Zu komplex!

Ich hatte in meinem ersten Beitrag „mehr Soziologie“ gefordert, ein Kommentar auf Twitter dazu lautete: „Mehr Soziologie wagen!“ – so schön hätte ich es auch gerne ausgedrückt. An dem Fall Edathy hatte ich zu zeigen versucht, dass die Soziologie zur gesellschaftlichen Abklärung beitragen kann. Und sie sollte es auch tun!

Aus den Kommentaren habe ich die Hinweise entnommen, dass die Soziologie sich erstens auch um ihr wissenschaftstheoretisches Fundament bemühen sollte. Mein Eindruck ist, dass das geschieht und dass dies aber nichts ist, was als PR-Maßnahme besonders geeignet ist. Kurz: Das sind öffentlich schwierig vermittelbare wissenschaftliche Diskurse, die man auch besser zunächst in der Wissenschaft belässt.

Ein zweiter Hinweis ist, dass die Soziologie sich sachkundig machen muss, wenn sie über etwas spricht. Sofern sie dabei mit anderen Disziplinen zusammenarbeiten kann, müssen sich die beteiligten Soziologen selbstverständlich nicht, um bei dem von den Kommentatoren diskutierten Beispiel zu bleiben, ebenfalls zu einem Technikexperten machen. Hier darf man durchaus auf Arbeitsteilung setzen, die Vorteile der Arbeitsteilung sind schließlich die Kehrseite der Polyoptik.

Ich möchte nun behaupten, dass die Soziologie allerdings manchmal zu wenig über diesen Tellerrand schaut und sich interdisziplinär aufklären lässt. „Manchmal“ bedeutet: Die Soziologie nutzt die Erkenntnisse anderer Disziplinen durchaus produktiv. So hat die Soziologische Theorie immer schon andere Disziplinen zur Theorieentwicklung herangezogen, sei es das Modell des Homo Oeconomicus, sei es die Kybernetik, die Zellbiologie usw. Diese Transfers werden innerhalb der Soziologie wiederum kritisch begutachtet – gut so.

Manchmal werden allerdings Begriffe unterspezifiziert verwendet und sorglos übernommen. Auch dies könnte ein Grund sein, weshalb die Soziologie aktuell in der Öffentlichkeit auf erstaunlich wenig wohlwollende Resonanz trifft, denn ein Begriff wie „Komplexität“ erklärt für sich zunächst einmal sehr wenig. Um diesen Begriff soll es hier exemplarisch gehen.

In der Soziologie ist es durchaus üblich, Komplexität als Startpunkt der Erforschung gesellschaftlicher Phänomene zu markieren. Komplexität ist z.B. die Problemausgangslage, die nicht nur Luhmann zur Entwicklung seiner Systemtheorie, sondern das gesamte systemische Denken motivierte. Der soziologische Anschluss an Elemente der Komplexitätsforschung wundert auch gar nicht, da die Komplexitätsforschung dem eigenen Anspruch nach auf die Erklärung der Entstehung, Stabilisierung und Wandel komplexer Ordnungen ausgerichtet ist – und nichts anderes möchte die Soziologie ebenfalls erklären, mit dem Zusatz, dass es um soziale Ordnungen geht.

Wenn man nun aber von Komplexität spricht, dann muss man auch ausführen, worum es geht. Dirk Helbing etwa unterscheidet strukturelle, dynamische, funktionale und algorithmische Komplexität. Ich picke mal die dynamische Komplexität raus, bei der sich ein System durch nicht-periodische Wandlungen, deterministisches Chaos und pfadabhängiges Verhalten auszeichnet und die Elemente des Systems sich gerne auch mal wechselseitig aneinander anpassend fortentwickeln. Und dann kann es im Ergebnis zu der allseits bekannten „Sensibilität gegenüber den Anfangsbedingungen“ und dem „Schmetterlingseffekt“ kommen: kleines Ereignis, große Wirkung.

Es genügt also nicht, einfach auf eine mögliche Komplexität im Sinne eines „Das ist komplex“ hinzuweisen, sondern man muss im Einzelfall zumindest versuchen zu zeigen, dass jene Strukturen und Elemente auch vorliegen, die komplexes Systemverhalten überhaupt erlauben. Ich vermute, dass die Soziologie zwar kaum eine Chance hat, sich an formalen Nachweisen bestimmter Strukturen zu beteiligen, aber dennoch hilfreich ist in der Beschreibung der empirisch jeweils vorliegenden Struktur. Zu dem ersten Blog-Beitrag wurde in den Kommentaren ja mit Hinblick auf neue technologische Möglichkeiten z.B. angedeutet, dass für „Atomkraftwerke“ eben nicht zwingend gelten müsste, was Charles Perrow einst als Fazit formulierte: „Selbst das Auswechseln von Glühbirnen bringt bei diesen hoch entwickelten, komplexen Systemen [gemeint sind Kernkraftwerke, T.K.] Gefahren mit sich.“ Ganz im Sinne der genannten Arbeitsteilung unterstellt, dass es richtig ist und viel bessere Techniken vorliegen, könnte die Soziologie an dieser Stelle ergänzend darauf hinweisen, dass die Entwicklung wie die Anwendung von Technik immer sozial eingebettet ist und solche Dinge wie politische Entscheidungsfindung, Legitimität, Gedächtnis, Antizipation, Erwartungen, Kommunikation, individuelle Intentionen, Kultur, Interpretationen, Strategien, Emotionen etc. mitwirken – eventuell zu einem Grade, mit dem auch die sicherste Technik ausgehebelt wird. Es könnten diese Elemente sein, die in ihrer Wechselwirkung ein System „komplex“ werden lassen, so dass z.B. eine kleine politische Entscheidung letztlich dann doch zu einem Unfall führt.

In einem: Wenn die Soziologie von „Komplexität“ spricht, muss sie genauer werden und sagen, welche Komplexität sie meint. Wenn sie das Vorliegen von Komplexität behauptet, muss sie sich daran beteiligen zu zeigen, dass dies der Fall ist. Ansonsten verwendet sie nur inflationär ein Schlagwort, um Zustände zu beschreiben, die gefühlt sowieso alle kennen. Soziologen konkurrieren dann in der Beschreibung der komplexen Gegenwart mit Journalisten oder Schriftstellern – und da sehen sie vermutlich oft genug im Vergleich eher schlecht aus.

Ein letztes Wort in eigener Sache: Ich bin bereit, alles zu diskutieren und auf alles zu reagieren. Es ist ja eine wunderbare Chance für mich, produktiv irritiert zu werden. Zudem gehe ich hier bewusst das Risiko ein, ungeschützt und dennoch ein bisschen provokativ zu versuchen, Diskussionen in Gang zu setzen. Allerdings wird kein Kommentar mehr von mir seit heute zugelassen, der nicht in der Lage ist, den etwa bei soziologischen Fachtagungen oder auch sonst üblichen Umgangston zu respektieren und anzunehmen. Bewertungen von Personen etwa sollen hier keine Rolle spielen. Der Grund für diese Maßnahmen ist weniger, dass ich mich persönlich besonders betroffen fühlen würde, als dass diese Art des Kommentierens verhindert, dass sich noch weitere Personen beteiligen.

19 Gedanken zu „Zu komplex!“

  1. Lieber Thomas,

    Deine Schlussbemerkung hat mich erstmal veranlasst, die Kommentare zu Deinem letzten Blog-Beitrag zu überfliegen. Will gar nicht mutmaßen, wie viel Zeit Du da letzte Woche reingesteckt hast! Aber bei Deinem Thema war es nachgerade geboten, alle Reaktionen gebührend aufzunehmen. Und richtig langweilig wird es ja erst, wenn es zu einem „Hab-ich-gesagt; hab ich nicht-gesagt“. Trotzdem gewinne ich mehr und mehr den Eindruck, dass die one-to-many-Kommunikation des Bloggens und die one-to-one-unter-Mitlesen-der-many-Kommentierung nicht besonders harmonieren.

