Der Begriff nimmt es schon vorweg: Soziologie im Lehramtsstudium muss sich mit Bildung auseinandersetzen und zwar nicht in dem Sinn, dass alles soziologische Wissen Bildung sei und damit immer irgendwie mit Schule zusammenhänge. Vielmehr muss im Zentrum der Soziologie für Lehramtsstudierende das Feld des Berufes der Lehrerin, des Lehrers stehen – also: die Schule.
Damit ist ausdrücklich jene Soziologieausbildung adressiert, die alle Lehramtsstudierenden absolvieren müssen. Seit den KMK-Bildungsstandards ist die Soziologie wieder als Bildungswissenschaft anerkannt und wurde mittlerweile in den meisten Bundesländern auch (zum Teil wieder) als Pflichtfach im Lehramtsstudium etabliert. Das Lehramtsstudium unterscheidet sich in einem zentralen Punkt von den „normalen“ Bachelorstudiengängen. Die Studierenden entscheiden sich vor Studienbeginn nicht für ein Fach, sondern für ein Berufsziel. Daher hat das Lehramtsstudium auch mehr gemein mit ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen oder auch der Medizin als mit den gängigen akademischen Disziplinstudiengängen.
Diese Besonderheit hat Auswirkungen auf die anzubietenden Inhalte. So wie den Studierenden mit Berufsziel Ingenieur/in eine „Physik für Ingenieure“ in den Studiengängen angeboten wird, wäre es an der Zeit, eine Soziologie für Lehramtsstudierende anzubieten, die sich in den Inhalten substantiell vom Haupt- und Nebenfachstudium Soziologie unterscheidet. Die bisher weit verbreitete Praxis, zumindest alle einführenden Veranstaltungen im Bereich der soziologischen Theorie oder speziellen Soziologien zu öffnen, ist für Lehramtsstudierende nicht geeignet. Die Soziologie wird wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, wenn es kein auf diese Studierendengruppe inhaltlich zugeschnittenes Angebot gibt – doch wie könnte das aussehen?
Wirft man einen unvoreingenommenen, alltagsweltlichen Blick in die Schulen, vielleicht weil man auch Kinder hat und als Eltern mit Lehrerinnen und Lehrern kommuniziert, fällt ziemlich schnell auf, dass diese Berufsgruppe kaum soziologisches Wissen über Schule, Bildung und Sozialstruktur abrufen kann – selbst wenn soziologische Veranstaltungen Pflichtelemente im Studium waren. Weder ist der seit mehreren Jahren wieder zunehmende Trend der Bildungsvererbung gerade in den höheren Sozialstatusgruppen bekannt, noch gibt es ein Bewusstsein für die sozial selektive Bewertungspraxis der Lehrerinnen und Lehrer. Da der Begriff der Meritokratie völlig unbekannt ist in den „Lehrerzimmern“, muss man auch nicht darüber diskutieren, welchen substantiellen Beitrag Lehrerinnen und Lehrer selbst zur Reproduktion sozialer bzw. Bildungs- Ungleichheit leisten. Selbstverständlich hat in der Regel auch kaum jemand während seines Studiums vermittelt bekommen, dass je nach Habitus die Vertrautheit mit den Interaktionsregeln des Bildungssystems unterschiedlich groß ist, auch über die unterschiedlichen Entscheidungsparameter für Bildungsgänge je nach sozialer Herkunft haben die meisten während ihres Studiums nichts gehört.
Statt dessen werden – glaubt man den Modulhandbüchern – eher allgemeine Lehrveranstaltungen aus dem Bereich der Familien- oder Jugendsoziologie angeboten. Auch soziologische Grundkonzepte oder moderne bzw. klassische soziologische Theorien finden sich in den für alle Lehramtsstudierenden verpflichtenden Inhalten der Soziologie. Da diese Inhalte für quasi jeden beliebigen Nebenfachstudiengang auch angeboten werden können, lassen sich bequem mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Sehr häufig können aber die Lehramtsstudierenden keine Verbindung zwischen den Studieninhalten und den Herausforderungen in ihrem späteren Arbeitsfeld feststellen. Wenige der Inhalte scheinen hilfreich für die Deutung der Geschehnisse in der Unterrichtssituation oder der Organisation Schule zu sein.
Was aber könn(t)en Lehramtsstudierende soziologisch Relevantes lernen in zwei oder drei Lehrveranstaltungen? Wenig! Sollte man dann gleich darauf verzichten? Eher nicht!
