Aus dem Leben der Sozialingenieure

Ich habe mit Alva und Gunnar Myrdal zwei exemplarische Sozialingenieure untersucht. Die beiden zählten seit den frühen 1930er Jahren zur intellektuellen und politischen Elite erst Schwedens, dann der gesamten Welt (in Form der United Nations). Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie beide derart weit aufgestiegen, dass sie sich die Chefposten bei der UN aussuchen konnten, wenn sie einmal mehr ihre Residenz wechseln wollten. Alva Myrdal bekam den Friedensnobelpreis, ihr Mann den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Sie haben einen irrwitzig umfangreichen Nachlass hinterlassen, weil Gunnar gesagt haben soll, dass dereinst junge Wissenschaftler sehen sollten, wie zwei große Menschen gedacht haben. Offenbar ist alles, was nicht verloren gegangen ist, im Archiv gelandet, darunter ein Konvolut mit etwa 8000 höchst privaten Briefen, die die beiden sich im Laufe ihres Lebens schrieben, weil es sie durch ihre professionelle Arbeit immer wieder an unterschiedliche Orte verschlug. Man kann wirklich nachvollziehen, wie zwei Giganten der Sozialpolitik dachten — nur anders als sie es sich vorgestellt haben. Das ist die Grundlage, um etwas noch Faszinierenderes zu beobachten: wie die beiden ihre Ehe zum Projekt gemacht haben, als Blaupause einer umfassenden Gesellschaftsreform.

Schweden versuchte Zygmunt Baumans „Ambivalenz der Moderne“ mit friedlichen Mitteln in den Griff zu bekommen, und es war eines der wenigen Länder, in dem die Sozialdemokratie seit 1932 erfolgreich die Regierung stellte. Ihr großes Projekt war das „Volksheim“, der Traum der Gesellschaft als eines recht und gerecht geordneten Heims für Jedermann. Und an diesem Projekt beteiligten sich auch zahlreiche Vertreter der (recht überschaubaren) schwedischen Elite: Architekten, Ärzte, Ökonomen, Sozialwissenschaftler usw. In dieser Elite nahmen die Myrdals seit 1930 eine führende Rolle ein — das Volksheim aber war eine radikaldemokratisch imaginierte Gemeinschaft im Sinne Ferdinand Tönnies’.

Wie in Deutschland wurde unter dem Begriff „Gesellschaft“ etwas Zersetzendes gedacht (abgesehen von der Tatsache, dass der Begriff „Gesellschaft“ [samhälle] in Schweden vollkommen unscharf ist und den Staat, die Gesellschaft sowie Kommunen und Städte in ein Großen Ganzes zusammenrührt). Doch wie stellt man mit den Mitteln der Demokratie Gemeinschaft her? Eine Voraussetzung, die Schweden von Deutschland unterschied, war die seit dem 19. Jahrhundert eingeübte Konsenskultur, die mit einem ausgeprägten kollektivistischen Bewusstsein einherging. In einem Satz lässt sich das riesige Ausmaß des Unterschieds zu Deutschland gar nicht beschreiben, das muss man in situ erlebt (oder zumindest Åke Dauns „Swedish Mentality“ gelesen) haben. Jedenfalls hat deshalb die schwedische Demokratie alle Belastungen des „Age of Extremes“ überstanden. Minderheitsregierungen sind seit jeher normal und funktionieren effizient. In Deutschland wird — verständlicherweise — die Ambivalenz der Moderne gerne von den politischen Extremen her gedacht. Von Schweden her kann man die Moderne ganz anders beobachten — schade nur, dass die deutsche Forschung zumeist auf den Gegensatz zwischen (anglo-amerikanischen) Demokratien und dem (deutsch-sowjetischen) Totalitarismus fixiert ist.

Die Myrdals wuchsen in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in einer nach wie vor traditionalen Geschlechterordnung auf, die sich freilich, langsam, wandelte. Ihre Ehe stellte von Beginn bis Ende ein Aushandeln der Geschlechterverhältnisse dar. Gunnar Myrdal wollte eine intelligente Frau an seiner Seite und förderte ihre Karriere im Großen und Ganzen. Aber es war für beide klar, dass seine Karriere Vorrang hatte. Alva setzte ihn, der Anfangs immer wieder an seinen Fähigkeiten zweifelte, mit einem Kontrakt unter Druck: Sie würde sich unterwerfen, solange er sich in Richtung Genialität voran arbeitete. Das scheiterte letztlich, weil Alva schon früh ahnte, dass sie ebenfalls zu einer herausragenden Karriere in der Lage war. Weil sie gleichzeitig an einer traditionellen Mutterrolle festhielt, ging die erst 1949 (nach herkömmlichem Verständnis) richtig los, nachdem sie endlich das dritte (!) Angebot des UN-Generalsekretärs auf einen Chefposten annahm.

