Es gibt noch einen Unterschied zwischen Soziologen und Historikern, jedenfalls bei denen, die sich in einem Interesse für Theorie treffen. Erstere denken von der Theorie her, Letztere von der Empirie. Meine Stichprobe, gebe ich zu, ist klein. Auf der einen Seite ein Oldenburger (Sport-)Soziologe und dessen intellektuelles Netzwerk, auf der anderen Seite ich und meines. Wir beide diskutieren gut miteinander. Er praktiziert ein permanentes „re-reading“ von Theorien, hat Details parat, beobachtet präzise Verschiebungen in der Theoriearbeit einzelner Autoren und präsentiert empirische Befunde in der Sprache dieser Theorien. Wenn es in einer Theorie ein Loch gibt, stopft er es mit Elementen einer anderen; in langen Durchläufen unterschiedlichster Texte werden immer neue Architekturen errichtet, die dann — über die intellektuelle Anregung hinaus — ganz materielle Effekte zeitigen können, etwa ein erfolgreich beantragtes Graduiertenkolleg.
Ich lese Theorien im Hinblick darauf, was sie mir empirisch bringen. Es ist das Material, gedruckte und ungedruckte Quellen, dass ich in Archiven und Bibliotheken tonnenweise siele und auf bestimmte Fragestellungen hin durchsuche, zu denen mich Theorien und Alltagsbeobachtungen anregen. Ich will wissen, wie es funktioniert (hat). Ohne Theorie geht das nicht. Aber ich muss nicht jeden theoretischen Entwurf zur Kenntnis nehmen, muss nicht die Theoriegeschichte präsent haben oder die elaborierte Diskussion, welche Theorien zueinander anschlussfähig sind oder nicht. Als Historiker darf ich eklektisch vorgehen. Jede Theorie oder Theoriekombination, die mich im Material etwas sehen lässt, das mich weiterbringt, die neue Fragen und Antworten eröffnet, ist legitim, kreative Missverständnisse und orthodoxe Lesarten eingeschlossen. Bourdieu, Fleck und Foucault durch die Brille Luhmanns gelesen, Weingart, Knorr-Cetina und Krohn/Küppers beigemengt, und schon hat man eine wissenschaftssoziologische Beschreibung wie — beispielsweise — die Geschichtswissenschaft Erkenntnis produziert.
In Berufungskommissionen befremdet Historiker das oft. Als Gutachter deutlich seltener. Trotzdem ist ihr Verhältnis zur Theorie gespannt. Es gibt immer noch stumpfe Positivisten, die sich als reine Über-Setzer begreifen: was sie in den Quellen lesen, übertragen sie ungebrochen in den wissenschaftlichen Text. Theorien erachten sie für überflüssig, weil ja „die methodisch reflektierte Anwendung des ‚gesunde Menschenverstandes‘“ (R. Graf) ausreiche. Die Regel sind diejenigen, die mit Hilfe einer oder zweier seit Jahrzehnten erprobter Theorien kluge, differenzierte und die Quellen reflektiert dekonstruierende empirische Studien hinbekommen. Trotzdem: Mein Kollege darf ungestraft mit 30 Theorien jonglieren, bei mir kam schon die Frage, warum’s denn drei sein müssten (es waren sechs oder so), täten’s nicht auch zwei. Theorien sind für Historiker eher ein sekundäres, im schlimmsten Fall ein rein opportunistisches Instrument: Da wird dann vom „Feld“ oder vom „Diskurs“ schwadroniert oder gar die „Diskursbiographie“ erfunden, dann aber werden ganz konventionell Institutionen beschrieben, Diskussionen referiert und Biographien erzählt. Auch in den klugen Arbeiten zählt vor allem zu rekonstruieren, wie etwas geworden oder gewesen ist, wie sich Adenauers Außenpolitik entwickelt hat, wie die ideologische Basis der NSDAP entstanden ist, welchen Einfluss Fritz J. Raddatz tatsächlich auf das westdeutsche Feuilleton hatte.
Es gibt einen interessanten Sammelband, in dem jüngere Historiker ihre unterschiedlichen Zugänge zu Theorien beschreiben. Dazu hat Per Leo einen wunderbaren Aufsatz beigesteuert, einen dezidiert nichtwissenschaftlichen Text. Er erinnert sich an seinen Werdegang, wie er als Student bei seinen ersten Begegnungen mit theoretisch informierten Historikern nichts verstand, bald mit großspuriger Geste Fallbeschreibungen konstruierte, die den Vorteil hatten, die Welt zu erklären, ohne die jeweilige, respekterheischende Theorie durch allzuviel empirisches Material auf die Probe zu stellen, bis bei seiner Magisterarbeit diese Methode nicht mehr griff, weil sich die Quellen durch ihre schiere Menge der Instrumentalisierung erwehrten. Die wundersamste Erfahrung war jedoch die, dass sich in diesem Material trotzdem Muster abzuzeichnen begannen, die anderen Historikern entgangen waren, ganz einfach deshalb, weil Leo, durch seine Theoriearbeit geschult, die Quellen unbewusst auf eine neue Weise zu lesen begann.
Er beschreibt den Theoriegebrauch als tacit knowledge, und diese Form der Theorieanwendung muss man tatsächlich erfahren haben. Leo macht deutlich, wie sehr die Theorieanwendung eine Lebenshaltung ist, bei der es auch auf den „Sound“ einer Theorie ankommt. Das entbindet nicht von präziser Theorielektüre, sauberer Argumentation sowie aufwendiger empirischen Arbeit, sonst, das zeigt Leo so gut, produziert man schlechte Historiographie. Doch im Grunde ist die Theorieanwendung eine „Kunstfertigkeit“. Man muss sie können wollen, sonst kann man sie nicht lernen. So ist es!
Soziologen haben — aus meiner Sicht — den Vorteil, dass sie sich in Korrespondenz mit ihren Theorien das empirische Material ihrer Untersuchungen durch quantitative und qualitative Verfahren zumeist selbst schaffen können. Das Material lässt sich deshalb in der Theoriesprache beschreiben. Historiker haben es mit Überlieferungen zu tun, die sie nicht mehr kontrollieren können. Die Vielschichtigkeit und Lückenhaftigkeit des Materials sperren sich gegen die Theoriesprache, dass habe ich in meiner wissenschaftshistorisch-/soziologischen Dissertation erfahren. Historiker müssen deshalb eine Beschreibungssprache verwenden, die die in den Quellen gefasste historische Kontingenz und Individualität an die Generalisierung der Theorien annähert, so dass in den zahllosen Einmaligkeiten theoretisierbare Muster sichtbar werden.
Das Schöne ist nun: Man kann miteinander reden. In der Analyse der Welt treffe ich mich mit meinem Kollegen immer wieder. Wir kommen von zwei Seiten und lernen voneinander. Und das nennt man wie?
Literaturhinweise:
Etzemüller, Thomas: „Ich sehe das, was Du nicht siehst“. Zu den theoretischen Grundlagen geschichtswissenschaftlicher Arbeit, in: Eckel, Jan/Etzemüller, Thomas (Hg.): Neue Ansätze der Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, S. 27-68
Leo, Per: Zehn Jahre theorieabhängig. Ein Erfahrungsbericht, in: Hacke, Jens/Pohlig, Matthias (Hg.): Theorie in der Geschichtswissenschaft. Einblicke in die Praxis des historischen Forschens, Frankfurt/Main, New York 2008, S. 199-217