    Gerade von einem EU-Robotics-Forum zurückkommend, bin ich an Deiner Idee der interdisziplinären Arbeitsteilung hängen geblieben: ohne meinen riesigen Sack Unwissen in Abrede stellen zu wollen (und gleich morgen werde ich überprüfen, welche Begriffe ich dort naiv entwende), beeindruckt mich doch immer wieder, wie ungeniert dort soziologische Grundbegriffe wie Interaktion, Kommunikation, soziale Beziehung etc. ohne Tiefenschärfe verwendet werden. Pragmatisch im Hinblick auf Arbeitsteilung tendieren manche Kollegen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften dazu, unsere (manchmal vielleicht tatsächlich überkomplizierten, häufig aber eben auch nuancierten) Konzepte zugunsten der dort gebräuchlichen hintanzustellen. Die Zusammenarbeit gelingt dann in der Tat viel besser. Aber interessant ist sie dann – jedenfalls soziologisch – in aller Regel nicht mehr.

    Herzlich aus Wien – Michaela

    1. Liebe Michaela,

      ich kann Deine Eindrücke aus eigener Erfahrung bestätigen, wobei ich es nicht schlimm finde, wenn nicht nur die „nahen“ (Geistes-/Sozialwissenschaften), sondern erst recht die „fernen“ Disziplinen (Natur-/Technikwissenschaften) soziologische Begriffe völlig unterspezifiziert verwenden. Dazu muss man eben miteinander sprechen, eine gemeinsame Sprache finden (was gar nicht so einfach ist) etc. Wie im richtigen Leben braucht es dazu den Willen beider Parteien.

      Ein Problem ist vermutlich, dass Techniker etc. eher meinen, man wüsste etwas über Gesellschaft zu sagen, weil man sich ja als Teil davon sieht, als man sich als Soziologe etwa über Algorithmen oder über Kernkraft äußern mag. Da hilft: freundliche Geduld :)

      Wie auch immer: Wenn beide Seiten sich bemühen, kann es sehr fruchtbar werden. Entspricht ebenfalls meiner Erfahrung!

      Grüße nach Wien!

  2. Lieber Thomas Kron,

    „zu komplex“ ist wahrlich ein treffender Titel, für das, was man als Ergebnis der Diskussion zum ersten Blog-Beitrag festhalten kann. Ich glaube, es gibt noch einen weiteren Aspekt, den man aus diesen Kommentaren (und auch aus denen zu anderen Bloggern) ablesen kann, der als wissenschaftstheoretische Kritik daher kam . Das Problem scheint mir dort nicht die Komplexität, sondern auch deren Darstellung. Für viele soziologisch nicht geschulte Beobachter sind „die Regeln der soziologischen Methode“ oder etwas allgemeiner, das soziologische Vorgehen, unklar. Selbst bei Soziologie-Studierenden lässt sich ja in den frühen Semestern beobachten, dass diese Mutmaßen, das Entwickeln soziologischer Argumente gerade im Bereich der Soziologischen Theorie beruhe weniger auf Methoden und robusten Verfahren, als auf ‚educated guessing‘. Möglicherweise ist es also doch notwendig, die zu Grunde liegenden wissenschaftstheoretischen Annahmen und das Vorgehen bei der Theorie-Entwicklung (und der vorhergehenden Beobachtung von Sachverhalten) zumindest in Grundzüge so zu skizzieren, dass auch Nicht-Soziologen ein Idee davon erhalten. Als These formuliert: die gesellschaftliche Relevanz von Soziologie hängt nicht so sehr von ihren Antworten auf gesellschaftliche Fragen ab, sondern vielmehr davon, dass sie ihre Arbeit und ihr Vorgehen plausibel und nachvollziehbar machen kann.
    Ein zweiter Gedanke, den ich hatte, als ich den Kommentar von Michaela Pfadenhauer las: Wenn wir beobachten können, dass soziologische Grundbegriffe in anderen Disziplinen „ohne Tiefenschärfe“ genutzt werden und wir uns selbst auch fragen, ob die Soziologie weit genug „über den Tellerrand hinausblickt“ (und fachfremde Begriffe hinreichend sensibel nutzt), dann könnte dieser Blog eine Plattform sein, noch mehr als bisher den Blick von außen in die Soziologie zuzulassen. Die Beiträge von Thomas Erzmüller waren ja bereits sehr inspirierend, vielleicht muss demnächst mal ein fachfremder Blogger her, der nicht bloß fachfremd (wie ein Historiker) ist, sondern sogar aus einer anderen wissenschaftliche Tradition, z.B. eben den Natur- oder Technikwissenschaften, kommt.

    Beste Grüße
    Pascal Geißler

    1. Hallo Herr Geißler,
      ich beginne mit Ihrem zweiten Gedanken: diesen finde ich als Vorschlag großartig! Ich gebe das an die DGS weiter und würde mich freuen, wenn man das machen würde. Ich hätte zumindest schon eine Idee, wen man anfragen könnte.

      Zu Ihrem ersten Punkt: Ich bin da skeptischer. Zum einen aus dem genannten Grund, dass eine Darstellung der verschiedenen Regeln der soziologischen Vorgehensweisen die Öffentlichkeit nur in dem bestätigen würde, was sowieso als Vorurteil kolportiert wird: Dass das alles nur abgehobenes Gelaber sei. Denn diese Diskussionen sind: zu komplex (besser: kompliziert).
      Zudem müssten wir dann auch eine Menge Uneinigkeit nach außen transportieren, denn gerade in den Diskussionen um die Grundlagen kann man manchmal den Eindruck gewinnen, dass das bessere Argument nicht den Ausschlag gibt. Ich komme im nächsten Beitrag darauf zurück, dass auch die Soziologie quasi-religiöse Ansichten vertritt.
      Bevor man dies also versucht, würde ich Ergebnisse präsentieren, die zeigen: Hier hat die Soziologie etwas erkannt, was andere Disziplinen nicht gesehen haben und was „der Gesellschaft“ hilft. Selbstverständlich versuche ich das dann abschließend hier noch – später.

    2. Lieber Herr Geissler, lieber Thomas,

      die These, die gesellschaftliche Relevanz ‚der’ Soziologie hängt viel mehr von der Nachvollziehbarkeit ihrer Methoden und Beobachtungsweisen als von ihrem konkreten Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Probleme ab, scheint mir etwas verzwickter zu sein, als es hier angedeutet ist.

      Zum einen kann es einen, aber vermutlich auch nur innerhalb der Soziologie, erstaunen, dass eine solche Nachvollziehbarkeit von der Soziologie gefordert wird, von der Experimentalphysik beispielsweise aber nicht. Weil es sich beim Gegenstand der Soziologie um Gesellschaft/das Soziale und damit um etwas, an dem doch alle irgendwie sich beteiligt und deshalb für kompetent glauben, handelt, wird diese Plausibilitätsforderung schon von Erstsemestern immer wieder in die Diskussion eingebracht und es bedarf oft schmerzhafter Weber- oder Luhmannlektüren, um dies wieder auszutreiben.
      Man könnte nun vermuten, dass bei der Soziologie also die Perspektive und Zugriffe auf Gesellschaft so problematisch sind, dass sie durch die Nützlichkeit der Analysen für sog. gesellschaftliche Probleme erträglich gemacht werden müssen. In der Art: damit kommt man zum Mond, kann also allen egal sein, wie schwierig die Forschung ‚dahinter’ ist.

      Auf der anderen Seite scheint ja gerade der schwierige Zugriff der Soziologie auf das Soziale ihr Ergebnis oder Potential für ‚die’ Gesellschaft zu sein. In ihrem unwahrscheinlichen Zugriff liegt das Reflexionspotential für gesellschaftliche Probleme, wie es andere Disziplinen nur mit selbem Aufwand und daher nicht (oder nur: je anders) leisten könnten. Mit anderen Worten: die Unverständlichkeit der Theorie und Methode nach aussen könnte gerade ihr eigentliches Produkt sein. Mit den offensichtlichen Vermarktungsschwierigkeiten, die damit einhergehen.

      Überträgt man dies nun auf die Forderung: „Mehr Soziologie“, dann müsste man wieder strenger darüber nachdenken, wie die Soziologie dazu beitragen kann, gesellschaftliche Toleranz für unwahrscheinliche Zugriffe auf scheinbare Allgemeingüter und -plätze (auf Alltag, Soziales, Menschen und ihre Lebenswelten oder wie immer viele anbiedernde Begriffe der Soziologie diese Brücke zu schlagen versucht haben) mit zu ermöglichen. Die Alternative, der sich viele Blogbeiträge bislang schon zu verschreiben suchten, nämlich, nach Innen differenzierte Theorie und Methode – nach Aussen Einfachheit und Verständlichkeit in der Darstellung zu erreichen, festigt doch nur die Konfliktlinien. Daran kann man natürlich auch glauben, vermuten, dass dies in der ‚Natur’ der ‚Sache’ liege, und hoffen, es wird irgendwann verständlich, der Gegenstand (und das heisst: der Zugriff auf das Phänomen kokonstituiert mit dem und durch das Phänomen) könnte sich den Verständlichkeitsforderungen beugen. Nur wahrscheinlich scheint mir das nicht.

