschaftlichen Verunsicherungen“ wird die Soziologie über dramatische politische Prozesse wieder auf den Boden der objektiven Realität jenseits des subjektivistischen und intersubjektivistischen Konstruktivismus zurückholen.

    Eine größere Verantwortungslosigkeit und Distanz zur objektiven Realität ist aus dem universitären Ghetto heraus unter dem Deckmantel von „Wissenschaft“ kaum vorstellbar!

  3. Oh Gott, was für ein Artikel!
    Es bedarf schon einer, um es mal positiv auszudrücken, überbordenden Phantasie, um aus einem von großen Teilen der Zuschauer bestenfalls belächelten Auftritt eines Sängers ( nicht Sängerin! ) einen derartigen pseudo-wissenschaftlichen Artikel zu Papier zu bringen.
    Auch mit einer kruden Ausdrucksweise, der beliebigen aber teilweise sinnbefreiten Aneinanderreihung von Fremdwörtern wird euer Beitrag nicht wissenschaftlich, sondern bleibt der ideologische Versuch, die Ausnahmen von der Regel Heterosexualität zur Normalität zu machen. Dies ist und bleibt aber erfolglos. Die Natur hat nunmal Menschen und Säugetiere in überwiegender Mehrheit heterosexuell geschaffen, von einigen Ausnahmen abgesehen ( Homosexualität, Transsexualität pp. ). Nur in der Heterosexualität ist Fortpflanzung möglich. Wenn anderes sinnvoll wäre, hätte die Natur es anders eingerichtet. Darauf hinzuweisen hat nichts mit Diskriminierung zu tun. Und von einer sinkenden Bedeutung der Heterosexualität kann keine Rede sein, auch wenn Teile der Soziologen dies gerne anders sähen. In dem Soziologen glauben – nicht wissen – Geschlecht sei konstruierbar, verlassen sie den Boden der Wissenschaft und machen sich gelinde gesagt lächerlich.

    1. Es ist ja nicht so, dass Normalität über Häufigkeit entschieden werden könnte. Sonst wäre auch eine deutsche Bundeskanzlerin unnormal oder Juden. Oder andersherum aufgezogen: Wenn das ginge, wäre auch eine Bienenkönigin gegenüber den Drohnen im Bienenstaat unnormal. Völlig absurd also Normalität mit Häufigkeiten gleichzusetzen. Dinge in der Natur wie die Häufigkeitsverteilung von Geschlechtern oder Sexualitäten sind in erster Linie erst einmal ‚da‘. Und wenn sie da sind, hat das meist auch einen guten Grund.
      Normalität aber ist eine Frage gesellschaftlicher Auseinandersetzung: also ein Produkt von Meinungsbildung, von Werte- und Normenaushandlung. Etwas als „normal“ zu bezeichnen, ist also Ausdruck einer Haltung der Gesellschaft gegenüber etwas. Das sagt weder etwas über dessen Häufigkeit, noch etwas über dessen natürlicher Funktionalität aus, sondern über Akzeptanz und Respekt gegenüber ‚X‘.
      Mithin sagen die Autorinnen des Eintrags nichts über eine sinkende biologische Funktionalität von Heterosexualität, sondern ausschließlich etwas darüber, dass Heterosexualität und eine binäre Geschlechterordnung als Mittel der Diskriminierung von abweichenden Minderheiten – glücklicherweise – abgenommen haben (zumindest in der sog. westlichen Welt).

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