Beitrag 9: Der Erste Weltkrieg als paradigmatischer Fall kriegsgesellschaftlicher Transformation (III) – Patriotische Vergemeinschaftung
Mit diesem Beitrag wird der Blog „Kriege, Kriegsgesellschaft, Zeitenwende“ fortgesetzt, zu dem bisher acht Beiträge in der Zeit von März bis Juni erschienen sind. Allgemein geht es dabei um die strukturelle Dynamik, die Kriege in der modernen Gesellschaft auslösen bzw. auslösen können. Die Grundthese dazu: Große, langdauernde, tendenziell totale Kriege führen zu einer gesellschaftlichen Transformation. In zeitdiagnostischer Absicht werden aktuelle Ereignisse und Entwicklungen im Zusammenhang mit Russlands Krieg gegen die Ukraine und die deutsche Betroffenheit thematisiert. Die These dazu ist, dass sich die Bundesrepublik Deutschland in einem Übergang von einer „reinen Zivilgesellschaft“ zu einer „Zivilgesellschaft im Krieg“ befindet.
In den bisherigen Beiträgen wurden sechs analytische Kategorien der kriegsgesellschaftlichen Transformation vorgestellt: Mobilisierungswettlauf, Zentrale Steuerung, Tendenziell diktatorische Spitze, Patriotische Vergemeinschaftung, Kriegsgesellschaftliches Dilemma, Zivilgesellschaftliche Re-Transformation. Als paradigmatischer Fall kriegsgesellschaftlicher Transformation kann der Erste Weltkrieg gelten, den ich als solchen anhand der analytischen Kategorien vorstelle. Dieser Beitrag befasst sich mit dem Phänomen der Patriotischen Vergemeinschaftung.
Inhalt
- Regierungen der nationalen Einheit, Kriegskabinette, Machtkonzentration – Zur kriegsgesellschaftlichen Transformation des politischen Systems
- Die „vaterlandslosen Gesellen“ werden in die patriotische Gemeinschaft inkludiert
- Die Frauenbewegungen unterstützen die nationalen Kriegsanstrengungen
- Die inkludierende Kraft der patriotischen Vergemeinschaftung wirkt auch in multiethnischen Großreichen
- Die Kriegsgesellschaften exkludieren „feindliche Ausländer“ aus der patriotischen Gemeinschaft
„Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“. In diesem Satz von Kaiser Wilhelm II. zu Beginn des Ersten Weltkriegs kristallisiert sich ein Grundprinzip von Kriegsgesellschaften heraus, die patriotische Vergemeinschaftung. Interne Konflikte verschwinden geradezu schlagartig, wie z. B. die Geschichte des Ersten Weltkriegs zeigt. „Burgfrieden“ und die „Union Sacré“ sind die beherrschenden Parolen der Zeit. Patriotische Vergemeinschaftung gründet auf einem logischen Prinzip: Je weniger und je schwächer interne Konflikte, desto größer die Chance, den Krieg zu gewinnen oder zumindest existentiell zu überstehen. Und umgekehrt: Je mehr und je intensiver interne Konflikte, desto größer das Risiko, den Krieg zu verlieren. Für patriotische Vergemeinschaftung bietet der Erste Weltkrieg eindrucksvolle Manifestationen.
1. Regierungen der nationalen Einheit, Kriegskabinette, Machtkonzentration – Zur kriegsgesellschaftlichen Transformation des politischen Systems
Politische Systeme in den Zivilgesellschaften des globalen Westens sind gekennzeichnet durch Gewaltenteilung, insbesondere zwischen Legislative und Exekutive, sowie durch eine Differenzierung des Parlaments in Regierung und Opposition. Der Regierungschef ist die wichtigste und mächtigste Figur, die aber eingebunden ist in Kabinetts- und Parlamentsbeschlüsse. Hinzu kommt noch die Differenzierung in nationalstaatliche und regionalstaatliche Ebenen. Die Systeme sind auf eine Ausbalancierung politischer Macht zwischen verschiedenen Institutionen ausgelegt. Die Transformation zu einer Diktatur hin soll nach Möglichkeit ausgeschlossen werden.
Doch große, langdauernde, tendenziell totale Kriege („total“ im Sinne von maximaler Mobilisierung von ökonomischen, physischen und psychischen Ressourcen für die Kriegsführung) induzieren eine Transformation des politischen Systems. Es geht nicht mehr um Ausbalancierung von Macht, sondern umgekehrt um eine Konzentration von Macht, um eine möglichst effektive Kriegsführung zu gewährleisten.