      Vielleicht könnte man es wieder mal stärker mit ‚Publikumsbeschimpfung’ versuchen – selbstverständlich im freundlichsten Sinne. Mir scheint konkret: es fehlt nicht an Einfachheit und Verständlichkeit der Darstellung soziologischer Forschung und ihrer Ergebnisse, sondern vielmehr mangelt es an vehementer, scharfer und augenöffnender Kritik des Theoriebewusstseins und Auflösungsvermögens des Publikums der Soziologie. Der „Lange Sommer der Theorie“ (Felsch – hab ich noch nicht gelesen, nenne ich hier nur mal so vom Klappentext… Pierre Bayard macht’s plausibel) ist vorbei, „winter is coming“ (und jetzt auch noch Game of Thrones zitieren… na toll…) oder besser schon da. Das muss aber nicht so bleiben. Ich verstehe also „Mehr Soziologie“ als ein „Schluss mit den anbiedernden Versuchen, den Gegenstand des Faches auf die Nachvollziehbarkeit der Massen zusammenzuschrumpfen,“ und einer Forderung nach pointierter Ideologie- und Gesellschaftskritik durch die Soziologie. Blinde Flecken gibt es genug, nicht zuletzt die eigenen. In diesem Sinne: Vorfreude auf die weiteren Beiträge!
      Herzlich,
      Moritz

      1. Hallo Moritz,

        Zum einen kann es einen, aber vermutlich auch nur innerhalb der Soziologie, erstaunen, dass eine solche Nachvollziehbarkeit von der Soziologie gefordert wird, von der Experimentalphysik beispielsweise aber nicht. Weil es sich beim Gegenstand der Soziologie um Gesellschaft/das Soziale und damit um etwas, an dem doch alle irgendwie sich beteiligt und deshalb für kompetent glauben, handelt, wird diese Plausibilitätsforderung schon von Erstsemestern immer wieder in die Diskussion eingebracht und es bedarf oft schmerzhafter Weber- oder Luhmannlektüren, um dies wieder auszutreiben.

        :-) Dem ist nichts hinzuzufügen!

        Ich verstehe also „Mehr Soziologie“ als ein „Schluss mit den anbiedernden Versuchen, den Gegenstand des Faches auf die Nachvollziehbarkeit der Massen zusammenzuschrumpfen,“ und einer Forderung nach pointierter Ideologie- und Gesellschaftskritik durch die Soziologie.

        In diesem Sinne wollte ich mein Edathy-Beispiel verstanden haben.

        Ich verstehe die Bedenken, vermute aber, man muss das Präsentieren von Ergebnissen gar nicht so sehr als Anbiederei deuten, wie es in dem Kommentar scheint. Man muss auch nicht das eine lassen, wenn man das andere tut. Mein Vorschlag ist: Mehr Soziologie einbringen, mehr die Ergebnisse nach außen tragen und sich damit einmischen. Findet man Gehör, wird man kaum drum rumkommen zu erklären, wie man auf die Ergebnisse gekommen ist.

  3. Liebe Vor-Kommentatoren,

    ich begrüße Pascal Geißlers Vorschlag ebenfalls, Fachfremde zum Bloggen einzuladen. Da es aber der Blog der DGS, also der SozBlog ist, würde ich schon erwarten, dass es um Probleme (auch) der Soziologie oder von mir aus auch um Probleme mit der Soziologie geht.

    Das ist mein (ich meine nicht nur ideosynkratisches) Problem in der interdisziplinären Zusammenarbeit mit den (meist ausgesprochen netten) Kollegen aus den Technikwissenschaften: dass sie selbstverständlich erwarten, dass wir zu ihren Problemstellungen beitragen, ohne dass unsere interessant und relevant genug erscheinen, sie auch nur verstehen zu wollen. Jetzt kann man natürlich zurecht fragen, warum sich ein Robotiker mit dem sozialtheoretischen Problem der Sozialität von/mit Sozialen Robotern herumschlagen soll, weil das halt ein soziologisches Problem (und dazu auch noch ein Theorie-Problem) ist. Oder aber, dass es halt an mir ist, das Interessante und Relevante am Thema zu verdeutlichen, womit wir wieder beim alten Problem der Hol- und Bringschuld wären.

    Deine Empfehlung, Thomas, eine gemeinsame Sprache zu finden, ist sicherlich richtig. Ohne die Brise Selbstbewußtsein, die uns Moritz Klenk verschreibt, wird es aber nicht zu „mehr Soziologie“ führen.

    1. … insgesamt gilt, dass die Blogger hier was mit Soziologie zu tun haben sollten ;-)

      Wenn man mit den Kollegen aus den anderen Disziplinen bei der Frage angekommen ist, wo die Bring- und Holschuld liegt, ist es eh zu spät. Idealerweise sollte es wohl wie in einer romantisch gedachten Liebesbeziehung um ein wechselseitiges Interesse aneinander gehen, in welchem sich beide Seiten die ganze wissenschaftliche Welt bedeuten – wenigstens für den Augenblick – und weniger um ein Dienstleistungsverhältnis. Und hier wie dort muss das Selbst, das sich seiner bewusst ist, die Einheit mit dem anderen finden.

  4. „Ich bevorzuge den erkenntnistheoretischen Relativismus wie ihn Renate Mayntz vertritt. Meines Erachtens geht es der Soziologie dann nicht mehr darum, ihre Erklärungen auf Letzt-Elementen – seien dies Akteure, Praxen, Systeme oder dergleichen – zu gründen. Wie schon Simmel formulierte: “„das Erkennen muss nach einem ganz anderen Strukturprinzip begriffen werden, nach einem, das dem gleichen äußeren Erscheinungskomplex eine ganze Anzahl verschiedenartiger, aber gleichmäßig als definitiv und einheitlich anzuerkennender Objekte des Erkennens entnimmt.“
    Welches STRUKTURprinzip entnehmen Sie denn ihren OBJEKTEN, Herr Kron?

    Wie relativistisch ist denn diese Erkenntnis von Ihnen? Oder ist das nur eine Meinung neben anderen gleichwertigen Meinung, die durch Zustimmung (Vorsicht Asch-Experiment!) zumindest zu einer intersubjektiven „Wahrheit“ wird?

    Wissenschaftliche Soziologie ohne Annäherung an objektive soziale Wirklichkeit? Ist das nicht eine absurde Position?

    Wenn die Objekte die Epistemologie entscheidend mitbestimmen (Simmel), verlagert sich das Problem Ontologie/Epistemologie in Richtung Ontologie.

    Zitate und Exegese hindern manchmal am Denken!

    Wie wär’s denn hiermit (aus meiner Werbeveranstaltung):

    „ Der kritische ontologische REALISMUS ist sich im Gegensatz zum naiven Realismus stets seiner konstruktiven, begrifflich-theoretischen Ausgangsbasis bewusst. Seine Annäherung an die objektive Wahrheit und die Realität „an sich“ ist nie absolut und eindeutig BEWEISBAR. Sie kann jeder Zeit, auch grundlegend, relativiert werden. Sie schüttet nur nicht das Kind mit dem Bade aus und macht nicht den Denkfehler wie der Konstruktivismus, von dieser NOTwendigen Ausgangsbasis auf einen relativistisch-willkürlichen Endzustand bei der Erkenntnissuche zu schließen. Davon auszugehen, dass sich eine seriös erstellte Statistik der OBJEKTIVEN WIRKLICHKEIT annähert, ist schlicht vernünftiger als davon auszugehen, dass sei nur ein willkürlich konstruiertes Hirngespinst. Übrigens gelingt die Annäherung an die OBJEKTIVE persönliche und gesellschaftliche Wirklichkeit umso besser, je weniger EMOTIONAL-IDEOLOGISCHE Filter unbewusst den Blick verstellen, wie Husserl wunderbar in seiner „phänomenologischen Reduktion“ ausgearbeitet hat.“

    Da Sie sich mit Zitaten auf Autoritäten beziehen, wie wär’s mit Umberto Eco, einem ontologischen Realisten (meinen Werbebeitrag können Sie gerne vernachlässigen):

    „Der NEUE Realismus und der Zeit-un-geist!

