Beitrag 3: Deutschland in der „Zeitenwende“: Von der reinen Zivilgesellschaft zur Zivilgesellschaft im Krieg
Zu Beginn des Angriffskriegs von Russland gegen die Ukraine hat die Politik rasch dessen epochale Bedeutung erfasst. Die Außenministerin erklärte schon am ersten Kriegstag: „Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“. Wenige Tage später prägte der Bundeskanzler den Begriff der „Zeitenwende“. Wenn wir es nun mit einer „anderen Welt“ und einer „Zeitenwende“ zu tun haben – in welcher Gesellschaft leben wir jetzt eigentlich?
Es ist eine Gesellschaft, die indirekt durch Krieg bestimmt wird. Die Gesellschaft vor dem 24. Februar war, jedenfalls in Deutschland, eine reine Zivilgesellschaft, ohne eine wahrgenommene äußere Bedrohung, ohne kriegerische Verwicklungen in Europa – „von Freunden umzingelt“, wie der frühere Verteidigungsminister Rühe in den 1990er Jahren sagte. Nunmehr sind die Staaten des Westens insbesondere durch Waffenlieferungen Beteiligte eines Krieges und zumindest im Fall einer Niederlage der Ukraine latent oder offen bedroht. Indem sie mit ihrem Engagement die Kräfteverhältnisse des Krieges erheblich, ja entscheidend beeinflussen, unterliegen sie, vage ausgedrückt, indirekt einer Logik des Krieges. Was bedeutet „Logik des Krieges“?
Große, langdauernde, tendenziell totale Kriege nach Art der Weltkriege des 20. Jahrhunderts führen zu Mobilisierungswettläufen. Welche Kriegspartei mobilisiert mehr Soldaten, Arbeitskräfte für den Krieg, Motivation, Loyalität in der Bevölkerung? An dieser Frage entscheidet sich maßgeblich der Kriegsausgang.
Der Mobilisierungswettlauf führt zu einer gesellschaftlichen Transformation. Das Ergebnis dieser gesellschaftlichen Transformation bezeichne ich als Kriegsgesellschaft. Sie unterscheidet sich strukturell von einer „normalen“ modernen Gesellschaft in Friedenszeiten mit Markt, parlamentarischer Demokratie, Grundrechte, Pluralität der Ideen und Meinungen, Freiheit der Wissenschaften u. a. m. Den sozialwissenschaftlichen Ansatz, der sich mit kriegsbedingten gesellschaftlichen Transformationen befasst, nenne ich Kriegsgesellschaftstheorie.
Die kriegsbedingte gesellschaftliche Transformation kommt zustande, weil die Strukturen einer Gesellschaft im Friedenszustand – ich nenne sie Zivilgesellschaft – zur Führung großer, langdauernder Kriege ungeeignet sind. Dies gilt insbesondere für die Märkte, wie sich z. B. im Ersten Weltkrieg zeigt. Zu Kriegsbeginn werden in den kriegführenden großen Mächten Millionen Männer im besten Alter als Soldaten eingezogen. Das führt zu einem Angebotsschock auf dem Arbeitsmarkt. Der geradezu explodierende Bedarf an Kriegsgütern führt zu einem Nachfrageschock auf den Märkten, der Waffen- und Munitionspreise in ungeahnte Höhen treibt. Aus diversen Gründen verknappen sich in großen, langdauernden Kriegen Lebensmittel mit entsprechenden Preissteigerungen. Um die Loyalität der ärmeren Bevölkerung zu erhalten, setzen Regierungen, z. B. schon im jakobinischen Frankreich während der Revolutionskriege, Höchstpreise für Lebensmittel fest. So entsteht in kriegführenden Gesellschaften in großen, langdauernden, tendenziell totalen Kriegen eine Kriegswirtschaft, zentral geplant und gesteuert. Eine zentrale Steuerung ist effektiv nur möglich mit einer tendenziell diktatorischen Spitze. In großen Kriegen bilden sich Führungspersönlichkeiten heraus wie Lloyd George, Clemenceau, Hindenburg und Ludendorff, Churchill, Stalin, De Gaulle.
Diese kriegsbedingte gesellschaftliche Transformation, kurz kriegsgesellschaftliche Transformation genannt, finden wir auch in Russland und der Ukraine. Auch hier der Mobilisierungswettlauf, vorangetrieben durch einen brutalen Abnutzungskrieg.