In zivilgesellschaftlichen Parlamenten des globalen Westens bilden sich Regierungs- und Oppositionsfraktionen heraus. Die Interaktion von Regierung und Opposition ist ein typisches Merkmal. In den Kriegsgesellschaften hingegen entstehen Regierungen der nationalen Einheit, ohne Regierung und Opposition zu unterscheiden. Diese Regierungen der nationalen Einheit symbolisieren im politischen System das Prinzip der patriotischen Vergemeinschaftung. Auf Wahlen oder Nachwahlen wird in der Regel verzichtet, um die patriotische Eintracht nicht zu gefährden.
Ein anderes Merkmal von Kriegsgesellschaften sind Kriegskabinette. Anders als bei „normalen“ Regierungen sind Kriegskabinette nicht nach Ressorts zugeschnitten. Sie haben in der Regel wenige Mitglieder. Deren wesentliche Aufgabe ist, schnelle Entscheidungen zu treffen. Da sich in Kriegen militärische und politische Lagen rasch verändern können, sind rasche Reaktionen unerlässlich. „Besonnenheit“ in dem Sinn, dass sich verantwortliche politische Akteure viel, viel Zeit für ihre Entscheidungen lassen, ist in „großen“ Kriegen unprofessionell und kontraproduktiv.
In den Kriegsgesellschaften des Ersten Weltkriegs bildet sich eine Spitze mit tendenziell diktatorischen Vollmachten heraus. „Tendenziell“ meint zum einen, dass die Machtfülle der Spitze im Laufe des Krieges in der Regel zunimmt. Zum anderen reicht die Machtfülle nicht an die totalitärer Diktaturen heran. Die Macht an der Spitze beruht zu einem guten Teil auf Charisma. Die Spitze symbolisiert die Einheit der Kriegsgesellschaft, und die Einheit wird generiert durch Charisma. Charisma entsteht nicht nur, aber auch durch militärischen Erfolg im Krieg.
Wie sieht die Spitze der Kriegsgesellschaften im Ersten Weltkrieg konkret aus? Die historischen Befunde bieten ein unterschiedliches Bild. In Großbritannien etabliert sich „oberhalb“ des eigentlichen Kabinetts ein Kriegskabinett unter Lloyd George mit ca. fünf Ministern ohne fachliche Zuordnung, dem die oberste Entscheidungsgewalt obliegt. Der Primat der Politik über das Militär bleibt stets gewährleistet, vor allem, weil die britische Kriegsführung von zahlreichen Rückschlägen begleitet ist, so dass kein strahlender Kriegsheld in Erscheinung tritt. In Frankreich setzt sich zunächst eine De-facto-Militärdiktatur unter General Joseph Joffre durch, dem Sieger der Marneschlacht, bevor ab 1915, begünstigt durch die nunmehr zunehmend erfolglose und verlustreiche Kriegsführung des Oberbefehlshabers, zivile Politiker wieder stärker an Einfluss gewinnen. Unter Ministerpräsident Clemencau bildet sich schließlich Ende 1917 ein Kriegskabinett nach britischem Vorbild mit quasi-diktatorischer Gewalt heraus, das den „totalen Krieg“ propagiert und führt. (Das Wort vom „totalen Krieg“ ist also keine Erfindung von Goebbels). In Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland stellen verfassungsgemäß die Monarchen die politische und militärische Spitze, können diese extrem anspruchsvolle Funktion aufgrund mangelnder Eignung jedoch nicht wirklich ausüben. In Deutschland halten sich zunächst zivile und militärische Führung (also Regierung und Oberste Heeresleitung) die Waage, bevor seit 1916 die Kriegshelden Hindenburg und Ludendorff eine quasidiktatorische Position erlangen. Österreich-Ungarn transformiert sich zu Beginn des Krieges in eine Militärdiktatur unter dem Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf. Nach dem Ableben des 86jährigen Kaisers Franz Joseph am 21. November 1916 entmachtet der neue Kaiser Karl die militärische Führung und übernimmt auch de facto die ihm verfassungsmäßig zustehende Spitzenposition, ohne letztendlich den Zerfall des Habsburgerreiches aufhalten zu können. In Russland kann Zar Nikolaus II. die Funktion der personalen Spitze der Kriegsgesellschaft nicht ausfüllen, lässt aber aus Angst vor Machtverlust keine alternative starke Spitzenfigur zu, mit den bekannten desaströsen militärischen und politischen Folgen.