    Die Grenzen des absurden, relativistischen Konstruktivismus und die Differenz zu einem relativierenden REALISMUS hat Umberto Eco wunderbar am Beispiel der Weltbilder erklärt:

    „Im Folgenden seien zwei Beispiele genannt: Jenes der Widerlegung des ptolemäischen Weltbildes und jenes der Existenz der ‚Terra australis incognita‘ als einer riesigen und äußerst fruchtbaren Kuppel, die die südliche Hemisphäre des Planeten eingenommen habe. Als diese heute zurückgewiesenen Hypothesen verbindlich Geltung beanspruchten, war es durchaus möglich, mit ihrer Hilfe die damals bekannte Welt auf sinnvolle Weise zu erklären. So war das ptolemäische Weltbild über Jahrhunderte dazu imstande, unzählige Phänomene zu begründen. ….. Dann aber stellte man fest, dass das kopernikanische Weltbild (mit all den Verbesserungen bis hin zu Kepler) die Himmelsbewegungen besser erklärte und dass eine kuppelförmige ‚Terra australis‘ nicht existierte. Man kann sich nun ausmalen, dass eines Tages ein Weltbild in Kraft tritt-auch wenn das heliozentrische Weltbild bis zum heutigen Tage auf mehr Fragen antwortet und es mehr Vorhersagen erlaubt, als es das geozentrische jemals gestattete-, das noch mehr erklären und das auch das heliozentrische Weltbild in eine Krise zustürzen vermag. Doch für den Moment bleibt einem nichts anderes übrig, als auf das keplersche System zu wetten, also so zu tun, ‚als ob‘ es wahrwäre. Dem geozentrischen Weltbild muss hingegen eine Absage erteilt werden.“

    (Umberto Eco, Gesten der Zurückweisung.Über den Neuen Realismus. In Markus Gabriel (Hg.) , Der Neue Realismus, Suhrkamp, Berlin 2014, S.47/48)

    Besser kann man die realistische Position eines relativierungsfähigen REALISMUS jenseits relativistischer A-Rationalität und Beliebigkeit nicht beschreiben.

    Angedeutet wird auch die Notwendigkeit, ontologisch UND logisch in HIERARCHIEN zu denken, um sich der Realität vernünftig und rational anzunähern.

    In einer Gesellschaft,die Differenzen und Hierarchien emotional-ideologisch weg“denkt“ und kaschiert, wird aus dieser objektiven Notwendigkeit eine sehr unwahrscheinliche Möglichkeit.“

    Aber zu erkennen, dass es keine Basis für ein sinnvolles, vernünftiges Gespräch gibt, weil die Prämissen unvereinbar sind, ist heutzutage ein wunderbares, unwahrscheinliches intellektuelles Ergebnis jenseits von emotional-ideologischem Schlagabtausch!

    Respekt dafür, dass sie als erster Blogger, seit dem ich mich beteilige, ihre wissenschaftstheoretische Position explizit formulieren, auch wenn ich die gegenteilige Position für die einzig evidente und wissenschaftstheoretisch haltbare halte!

    1. Hallo Herr Schwartz,
      Sie reduzieren alles auf die Unterscheidung: radikaler Konstruktivismus vs. Realismus. Mit einer solchen Unterscheidung kommt man dann zu Folgerungen wie:

      Davon auszugehen, dass sich eine seriös erstellte Statistik der OBJEKTIVEN WIRKLICHKEIT annähert, ist schlicht vernünftiger als davon auszugehen, dass sei nur ein willkürlich konstruiertes Hirngespinst.

      Die Großbuchstaben habe ich weggelassen.

      Sie machen es sich mit der Verwendung dieser Unterscheidung sehr einfach und ignorieren, dass der von mir angeführte erkenntnistheoretische Relativismus dem nicht entspricht. Ich würde diesen mit Luhmanns operativem Konstruktivismus zusammendenken. Da passt ihre Unterscheidung, darauf hat ja auch Luhmann bereits hingewiesen, überhaupt nicht mehr, sie ist zu unterkomplex.

      Ich würde weiter fragen: Was ist das für ein Beobachter, der eine unterkomplexe Unterscheidung verwenden muss? Wieso kommt er bei der Verwendung nahezu in keinem Satz ohne im- oder explizite sprachliche Abwertung der anderen Position aus (ich zitiere sinngemäß: naiv, Denkfehler, unseriös, unvernünftiger, absurd). Schön ist auch:

      Zitate und Exegese hindern manchmal am Denken!

      Wen? Wann? Warum?

      Ihre Fragen werden, zumindest wenn ich diese richtig verstanden habe, mit der Unterscheidungslogik Luhmanns beantwortbar. Es ist die Differenz als „Strukturprinzip“, die sich „Objekten“ entnehmen lässt. Und diese Erkenntnis ist relativistisch, weil sie selbst auf Differenz baut. Das ist dann auch die Minimal-Ontologie: Die Unterscheidung. Und dass damit eine Annäherung an die soziale Wirklichkeit möglich ist, wird man kaum bestreiten wollen. Dafür aber fragen: Welche Unterscheidung liegt eigentlich der Annahme zugrund, diese Wirklichkeit sei „objektiv“?

  5. Hallo, Herr Kron,

    Exegese und Denken!

    Dieses Thema eignet sich wunderbar dazu, um den Unterschied zwischen relativistischem Konstruktivismus und kritischem Realismus zu demonstrieren.

    Natürlich denkt auch der Exeget Luhmanns, wenn er ihn verstehen will. Allerdings denkt er als Exeget konstruktivistisch IM RAHMEN des Luhmannschen Konstrukts. Solange er darin verbleibt ist sein Denken erheblich eingeschränkt, wenn es um den für den Realisten wesentlichen Zugang zur sozialen Realität geht.

    Ein kritischer ontologischer Realist wie ich geht umgekehrt vor. Ich gehe nicht vom Konstrukt eines Theoretikers aus, sondern von meinem eigenen Konstrukt und MEINEM möglichst selbstständigen DENKEN, das sicher durch meine Lektüre der unzähligen Theoretiker und meine persönlichen Erfahrungen gefüttert wurde, aber nicht exegetisch rekonstruierend vorgeht. Ob ich die Texte des Theoretikers richtig interpretiert habe, interessiert mich nicht. Ich orientiere mich daran, ob ich zu befriedigenden und vernünftigen Erkenntnissen über die soziale Realität komme, wenn ich soweit als möglich meine eigenen, emotional-ideologischen Filter phänomenologisch reduziere (Husserl).

    Wenn ich zu einem entsprechenden, für mich befriedigenden Ergebnis gekommen, stelle ich es öffentlich zur Verfügung, damit es von qualifizierten Gesprächspartnern diskutiert werden kann. Der Wahrheitswert orientiert sich NICHT an der Quantität der Zustimmung, sondern an der Qualität der Diskussion, die esoterisch im Sinne Platons definiert wird und nicht demokratisch entsprechend der aktuellen Konsens-Ideologie. Die Asch-Experimente haben bewiesen, dass Konsens als Zugang zu möglicher Wahrheit nicht einmal bei einfachsten offensichtlichen Sachverhalten jenseits von gruppenpsychologischen Manipulationen (unbewusst/Bewusst) funktioniert. Wie soll das bei komplexen Themen, deren realitätsadäquater Zugang biologisch außergewöhnliche Fähigkeiten voraussetzt, wahrscheinlich sein.

    Nichts anderes hat Luhmann selbstverständlich auch gemacht!

    Nun zu Ihrer Luhmann-Exegese, die ich wie gesagt wie jede andere Exegese für „unterkomplex“ halte, wenn es um den Zugang zur sozialen Realität geht.

    Trotzdem!

    Luhmanns Differenztheorie bezieht sich eben nicht auf die soziale Wirklichkeit “an sich”, sondern auf die Beobachter und die Beobachter der Beobachter von den nicht erkennbaren objektiven sozialen WIRKLICHKEITEN in ihren Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen. Soziale Systeme bestehen für Luhmann aus Kommunikationen. Punkt.

    Da haben Sie wohl etwas missverstanden. Luhmann ist kein Minimal-Ontologe, sondern ein Postontologe, ein erkenntnistheoretisch/ontologisch dramatischer Unterschied.