Auf die zahlreichen Konflikte der Ehe kann ich hier nicht eingehen, sie sind, typisch, vor allem in den Briefen Alvas reflektiert. Die Verwerfungen ihrer und anderer Ehen überwinden wollten die Myrdals in einer grundlegenden Reform der Gesellschaft. Ganz knapp gesagt: Würde die Ehefrau von der Hausarbeit und Kindererziehung entlastet, würden beide Ehepartner sich die Hausarbeit teilen, und würden die Kinder in Kollektivkinderkrippen erzogen werden, würden die emotionalen Belastungen in den Ehen sinken, es würden mehr Kinder geboren werden und die Qualität des „Volksmaterials“ würde steigen. Die Kinder würden nicht zu „krankhaftem“ Individualismus erzogen, sondern zu Menschen, die sich freiwillig in die Gemeinschaft des Volksheims einfügen würden.

Die Mittel: Finanzielle Umverteilung, Planwirtschaft, Herstellung von Standardprodukten (billig, aber haltbar), Geschmackserziehung, kollektives Wohnen, kollektive Erziehung von Kindern, möglichst weitgehende Entfernung der Kinder von ihren „irrational“ erziehenden Eltern, Eliminierung sozialer Unterschiede durch die Eliminierung von Statusmerkmalen, behördliche Kontrollen der Lebensführung der Menschen usw. usf. Erinnert das an eine Mischung aus NS und DDR? Vielleicht. Aber es klingt in dieser Kürze natürlich besonders kurios und bizarr. Das ist dem Medium blog geschuldet. Tatsächlich sind die Myrdals immer Demokraten geblieben. Und in anderen Ländern gab es ähnliche Utopien eines demokratischen Sozialismus unter sozialdemokratischer Führung. Und was noch wichtiger ist: Keiner dieser Experten, für die die Myrdals exemplarisch sind, hat in starren Plänen gedacht. Die permanente Anpassung an die sich verändernde Realität war vielmehr ihr Credo. Ideologien waren in ihren Augen schädliche „Metaphysik“. Sie schworen auf einen lupenreinen Utilitarismus — denn den kannten sie aus der, erfolgreichen, schwedischen Gesellschaftspolitik.

Was das für eine Gesellschaft geworden wäre, die den Myrdals vorschwebte? Eine demokratische, harmonische Gemeinschaft der Gleichen, in der sich jede(r) freiwillig zum Rädchen einer vergesellschafteten kapitalistischen Produktionsordnung machte, eine Art permanenter Allparteienregierung aller gesellschaftlich relevanten sozialen Gruppen, die Interessengegensätze im Konsens lösten. Die DDR hat davon auch geträumt, war aber zu feige. Denn letztlich gehört zu dieser expertokratischen Utopie Mut: Man muss den Menschen Freiheit lassen und darauf vertrauen, dass sie sich, unter Anleitung der Experten, schon selbst erziehen werden, „vernünftig“ zu leben. Und wenn sich die Lebensweisen einer Mehrheit verändern, haben die Experten zu folgen. Nur die Ziele „Gemeinschaft“ und „Vernunft“ dürfen sie nicht aufgeben. Möchte man da leben? War das eine erstrebenswerte Alternative zum „Dritten Reich“ und der DDR?

Die Friktionen ihrer Ehe hätten die Myrdals in dieser Gesellschaft jedenfalls aufgehoben.

Eine Anekdote. Als ich zu einem längeren Forschungsaufenthalt in Schweden war, habe ich regelmäßig die Tageszeitung gelesen. Es war so mühsam. Jede(r) vertrat „seine“ Interessen immer nur zum Wohle der Gemeinschaft, in jeden Artikel wurde über jede „Auseinandersetzung“ die süßliche Soße der Harmonie verteilt. Als ich dann eine Nummer der „Süddeutschen Zeitung“ kaufte, da wurde von einem Konflikt innerhalb der CSU berichtet, und es war ein Konflikt, und die Gegner wollten unverhohlen die Macht, weil sie meinten, es besser zu machen als die andere Seite. Punkt. Es war eine Art mentaler Heimkehr. Da habe ich den Unterschied gemerkt. Aber Schweden bleibt „das Andere“, das eben auch möglich ist, weil es funktioniert, weil es vermieden hat, was wir uns geleistet haben, weil sie keine Angst vor Minderheitenregierungen haben, weil Geschmackserziehung tatsächlich zu einer schöneren Umwelt geführt hat, weil …

3 Gedanken zu „Aus dem Leben der Sozialingenieure“

  1. Lieber Herr Etzemüller,
    vielen Dank für den gut geschriebenen und unterhaltsamen Artikel.
    Es ist unglaublich spannend, zu sehen, welche Auswirkungen die Ideengeschichte auf die Gestaltung der konkreten politischen Ordnung hat. Konnte sich wegen der Sozialingenieure Myrdals der skandinavischen Wohlfahrtstaat erst so spezifisch ausprägen?
    Führte bei uns der deutsche Idealismus in der Tradition der Hegel’schen Idee des vernünftigen Krieges erst zum Ausbruch der zwei Weltkriege?
    Wenn DenkerInnen Einfluss auf die politische Ordnung haben, so freue ich mich, dass wir doch beim „social peace meal engeneering“ von Popper angelangt sind und uns nicht mehr in deutschradikale Ideologien verrennen.