Und die westlichen Staaten? Ihre Politiker betonen immer wieder, man sei nicht Kriegspartei. Das ist im völkerrechtlichen Sinne richtig, aber auch im realsoziologischen Sinne? Die westlichen Staaten sind, auch ohne an Kriegshandlungen teilzunehmen, aktiv in den Krieg involviert. Sie versuchen die russische Mobilisierung mit Sanktionen zu schwächen und die Ukraine insbesondere durch Waffen- und Munitionslieferungen zu stärken. Ohne die westliche Unterstützung wäre die Ukraine im Mobilisierungswettlauf nach Ansicht vieler Fachleute aus Politik, Wissenschaft und Militär chancenlos, zumal sie weitaus vulnerabler ist als Russland und ihre eigene Rüstungsproduktion durch Luft- und Raketenangriffe stark beeinträchtigt ist.
Die westlichen Länder und speziell Deutschland sind keine Kriegsgesellschaften, denn es findet keine kriegsgesellschaftliche Transformation im Sinne der Herausbildung einer qualitativ neuen Struktur statt. Märkte und demokratische Institutionen bleiben also bestehen. Aber indem sie extern in den Mobilisierungswettlauf um Waffen und Munition massiv eingreifen, werden sie mit den mobilisierungsbedingten Dynamiken quasi verzahnt. Auf diese Weise wirken die kriegsbedingten Dynamiken, die in den aktiv kriegführenden Staaten zu einer gesellschaftlichen Transformation führen, indirekt auf das Feld der Unterstützerstaaten ein. So wurde aus dem Bundeswehrverband die Forderung „nach einer Art Kriegswirtschaft“ laut. Die (politisch induzierte) Gasknappheit konnte nicht über die Märkte, sondern nur durch politische Intervention reguliert werden. Die Bundesregierung setzte Höchstpreise für Gas fest. Befürchtungen kursierten, die bundesdeutsche Wirtschaft könne unter dem russischen Gasboykott kollabieren. Der Staat verschuldet sich, getarnt in Sondervermögen, in ungeahnte Höhen, obwohl ein liberaler Finanzminister strikte Ausgabendisziplin und die Einhaltung der Schuldenbremse versprochen hatte. Der deutsche Staat investiert ein Vielfaches seiner Ukrainehilfen, um die Folgen von Krieg und Boykott für Bürgerinnen und Bürger erträglich zu halten. Die deutsche Politik hat innerhalb von nur einem Jahr einen atemberaubenden Weg hingelegt – von 5.000 Helmen als Zeichen solidarischer Unterstützung für die Ukraine bis zur Lieferung des Panzers Leopold 2. Trotzdem wurde sie wegen Zögerlichkeit im In- und Ausland hart kritisiert.
Dies alles zeigt: Wir leben nicht mehr in der gleichen Gesellschaft wie vor dem 24. Februar 2022. Der entscheidende Punkt, der unsere Gesellschaft vor und nach dem 24. 02. unterscheidet, ist also: Erstgenannte war reine Zivilgesellschaft, „von Freunden umzingelt“ (Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe), in Sicherheitspartnerschaften vereint, ohne (wahrgenommene) äußere Bedrohung. Letztere ist keine reine Zivilgesellschaft im Frieden mehr. Sie ist, indem sie in einen Krieg involviert und einer äußeren Bedrohung ausgesetzt ist, eine, wie ich es nenne, Zivilgesellschaft im Krieg. „Zeitenwende“ bedeutet, aus soziologischer, kriegsgesellschaftstheoretischer Sicht, also den kriegsbedingten Übergang von einer reinen Zivilgesellschaft zu einer Zivilgesellschaft im Krieg.
Die westlichen Staaten verbleiben weiterhin im Status einer Zivilgesellschaft, aber als indirekt Beteiligte sind sie auch mit der Logik großer Kriege konfrontiert. Zivilgesellschaft und Kriegsgesellschaft sind idealtypische Pole. Die westlichen Staaten bleiben, wenn man zwischen 0 und 1 unterscheidet, Zivilgesellschaften, aber sie müssen ein Stück weit kriegsgesellschaftlich denken und handeln, um den Herausforderungen der „Zeitenwende“ gewachsen zu sein. Sie müssen im Modus einer Zivilgesellschaft im Krieg agieren – und nicht im Modus einer reinen Zivilgesellschaft.