    „Realität ist ein Konstrukt beobachtender SYSTEME (die aus Kommunikationen bestehen, G.S). Sie (die Realität als KONSTRUKT, G.S) zeigt sich in Systemen an Widerständen des SYSTEMS gegen Operationen des SYSTEMS. Statt einer realen Außenwelt wird die Realität des SYSTEMS zum Widerstand der Erkenntnis.“ (Detlef Krause, Luhmann-Lexikon)

    Es geht immer um intersubjektivistisch konzipierte soziale Systeme auf der Basis von KOMMUNIKATIONEN. Deswegen ist die Entwicklung zur Komplexitäts-IDEOLOGIE jenseits erkennbarer sozialer Wirklichkeiten auch nicht weiter verwunderlich.

    Mit Luhmann kann man leicht die EIGENE Realität und damit auch die soziale Realität aus den Augen verlieren und seinen gesunden Menschenverstand sowieso.

    Kron: „Und dass damit eine Annäherung an die soziale Wirklichkeit möglich ist, wird man kaum bestreiten wollen.“

    Genau das bestreitet Luhmann, zumindest folgt das aus seinem Ansatz, weil es für ihn schlicht keine erkennbare „SOZIALE WIRKLICHKEIT“ außerhalb der Konstrukte gibt. Das sind für ihn überholte „alteuropäische“ Denkweisen genau so wie das Denken in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen.

    Damit seine grandiosen, philosophischen Theorie-Spiele (Luhmanns eigene Auffassung:”Mal sehen, wie weit ich damit komme!”) nicht jeden Boden unter den Füßen verlieren, muss er das, wie jeder Relativist, voraussetzen, was er als unerkennbar deklariert.

    Das ist der Grund wieso sein faszinierender Ansatz letztlich nichts weiter ist als eine Anregung zu „Trial & Error“ und dem pragmatischen Umgang mit Problemen z.B. in der systemischen Therapie oder der Unternehmens-Beratung, wobei die Anwender mit nicht erkennbaren REALITÄTEN (Luhmann) spielend arbeiten. Oder arbeiten sie etwa nur mit ihren Konstruktionen???? Das wäre absurdes Theater im Sinne Becketts, theatralisch faszinierend, wissenschaftlich betrachtet verblödet.

    Die Epigonen Luhmanns und die Epigonen der Epigonen verwechseln ihre Faszination für und die hypnotische Wirkung durch die Komplexität, die der Ausgangspunkt für seine Theorie war, mit den wissenschaftlichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer WISSENSCHAFTLICHEN Soziologie, die versucht Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu erforschen. Heuristisch kann die philosophische Metatheorie Luhmanns sehr hilfreich sein, wissenschaftlich blockiert der Kult um ihn und seine Theorie den Fortschritt der Soziologie. Seine funktionalistische Systemtheorie kann sogar an entscheidenden Stellen transormiert werden in eine kausalwisschaftliche Theorie.Jede funktionalistische Aussage impliziert logisch gesehen Kausalität.

    Vielleicht sollten Sie, Herr Kron, die Begriffe, mit denen Sie ihrer eigene Position beschreiben noch einmal überdenken. Jemand der glaubt, dass man sich der objektiven sozialen Wirklichkeit erkennend annähern kann, ist philosophisch betrachtet kein Relativist, sondern ein relativierender ontologischer Realist, wie ich ihn beschrieben habe.

    Dabei demonstrieren Sie auch ungewollt selbst, was passiert, wenn man sich einer populären Komplexitäts-Ikone EXEGETISCH bedienen will und dann von „unterkomplex“ spricht.

    Die Komplexitäts-Ideologie, die sich aus der Popularisierung und KULTivierung von Luhmanns Systemtheorie fatalerweise gesellschaftlich ergeben hat, bis in den wissenschaftlichen Bereich hinein, wird an dieser Stelle exemplarisch deutlich. Diese IDEOLOGIE beleuchtet „UNTERKOMPLEX“ die Möglichkeiten einer Reduktion der Komplexität jenseits des ideologisch einseitigen Umgangs mit vermeintlicher und tatsächlicher Komplexität.

    Wer als Soziologe die politisch und wissenschaftlich sicher genehme, allerdings gesellschaftlich und wissenschaftlich äußerst schädliche Verantwortungslosigkeit für soziale Strukturen und ihre Wirkungen nicht sieht, lebt und arbeitet in einer emotional-ideologischen Komfortzone, die er selbst nicht als solche wahrnimmt.

    Um es mit dem Ethologen Rupert Riedel im Sinne meiner „Soziologie des Unbewussten“ (Vorsicht Werbung) zu sagen:

    „Erkennen beruht auf dem simul hoc der Gestaltwahrnehmung und ist großteils vorbewußt angelegt, das Erklären auf dem propter hoc, das großteils als bewußte Konstruktion der Erfahrung hinzuzufügen ist. Erkennt man diesen Unterschied nicht, kann es geschehen, daß das noch nicht Erklärbare aus der Welt des Erkennbaren verloren wird.“(Riedl 2000:341)

    1. Darf man das dahingehend zusammenfassen: Lieber selber denken als zuvor gelesen habend und sich möglichen Lesarten aussetzend? Das führt jedenfalls zu stabileren ontologischen Realitäten. Das wussten schon die Theologen, die Exegese gerade deshalb betreiben mussten, weil Texte nicht eindeutig sind. Das macht Glauben unkommod. Deshalb vertrauen diejenigen, die wirklich glauben wollen, nicht den Theologen – und verzichten Sie deshalb auf Exegese und denken gleich, was Sie wollen? Und ist Wollen simul hoc oder propter hoc? Manches spricht dafür, dass die Auflösung Ihres etwas dunklen Rätsels für Sie ungewollt in den „operativen Konstruktivismus“ führt, den der Kollege Thomas Kron stark macht. Über dessen ontologische Implikationen liegt Lesbares vor – oder doch lieber gleich zu – wie sagten Sie? – befriedigenden Ergebnissen kommen?

      Fragt erstaunt mit kritisch realistischen Grüßen
      Armin Nassehi

  6. Ah, dieser Blog: die Lichtung in der großen Verwirrung Hain. Schade, dass Jürgen Habermas nicht bloggen kann. Dann würde ich rufen: Hic habitat felicitas.

  7. Hallo Herr Nassehi,

    nein, das darf man nicht, wenn man, statt relativistisch zu konstruieren meinen Text Gestalt wahrnehmend (simul hoc) jenseits eigener emotional-ideologischer unbewusster Präferenzen im Sinne von Riedl liest.

    Sie demonstrieren ungewollt auf hervorragende Art und Weise die Differenz zwischen Ihrem konstruktivistischen und einem ontologisch-realistischen, möglichen Zugang zu der objektiven Realität meines Textes.

    Sie konstruieren vor Ihrem emotional-ideologischen Hintergrund eine willkürliche Reduktion des Textes und vermeiden es zum Wesentlichen des Textes (Luhmanns beliebter alteuropäischer Bezug) vorzudringen. Die rhetorisch hochgestochene Rechtfertigung der eigenen Konstruktion und willkürlichen Reduktion hat Vorrang vor dem Versuch, mittels ECHTER Fragen, ich lebe noch, jenseits sophistischer Schlauheit einen Dialog zu führen. Es gibt prinzipiell sehr unterschiedliche Qualitäten von Konstruktionen, ontologisch-realistisch gesehen, abhängig von den biologisch vorgegebenen Abstraktionsfähigkeiten, den unbewussten emotional-ideologischen Prägungen und den bewussten Absichten des Konstrukteurs.

    Trotzdem schön, dass Sie sich auch für die soziale Realität der universitären Soziologie, und nicht nur für das inneruniversitäre Konstrukt der universitären Soziologie, und für ihr fehlendes wissenschaftstheoretisches/methodologisches Fundament interessieren.

    Dafür, dass Sie zu den Wort gewaltigsten, literarisch begabten Rhetorik-Künstlern der Systemtheorie-Szene zählen, ist Ihre konstruktivistische Exegese meines kleinen Textes allerdings realistisch betrachtet eher dürftig ausgefallen.