In allen Fällen, bei allen historisch variierenden Verläufen und Wendungen, ist, wie von Herbert Spencer theoretisch angenommen, im Verlauf des Krieges eine Tendenz zur Machtkonzentration an der Spitze ausmachen. Dabei ringen politische und militärische Führung um die ultimative Entscheidungsgewalt. Ausschlaggebend dafür ist letztendlich der militärische Erfolg, der eine Kriegshelden-Spitze begünstigt, so in Frankreich unter Joffre, so in Deutschland unter Hindenburg und Ludendorff. Im umgekehrten Fall setzt sich die politische Führung durch.
Die Geschichte des Ersten Weltkriegs legt die These nahe, dass eine Kriegshelden-Spitze einer politischen Spitze strukturell unterlegen ist. Die Kriegshelden-Spitze vereinigt militärische und politische Führungsrolle, aber die Rationalitäten beider Rollen decken sich nicht; was politisch rational ist, kann militärisch irrational sein und umgekehrt. Die Achillesferse der Kriegshelden-Spitze, die über keine legale, sondern „nur“ eine charismatische Legitimation verfügt, liegt darin, dass das Charisma vom militärischen Erfolg abhängt. Das kann dazu verleiten, militärisch notwendige Rückzüge zu unterlassen, was dann erst recht in militärische Misserfolge mündet, die das Charisma untergraben. Joffre, Conrad von Hötzendorf und Ludendorff verlieren die Spitzenposition der Kriegsgesellschaft, als der militärische Erfolg über längere Zeit ausbleibt.
2. Die „vaterlandslosen Gesellen“ werden in die patriotische Gemeinschaft inkludiert
Drei Merkmale zeichneten die europäische Arbeiterschaft vor dem Ersten Weltkrieg aus. Erstens war sie gesellschaftlich exkludiert und bildete eine Art Parallelgesellschaft. Der englische Schriftsteller und Staatsmann Benjamin Disraeli hatte schon 1844 von „zwei Nationen“ gesprochen, in welche die großen Kulturstaaten gespalten seien. In Deutschland z. B. wohnten sie in eigenen Stadtteilen, stets im Osten gelegen, sie bildeten eigene Vereine, wirtschaftliche Interessenverbände und politische Organisationen. Der Versuch wohlmeinender bürgerlicher Honoratioren, in der Revolution von 1848/49 und in den 1860er Jahren die Arbeiterschaft über Arbeiterbildungsvereine und Genossenschaften in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren, war gescheitert. Zweitens verstand sich die Arbeiterschaft als internationalistische Kraft gemäß dem Motto „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch“. Und drittens war das europäische Proletariat pazifistisch eingestellt. Wenn die herrschenden Klassen die Völker in einen Krieg stürzen wollten, dann würde sich das Proletariat verweigern und in einen Generalstreik treten.
Doch als am 01. August 1914 der Krieg ausbricht, kommt alles anders. „Wir lassen“, so der Vorsitzende der SPD-Reichstagsfraktion, Hugo Haase, „in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich“. Die SPD bewilligt geschlossen die Kriegskredite. Bereits zwei Tage vorher hatten die deutschen Gewerkschaften erklärt, alle laufenden Streiks abzubrechen und im Krieg keine Arbeitskämpfe auszutragen. Im Gegenzug sagt die Reichsregierung zu, auf repressive Maßnahmen gegen die Arbeiter zu verzichten.