Schule ist ein Ort der Kommunikation. Unterschiedliche sozialstrukturelle Gruppen kommen zusammen, auch wenn die räumliche Stratifikation nach sozialer Herkunft gerade in urbanen Zentren nicht zu übersehen ist. Dennoch begegnen wir in Schulen immer noch Gesellschaft sozusagen geballt! Soziologie als Bildungswissenschaft muss daher darauf fokussieren, den Bildungsprozess und die Aufgabe und Verantwortung der Lehrerinnen und Lehrer in den Blick zu nehmen. Die Herausbildung der pädagogischen Psychologie als Teildisziplin der Psychologie kann Vorbild sein – Diagnosefähigkeit in einem anderen Feld als die Psychologie wäre damit die soziologische Kompetenz, die entwickelt werden sollte.
Einige relevante Themen für die gesellschaftliche Grundbildung von künftigen Lehrer_innen wären beispielsweise folgende:
- Soziale Ungleichheiten in der Bundesrepublik: die Strukturkategorien Geschlecht und Migration in der Schule
- Strukturen von Bildungsungleichheit und Bildungsvererbung
- Erklärungen von Bildungsungleichheit: Boudon und Bourdieu
- Interaktionen im Klassenzimmer: thematisch fokussierte Interaktionstheorien.
Diese Liste ist weder vollständig noch abschließend. Gerade bei Fachinhalten von denen in einem Studiengang nur relativ wenig vorgesehen ist, ist aber der unmittelbare Bezug zum Thema des Studiengangs von hoher Bedeutung, weil es den Studierenden sonst nicht gelingen kann, den „Sinn“ dieser Inhalte für ihre spätere Tätigkeit zu erfassen. Deshalb sollte der „Schulbezug“ der Inhalte das zentrale Selektionskriterium zu vermittelnder Inhalte sein.
Die universitäre Soziologie trug in den letzten Jahren und Jahrzehnten durch die Fokussierung auf kleinstteilige Forschungsfragen selbst ihren Teil dazu bei, in der Lehramtsausbildung bedeutungslos zu werden. Die nach wie vor bestehende Randständigkeit der Soziologie in der Lehramtsausbildung zeigt sich leider auch daran, dass kaum soziologische Perspektiven und Inhalte in den im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung geförderten Projekte prominent erscheinen. Den anderen Bildungswissenschaften – Erziehungswissenschaft und Psychologie – ist es demgegenüber gelungen, sich als relevant für die Lehramtsausbildung darzustellen und Forschungsprojekte im Rahmen der Qualitätsoffensive umzusetzen. Auch die Fachdidaktiken konnten im Vorfeld der Qualitätsoffensive den politischen Entscheidungsträger_innen vermitteln, dass eine fundierte fachdidaktische Ausbildung bessere Lehrerinnen und Lehrer an die Schulen bringt.
Eine auf den Gegenstand Schule bezogene Soziologieausbildung im Lehramtsstudium , könnte auch dazu beitragen, dass künftige Lehrerinnen und Lehrer reflektierter mit ihrer Rolle und den Aufgaben umgehen könnten und dadurch bessere Lehrer_innen wären. Diesbezüglich bleibt für die Soziologie noch einiges zu tun.
In meiner Studienzeit an der Gießener Universität waren Lehramtskandidatinnen im Seminar eine willkommene Abwechslung und sie brachten mit ihren einfachen Fragen und ihrem nüchternen blick auf das Geschehen Diskussionen zu einem schnellen Ende. Und sie brachten ihr Strickzeug mit – das erdete so manchen geisteswissenschaftlichen Parforce Ritt, denn man konnte an Geschwindigkeit oder Verlangsamen der Strickgeschwindigkeit erkennen, wenn etwas die Aufmerksamkeit des Auditoriums erreichte, fesselte oder langweilte. Also: Liebe Soziologinnen und Soziologen, fragt nicht was die Lehramtsausbildung für die Soziologie tun kann, sondern begeistert die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer und fragt euch, was Ihr zur Bildung dieser Bildungsträger beitragen könnt. Ich habe z.B. einfach mal Schulleiterinnen und Schulleiter und Coaching Expertinnen zum Konstrukt der sogenannten organisationspädagogischen Führung befragt, sowas kommt an, da kommt Freude auf, denn wenn der Neo- Institutionalismus so direkt ableitbar irgendwo einschlägt, dann lässt er sich auch für Lehrerinnen und Lehrer wunderbar begreifen und ändern tut sich da zwar an der Situation nix, aber es ist gut, wenn man mit denjenigen spricht, um die es in der Forschung geht.