    Schwartz: „…DENKEN, das sicher durch meine Lektüre der unzähligen Theoretiker gefüttert wurde, aber nicht exegetisch rekonstruierend vorgeht.“

    Nassehi: „Lieber selber denken als zuvor gelesen habend und sich möglichen Lesarten aussetzend?“

    Hiermit demonstrieren Sie selbst wiederum ungewollt, dass selbst die Exegese schlichter Texte den Zugang zur sozialen Realität „unterkomplex“ verhindert, in dem Fall die objektive Realität meines Textes, meines Anliegens und der sozialen Realität des fehlenden, tragfähigen Fundamentes der Soziologie. Zu leicht verschwimmen die Grenzen zwischen Logik und IDEOlogik, wenn man sich in einer emotional-ideologischen Komfortzone kommod eingerichtet hat.

    Ein Philologe kann sich mit allen möglichen Lesarten und Exegesen eines Textes auseinandersetzen, ein Leben lang. Ein Soziologe hat das Thema seiner Zunft verfehlt, wenn er sich in rhetorischer Spitzfindigkeit und Exegese narzisstisch und emotional-ideologisch verliert, ohne darüber nachzudenken, wie er den Zugang zur objektiven sozialen Realität verbessern und wie er soziale Prozesse ERKLÄREN kann.

    Lesbares liegt nicht nur zum „operativen Konstruktivismus“, sondern auch zum „Neuen Realismus“ vor. Es liegt allerdings objektiv nahe, dass der „operative Konstruktivismus“ ein Konstruktivismus bleibt und der „Neue Realismus“ ein Realismus.

    Deshalb macht es zumindest logisch gesehen wenig Sinn eine spezielle Variante des Konstruktivismus als generelle Alternative zum Realismus anzubieten und zu diskutieren, wenn es um das grundlegende Verhältnis von Epistemologie und Ontologie geht.

    Warum nennen sie nicht einfach die wesentlichen „ontologischen Implikationen“ des „operativen Konstruktivismus“, den Sie für ein tragfähiges wissenschaftstheoretisches/methodologisches Fundament einer wissenschaftlichen Soziologie halten, das Ihr Kollege Wagner offensichtlich übersehen hat, oder haben Sie ihre Exegese des Lesbaren noch nicht abgeschlossen????

    Selbstverständlich hat der kritische Realismus konstruktive Implikationen und der operative Konstruktivismus möglicherweise ontologische.

    Wird deswegen die Entscheidung, ob sich eine Wissenschaft primär an der Konstruktion orientiert oder an der objektiven Realität überflüssig??? Realismus = Konstruktivismus?

    Wie löst der operative Konstruktivismus das Relativismus-Problem auf, ohne sich selbst zu widersprechen? Wie verhält sich der operative Konstruktivismus zu den Grundlagen der Systemtheorie, z.B. zum Relativismus von Spencer-Brown und und seiner Leere?

    Für einen relativistischen Systemtheoretiker sind solche Fragen vielleicht irrelevant, für einen soziologischen Realisten nicht!

    Übrigens denkt jeder, was sein Unbewusstes will, es leitet ihn von passender Exegese zu passender Exegese an der sozialen Realität vorbei, wenn er seine emotional-ideologischen Filter und seine emotional-ideologische Komfortzone nicht wahrnimmt. Rationalisierungen werden dann mit rationalem, selbständigem Denken verwechselt, bei Epigonen besonders verbreitet.

    1. Wenn Sie schon fragen, nenne ich Ihnen gerne die Früchte meiner Exegese:
      AN: Wie wirklich sind Systeme?, in: Kriwietz/Welker 1992
      AN: Die Zeit der Gesellschaft, 2. Aufl., v.a. III. Kap.
      AN: Der soziologische Diskurs der Moderne, ins. 4. und 6.Kap.
      AN: Geschlossenheit und Offenheit, ins. Kap. 1+2
      AN: Gesellschaft der Gegenwarten
      uVm

      Und nirgendwo geht es da um die Frage der philologischen Exegese – sondern um Gegenstandskonstitution – nicht um Gegenstände vor ihrer Konstitution. Dies unterläuft die Unterscheidung von Realismus und Konstruktivismus, in der Sie sich offensichtlich wohnlich eingerichtet haben und die Sie mit dem psychoanalytischen Dritten dann interessanterweise auflösen, um den eher emotionalen Zugang zu beschreiben. Auch schön.

      Wie ich schon sagte: erst lesen – und vielleicht ohne schon vorher zu wissen, was drin steht.

      Empfiehlt in aller wortgewaltigen Zugewandtheit
      Armin Nassehi

      1. „Provozierender als das Ende des Sozialismus stellt das Ende der ontologischen Weltkonzeption sie (die kritische Soziologie, G.A.S.) in Frage.“ (Luhmann 1991a: 147

        Danke für Ihre stolze und selbstbewusste Literatur-Empfehlung, Herr Professor Nassehi!

        Dass Sie nicht nur wortgewaltig, sondern auch schreibgewaltig (Respekt!) sind, ist
        mir bekannt, sonst hätte Ihre Karriere anders ausgesehen, und dass Ihre professoralen Textproduktionen natürlich wichtiger sind als die anderen Bibliotheken füllenden Werke zum Thema Epistemologie/Ontologie, um das es hier geht, versteht sich von selbst.

        Leider ist auch meine Zeit begrenzt und ich treffe die Entscheidung für die mich interessierende Lektüre wie Sie selbständig, entsprechend meinen emotional-ideologischen und theoretischen Präferenzen. Der systemtheoretisch-exegetische Blick und seine, wenn auch noch so differenzierenden, Wiederholungen, langweilen mich und gehen am Thema der Differenz und Einheit von Epistemologie und Ontologie schlicht vorbei. Ich habe die Systemtheorie im Original bei Luhmann persönlich studiert und mich interessieren in diesem Zusammenhang nur die Fundamente seiner Theorie, die ich offensichtlich realistischer wahrnehme als seine Epigonen.

        Wenn Sie in der Lage und gewillt sind, die Komplexität und die Ergebnisse ihrer Exegesen realistisch thesenartig auf eine überschaubare Anzahl von Sätzen zu reduzieren, können wir selbstverständlich gerne über das Wesentliche Ihrer Gedanken zum Thema Ontologie/operativer Konstruktivismus weiter diskutieren.

        Vielleicht wählen Sie ein einfaches Beispiel aus der sozialen Realität (na ja, ich meine natürlich ein soziales System) und demonstrieren mir in einfachen Worten, wie der operative Konstruktivismus damit ontologisch umgeht. Ich verspreche Ihnen, ich werde die Differenz zu einer ontologisch realistischen Konstruktion in ebenso einfachen Worten auf den Punkt bringen.

        Andererseits ist es logisch betrachtet unsinnig, über die Grenzen einer Konstruktion, in diesem Fall die der Systemtheorie, ernsthaft allein mit systemtheoretischen Argumenten sozusagen von innen her zu diskutieren, auch wenn sie das selbst PARADOX formulieren würde. Jeder Relativismus löst sich relativistisch in Wohlgefallen auf, wenn man ihn PHILOSOPHISCH zu Ende DENKT, dies gilt auch für die Systemtheorie, falls sie ihren operativen Konstruktivismus zu Ende denkt. Sie bleibt heuristisch anregend und kann in diesem Sinne nützlich für eine kausalwissenschaftliche, realistische Soziologie sein, aber selbstverständlich kein gleichwertiger Ersatz!

        Worin die Differenz zwischen dem systemtheoretischen Relativismus und einem relativierenden soziologischen Realismus besteht, können wir an Hand Ihres Beispiels sicher auch klären.

        Das von mir angebotene Beispiel von Umberto Eco ist bei der Exegese meines kurzen Textes ist von Ihnen konstruktivistisch übersehen worden, ohne das Sie ein anderes angeboten haben.