    Liebe Grüße
    Valerie Lux

    theorieleben.wordpress.com

    1. Liebe Valerie Lux,

      man sollte die Ideengeschichte und große Akteure nicht überschätzen. Der Sozialstaat in Schweden beispielsweise speist sich aus ganz unterschiedlichen Quellen und Traditionen und ist tief in den Volksbewehgungen des 19. Jahrhunderts und einer spezifischen schwedischen Mentalität, Geschichte und Gesellschaftsstruktur verankert. Es heisst zwar immer, dass die utilitaristische Philosophie Axel Hägerströms so wichtig in Schweden sei, aber die Bedeutung konnte sie natürlich nur erlangen, weil die Schweden ohnehin empfänglich für utilitaristisches Denken waren.
      Man kann Ihre letzte Bemerkung übrigens auch umkehren: peace meal engineering kann viel besser Machtkonstellationen (im Foucault’schen Sinne) vernebeln als klare Ideologie. Von daher scheint mir das keine ganz ungetrübte Alternative zu sein – obwohl auch ich diese Haltung natürlich vorziehe. Man muss den Poppers und Myrdals aber auf die Finger schauen.

      Viele Grüße!
      TE

      1. Um den Blick auf das Thema „Sozialingenieure“ etwas zu erweitern, nachfolgend ein Beitrag aus meinem Blog „Die Soziologie des Unbewussten“:

        „Die Sozialingenieure sind schon unter uns!

        oder

        Die Vision einer aggressionsfreien Gesellschaft

        Die Soziologen haben aus emotional-ideologischen Gründen die Erforschung sozialer GESETZmäßigkeiten von jeher abgelehnt. Die Gefahr, mit diesen Erkenntnissen die Gesellschaft zu
        manipulieren, erschien zu groß.

        Wissenschaftlich damit beschäftigt haben sich die Psychologen, insbesondere Behavioristen (Konditionierung/positive Verstärkung) wie Skinner. Sie hatten durchschlagenden wissenschaftlichen Erfolg z.B. auf die Anwendung bezogen in der Lerntheorie und in der Verhaltenstherapie.

        Skinner hat sich immer auch für die gesellschaftlichen Dimensionen seines Themas interessiert, vor allen Dingen in seinem Roman „Walden Two“.

        Eine bemerkenswerte Stelle aus dem Roman, den er das erste Mal 1948 veröffentlichte, sollte nachdenklich machen:

        Frazier, der Initiator des Projekts „Walden Two“ zum Thema „Freiheit“:

        „Nun, wo wir wissen, wie positive Verstärkung funktioniert und warum die negative Verstärkung nicht funktioniert, können wir zielbewußter und daher auch nachhaltiger in unserem Kultur-Plan vorgehen. Wir können einen Art Aufsicht ausüben, unter der die Beaufsichtigten sich frei fühlen, obgleich sie einem Kodex gehorchen, der viel genauer ist, als es je zuvor in dem alten System der Fall war. Dennoch fühlen sie sich frei. Sie tun, was sie zu tun wünschen, nicht, was ihnen zu tun auferlegt wird. Das ist die Wurzel der ungeheuren Kraft, die in der positiven Verstärkung liegt-hier gibt es kein Sträuben und keine Revolte. Durch einen sorgsam ausgearbeitete Kulturaufsicht überwachen und lenken wir nicht das definitive Verhalten, sondern die Voraussetzungen dazu-die Motive, Wünsche, Neigungen.“

        (Skinner, B.F. 1983: Futurum Zwei >Walden Two< Die Vision einer aggressionsfreien Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg:Rowohlt, S. 237)

        Erstaunlich Parallelen zur heutigen REALITÄT, oder? In einem Roman dargestellt im Rahmen des Behaviorismus 1948!

        Bei dem Ansatz Skinners geht es in Anlehnung an Pawlow um die Manipulation des UNBEWUSSTEN, instinkthaften Verhaltens durch Konditionierung und positive Verstärkung.

        Warum dieser Ansatz SOZIOLOGISCH in dieser Form gescheitert ist, liegt daran, dass er nur eine Hälfte des symbolischen Tiers „Mensch“ beleuchtet, nämlich die individuell-animalische und ihre PSYCHOLOGISCHEN Wirkungen.

        Beim Begriff „Kultur“, der im Roman immer wieder auftaucht, geht es um die andere Seite des symbolischen Tiers „Mensch“ , nämlich den Bereich, den einige Ausnahme-Menschen und/oder die Evolution (Sprache) kulturell erschaffen und der dann sozusagen von OBEN her das Verhalten der Masse/Mehrheit durch Bilder/Symbole/emotionale Schlagwörter etc. steuert.

        In meiner „Soziologie des Unbewussten“ taucht dieser Aspekt in Anlehnung an Skinner unter dem Begriff „Struktur-Behaviorimus“ auf.

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