        Sie sagen es selbst:
        „Dies unterläuft die Unterscheidung von Realismus und Konstruktivismus, in der Sie sich offensichtlich wohnlich eingerichtet haben und die Sie mit dem psychoanalytischen Dritten dann interessanterweise auflösen, um den eher emotionalen Zugang zu beschreiben.“
        Etwas zu unterlaufen, wie es die Systemtheorie mit ihrem operativem Konstruktivismus tut, schafft das, was man unterläuft, nicht aus der Welt! Es geht um Integration und das realistische Zusammendenken von Gegensätzen, wenn man dazu fähig ist, auch bei wissenschaftlichem Fortschritt, um die Einheit der Differenz. Sie wird immer implizit vorausgesetzt, ohne explizit formuliert zu werden.Daran ändern auch die raffiniertesten intellektualistischen Konstruktionen und die Masse an universitären, systemtheoretischen Textproduktionen nichts.
        Ihr Systemtheorie-Kollege Peter Fuchs war da schon, zumindest bezogen auf die Psychoanalyse theoretisch, einen realistischen, entscheidenden Schritt weiter, wenn er den fehlenden Bezug zum UNBEWUSSTEN, das das Fundament meiner „Soziologie des Unbewussten“ im Sinne einer versuchten Integration naturwissenschaftlicher, sozialwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Aspekte von Sozialität darstellt, als größte Schwäche der Systemtheorie identifiziert:
        „Man könnte vielleicht sagen, daß die vorangegangene Arbeit den Status eines Experiments hat. indem zwei sich universalistisch gerierende Theorien gezwungen werden, Kontakt aufzunehmen, dies ohne die Absicht, die eine durch die andere aufsaugen zu lassen, aber auch nicht so, daß die Perspektive, aus der dieser Kontakt sich gestaltet, verdeckt bleibt. Es ist ohne Frage die Systemtheorie, die mit ihrer Beobachtungsdifferentialität den Kontakt ausarbeitet, aber dieser Vorteil wird auf satte Weise ausgeglichen dadurch, daß sie es damit ist, die sich der Gefahr aussetzt, ALS ZU SCHWACH (Hervorh. G.A.S) beobachtet zu werden. SIE KÖNNTE ALS ARROGANT ENTLARVT WERDEN (Hervorh. G.A.S.), wenn sie das Problemniveau nicht trifft, das durch die psychoanalytische Theorie (jedenfalls im Blick auf ihre Meister) etabliert wurde.“ (Fuchs 1998: 237)
        Menschliches Verhalten wird strukturell a-rational gesteuert. Neurowissenschaftler stellen heute die Frage:
        „In fact, the list of psychological processes carried out in the new unconscious is so extensive that it raises two questions: What, if anything, cannot be done without awareness? What is consciousness for?” (Uleman in Hassin et al. (Eds.) 2005: 6)

        Ihr süffisanter Hinweis auf meinen „eher emotionalen Zugang“ demonstriert die ganze emotional-ideologische Einseitigkeit und die daraus resultierende Vermeidung von Wirklichkeit (in einem ganzheitlichen Sinn) durch die Systemtheorie mit ihren dramatisch-fatalen wissenschaftlichen und politischen Folgen.
        Wer Luhmann persönlich kennengelernt hat, wie ich während meines Studiums in Bielefeld, kommt nicht umhin, im Nachhinein, den wissenssoziologischen und emotional-ideologischen Zusammenhang zwischen der Persönlichkeit und Biographie Luhmanns (Verwaltungsjurist/finanziell unabhängiger Sohn eines Brauerei-Besitzers/ Bildungsbürger/intellektualistischer, hochbegabter Verstandes-Mensch/sehr beschränkte Erfahrungen mit gesellschaftlicher, sozialer Realität/ emotional reduziert) und der entscheidenden, theoretischen Schwachstelle seines Ansatzes zu entdecken.
        Luhmann hat das Problem vieler Hochbegabter, allerdings auf eine FAST geniale Art und Weise, sie steigert die Komplexität und verlieren isch darin, ohne sie lösungsorientiert reduzieren zu können. Sie verlieren den Boden unter den Füßen. Luhmann ist beim Thema „Komplexität“ gestartet, übrigens ein philosophisches, kein im engeren Sinn soziologisches Thema, hat es entsprechend seiner ungeheuren intellektualistischen Begabung, die seine Epigonen hypnotisiert, grandios komplexitätstheoretisch gesteigert, und bleibt in der Luft hängen. In seinem Fall würde ich sagen, ist er zwischen Hochbegabung und Genialität stecken geblieben. Ein wirkliches Genie, reduziert irgendwann intuitiv die gesteigerte Komplexität auf das Wesentliche und vereinfacht wieder. Das ist Luhmann offensichtlich nicht gelungen mit der verheerender Wirkung einer wissenschaftlichen und politischen Ideologisierung der von ihm selbst mit erzeugten Komplexität.
        Seine Ignoranz gegenüber der a-rationalen,strukturellen Basis sozialer Prozesse, bei seinem Hintergrund vom Entdeckungszusammenhang her gesehen kein Wunder, und den ontologischen und logischen Implikationen dieser objektiven Tatsache blockiert den Fortschritt der Soziologie als Wissenschaft.
        Daran ändert auch, wie gesagt, die Quantität systemtheoretischer Textproduktionen und der Zettelkasten von Niklas Luhmann, den ich damals als Relativierer soziologischer IDEOLOGIEN sehr geschätzt, aber auch überschätzt habe, nichts.
        Mittlerweile ist sein gewaltiger Entwurf selbst wie gesagt zu einer IDEOLOGIE, nämlich einer Komplexitäts-IDEOLOGIE geworden, nicht zuletzt deshalb, weil er das symbolische Tier „Mensch“ biologistisch (Ursprung der Systemtheorie) reduziert hat und die ihm persönlich nicht zugänglichen, ontologisch DOMINANTEN Momente normaler sozialer Prozesse, nämlich die Steuerung durch Macht und Gewalt (physisch und psychisch/strukturell und individuell) und andere ontologische und logische Hierarchien konstruktivistisch-horizontal aufgelöst hat.
        Eine Katastrophe für die Soziologie als Wissenschaft, wenn nicht die Auswege aus dieser grandios konstruierten Sackgasse schon sichtbar wären.

  8. @ G. Schwartz

    „Es liegt allerdings objektiv nahe, dass der „operative Konstruktivismus“ ein Konstruktivismus bleibt und der „Neue Realismus“ ein Realismus.“

    Machen Sie sich es hier nicht ein bisschen sehr einfach? Wieso liegt es „objektiv“ nahe? Was bedeutet „objektiv“ in diesem Fall? „Konstruktivismus“ und „Realismus“ sind zunächst nichts weiter als Bezeichnungen, Begriffe. Wie stellen Sie fest, dass „objektiv“ betrachtet der Realismus das ist, was Sie als Realismus bezeichnen?

    Es ist schon den Rezensenten von Gabriels Buch „Warum es die Welt nicht gibt“ aufgefallen, dass sein Neuer Realismus konstruktivistischen Ansätzen verdächtig ähnlich sieht:

    Zeit-Online: http://goo.gl/qrcgHc

    FAZ-Online: http://goo.gl/ARrfGI

    Insofern ist die Frage, was Realismus und Konstruktivismus voneinander unterscheidet, entscheidend, wenn man Konstruktivisten von der Attraktivität des Neuen Realismus überzeugen will – wovon ich annehme, dass das der Zweck ihrer Kommentare sein soll. Versucht man diese Frage zu beantworten, dann könnte man feststellen, dass der Neue Realismus bei Konstruktivisten offene Türen einrennt. Denn die Probleme an denen sich z. B. Gabriel und Sie abarbeiten, sind in den Sozialwissenschaften hinlänglich bekannt und es gibt bereits Lösungen dafür, wie z. B. den systemtheoretischen oder operativen Konstruktivismus. Ich selbst stehe dem radikalen Konstruktivismus und dem postmodernen Realismus ebenfalls sehr skeptisch gegenüber. Wenn man mit Luhmanns Theorie sozialer Systeme vertraut ist, in der unter anderem der Sinnbegriff eine wichtige Rolle spielt, dann stellt man sich als Systemtheoretiker zwangläufig die Frage, was die Sinnfeld-Theorie des neuen Realisten Gabriel dem gegenüber anders macht. Wenn man die Rezensionen liest, bekommt man eher den Eindruck, Gabriel verkauft allseits bekannte konstruktivistische Annahmen unter dem Label „Neuer Realismus“. Das können dann eben auch nur alte Realisten für neu halten.

    Sowas erkennt man nicht einfach in dem man, so wie Sie, apodiktisch und tautologisch behauptet, dass Konstruktivismus Konstruktivismus ist und Realismus Realismus. Die Unterschiede (und Gemeinsamkeiten) erkennt man erst durch Vergleich der verschiedenen Ansätze. Das ist etwas anderes als Exegese. Sie haben sicherlich recht, wenn Sie davor warnen in einen radikalen Konstruktivismus abzudriften. Genauso falsch wäre es aber umgekehrt darauf mit einem ebenso radikalen Realismus zu antworten, der seine Begriffe mit den bezeichneten Gegenständen verwechselt. Üblicherweise wird solch ein Realismus als naiv bezeichnet. Nur durch einen Vergleich der verschiedenen Perspektiven, die Personen auf einen Gegenstand richten, kann man sein eigenes Verständnis des Gegenstands vertiefen und zu einer eigenen Position gelangen. Das hat noch nichts mit Relativismus zu tun, sondern so verstanden sind der operative und der systemtheoretische Konstruktivismus Relativitätstheorien. Sie verwechseln leider durchgehend Relativität und Relativismus, was dann zu einigen gravierenden Missverständnissen hinsichtlich systemtheoretischer Annahmen führt. Die Anerkennung der Beobachterabhängigkeit von Beobachtungen hat noch nichts mit Relativismus zu tun, sondern akzeptiert nur die Relativität der Beobachterstandpunkte, weil es keinen absoluten Beobachterstandpunkt gibt, von dem aus man die Welt, wie sie ist, wahrnehmen könnte. Von Relativismus kann man erst sprechen, wenn man alle Beobachtungen für gleich realistisch/illusionär hält. Der Relativismus lehnt im Prinzip die Unterscheidung von realistisch und illusionär als ganze ab. Das ist zu Recht zu kritisieren, aber kein Einwand gegen alle konstruktivistischen Ansätze. Vielmehr besteht die Herausforderung heute darin, wie man trotz fehlenden direkten Umweltkontakts eine realistische Wahrnehmung entwickeln kann. Dabei spielt u. a. die Beherrschung der Sprache eine wichtige Rolle. Damit wird man aber nicht mit der Entscheidung konfrontiert entweder nur die sprachliche Konstruktion oder nur die Realität beachten zu müssen. Schon die Vorstellung, dass man sich für eines von beiden entscheiden müsste, ist wenig hilfreich. Nur wenn man beides im Blick behält, kann man zwischen realistischen und illusionären Konstrukten unterscheiden.

    Wenn man nicht bereit ist derartige begriffliche Differenzierungen vorzunehmen, gerät der Kampf für eine realistische Soziologie schnell zu einem Schattenboxen gegen imaginäre Gegner. Genau dasselbe wurde in der Zeit-Online-Rezension schon an Gabriel kritisiert. Diesen Stil haben Sie sich offenbar von ihm abgeschaut. Markige Sprüche tragen aber nicht unbedingt dazu bei, dass bestimmte Behauptungen objektiver, realistischer oder einfach nur plausibler werden. Wer sich an Karikaturen abarbeitet, läuft leicht Gefahr selbst zur Karikatur zu werden. Durch das Einschlagen auf imaginäre Gegner kann man vielleicht super sein Selbstbild aufwerten. Zu einer realistischen Wahrnehmung führt das aber nicht, denn diese Gegner leisten keinen spürbaren Widerstand. Wieso glauben Sie eigentlich, dass Sie realistisch wahrnehmen? Oder umgekehrt gefragt, was könnte Sie eigentlich dazu bringen, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Sie nicht realistisch wahrnehmen?

  9. Korrigierte Fassung

    @beobachter der moderne

    Zu der Karikatur Luhmanns: „Provozierender als das Ende des Sozialismus stellt das Ende der ontologischen Weltkonzeption sie (die kritische Soziologie, G.A.S) in Frage.“ (Luhmann 1991a: 147)

    Ihre psychologischen Kommentare finde ich als Gestalttherapeut faszinierend. Zu welchen Qualifikationen die Betonung der interdisziplinären Orientierung von Disziplinen, die ihre Identität differenztheoretisch-konstruktivistich wegzaubern, so führen kann, einfach bewundernswert!

    Ihre systemtheoretischen Luhmann-Nachdenk-Hinweise zur Ontologie offenbaren dagegen eine sehr eigenwillige Schieflage gegenüber dem realistisch begreifbaren Verhältnis von der Epistemologie zur Ontologie, natürlich nicht aus systemtheoretisch- konstruktivistischer Sicht.

    Dass Sie als wortreicher Nachdenker Luhmanns und moderner Beobachter von Konstruktionen stolz darauf sind, Spezialist für die Karikaturen sozialer Realität zu sein, sei Ihnen gegönnt!

    Zur Sache, um die es Ihnen offensichtlich nicht geht!

    „Insofern ist die Frage, was Realismus und Konstruktivismus voneinander unterscheidet, entscheidend, ….“!

    Genau so ist es.

    Warum geben Sie denn dann keine Antwort auf Ihre entscheidende Frage??????

    Meine eigene Beschreibung des „kritischen ontologischen Realismus“ und das zitierte Beispiel des Realisten Umberto Eco scheint Ihnen ja konstruktivistisch-exegetisch entgangen zu sein. Glauben Sie mir bitte, beide Texte waren objektiv in meinem Text vorhanden und das ist auch nachträglich objektiv empirisch überprüfbar, jenseits von konstruktivistisch-theologischen Ansprüchen.

    Die Überzeugung, sich über die emotional-ideologischen Grenzen einer etablierten Komfortzone hinaus im NORMALfall vernünftig verständigen zu können, ist eine liberalistische Illusion, wie u.a. Foucault nachgewiesen hat und wie es im Rahmen meiner „Soziologie des Unbewussten“ leicht wissenschaftlich nachvollziehbar ist und thematisiert wird. Der ideale Diskurs über emotional-ideologische Grenzen hinweg ist eine höchst unwahrscheinliche Ausnahme und endet, wenn er dann doch ausnahmsweise möglich wird bei wenigen Personen mit einer außergewöhnlichen Selbstwahrnehmung ihrer eigenen ansonsten unbewussten, emotional-ideologischen PersönlichkeitsSTRUKTUR.

    Aber wir können ja trotzdem ein letztes Mal versuchen, die Komplexität des Themas kommunikationsgerecht auf UNSERE Möglichkeiten hin realistisch zu reduzieren.

    Suchen Sie sich ein einfaches Beispiel aus der nicht erkennbaren sozialen Realität „an sich“ (in Ihrem Fall sind natürlich nur soziale Systeme sinnvoll) aus und demonstrieren Sie daran den ontologischen Bezug des operativen Konstruktivismus Luhmanns!

    Ich werde, hoffentlich auch für Sie verständlich (in AUSNAHMEfällen können sogar Argumente emotional-ideologische Grenzen durchdringen), den Unterschied zu einer ontologisch-realistischen Konstruktion anschließend bezugnehmend auf IHR Beispiel noch einmal auf den Punkt bringen!

    Dann müsste es auch möglich sein, den Unterschied zwischen „relativistisch“ und „relativierend“ und den zwischen „Konstruktivismus“ und „Realismus“ jenseits emotional-ideologischer Schaumschlägerei realistisch zu konstruieren.

    Bei der Gelegenheit können Sie dann auch exemplarisch diese verwegene Behauptung eines fahnenflüchtigen Systemtheoretikers erläutern:

    „Nur wenn man beides (sprachliche Konstruktion und Realität) im Blick behält, kann man zwischen realistischen und illusionären Konstrukten unterscheiden.“

    Wo nehmen Sie denn systemtheoretisch, Luhmann nachdenkend, die „Realität“ her?

    Oder ist das die Luhmann-Light-Version eines modernen Beobachters, dessen „Sprachbeherrschung“ zur Sprachverwirrung degeneriert und dazu führt, dass der Konstruktivismus mal eben zum Realismus mutiert, wenn es denn nicht mehr anders geht? Ein bisschen erkennbare Realität „an sich“ muss schon sein außerhalb der sozialen Systeme, oder wie?

    Oder fehlt mir die „Sprachbeherrschung“, um zu begreifen, dass es keine Differenz zwischen Realismus und Konstruktivismus gibt???

    Vielleicht klären Sie mich einfach mal mit Hilfe Ihrer „Sprachbeherrschung“ über diese Differenz oder Nicht-Differenz systemtheoretisch-konstruktivistisch modern auf!!!!

    Vielleicht finden wir ja sogar wider Erwarten eine zu uns passende Abstraktionsebene, die in unserem Fall eine wechselseitige rational-realistische Verständigung über das Wesentliche, das es in der Systemtheorie nicht gibt, dieser Differenzen und ihrer Einheit jenseits unserer emotional-ideologischen Komfortzonen und komplexitäts-ideologischer, konstruktivistischer Begriffs-Akrobatik möglich macht!

    Bin gespannt auf Ihre moderne Antwort!

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