Regierung und Militärführung akzeptieren nun die – zuvor halb illegalen – Gewerkschaften als Gesprächs- und Verhandlungspartner. Gegen den Widerstand des Unternehmerlagers setzen sie durch, dass lokale oder regionale Kommissionen zur Konfliktschlichtung eingesetzt werden, paritätisch besetzt von Unternehmern und Gewerkschaftern (Kriegsausschüsse oder Schlichtungsausschlüsse genannt). Außerdem müssen Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten Arbeiterausschüsse einrichten, denen das Recht zur Kollektivbeschwerde bei den Schlichtungsausschüssen zusteht. In den Ersten Weltkrieg fällt also die Geburtsstunde des Tarifvertragssystems und der Betriebsräte in Deutschland. Ausgerechnet kaiserliche Generäle beenden das „Herr im Haus“ – Prinzip, das die Unternehmer vor dem Ersten Weltkrieg kompromisslos verteidigt hatten. Das Motiv seitens der Militärführung hat General Groener so auf den Punkt gebracht: „Gegen die Arbeiter können wir den Krieg überhaupt nicht gewinnen“. Innere Konflikte sollen um jeden Preis vermieden werden, um alle Kräfte gegen den äußeren Feind zu bündeln. Die Arbeiter und ihre Interessenvertreter werden daher von Regierung und Militär als politische Akteure anerkannt und aufgewertet.
In Frankreich und in Großbritannien treten die Sozialisten sogar in die Regierung ein. Der Sozialist und Pazifist Albert Thomas übernimmt die Planung der französischen Kriegswirtschaft. Thomas verbindet die erfolgreiche Organisation der Kriegswirtschaft mit wegweisenden Sozialreformen wie dem kollektiven Arbeitsvertrag, innerbetrieblicher Mitbestimmung und obligatorischer Schlichtung von Tarifkonflikten.
Die Proletarier, vor dem Krieg aus der bürgerlichen Gesellschaft exkludiert, werden von einem Objekt karitativer Mildtätigkeit zu einer zentralen strategischen Ressource der Kriegsgesellschaften – als Soldaten und als Rüstungsarbeiter. Als solche geraten sie in den Fokus intensivierter sozialpolitischer Beobachtung, besonders in Großbritannien. Die Behörden erkennen, dass aufgrund der unzureichenden Lebensverhältnisse in den Arbeiterquartieren die britische Armee vermutlich auf etwa eine halbe Million Rekruten verzichten muss. Angesichts der hohen Verluste in den Materialschlachten verbessert sich die Fürsorge des Staates für Mütter, Säuglinge und Kleinkinder. Die Historikerin Deborah Dwork hat dieses Phänomen in einem provokanten Buchtitel zugespitzt: „War is Good for Babies and Other Young Children“. Die Kindersterblichkeit sinkt rapide. Die Lebenserwartung nimmt zu, trotz des Krieges. In diesem Punkt ist Großbritannien eine Ausnahme im Ersten Weltkrieg, weil dort die Versorgungsdefizite trotz des deutschen U-Boot-Krieges geringer ausfallen als in den anderen Krieg führenden Staaten.
3. Auch die Frauenbewegungen unterstützen die nationalen Kriegsanstrengungen
Eine der Arbeiterbewegung vergleichbare Entwicklung finden wir bei der Frauenbewegung vor. „Bei Kriegsbeginn schließt sich die Mehrheit der Frauenbewegung dem allgemeinen politischen ‚Burgfrieden‘ an. Die Auseinandersetzungen zwischen Klassen, Geschlechtern und Konfessionen sollten angesichts der gemeinsamen nationalen Herausforderung des Krieges ruhen …“ (Süchting-Hänger, Andrea: Frauenbewegung, in: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, hg. von G. Hirschfeld, G. Krumeich, I. Renz, 3. Aufl. 2014, S. 502). Überall hatten die Organisationen der Frauenbewegungen unmittelbar nach Kriegsbeginn ihre Bereitschaft verkündet, in den Dienst der Kriegsanstrengungen zu treten und politische Forderungen, insbesondere diejenigen nach Einführung des Wahlrechts, zurückzustellen. Im Nationalen Frauendienst kommt es im Deutschen Reich erstmals zur Kooperation von bürgerlichen und proletarischen Frauen – vor dem Weltkrieg undenkbar. Nur eine kleine Minderheit, deren Vertreterinnen sich 1915 zu internationalen Frauenkonferenzen in den Haag und Bern treffen, hält am Ideal internationaler Frauensolidarität fest. Die Frauenbewegung mutiert im „Großen Krieg“ von einer internationalen Protestbewegung zu einer nationalen Wohlfahrtsorganisation.
Auch wenn die Frauenbewegungen ihre politischen Forderungen zurückstellen – aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Sie treten im Krieg in Vorleistung, an die Reziprozitätserwartungen verknüpft sind. Es wird von der Politik insbesondere erwartet, dass sie spätestens nach Kriegsende das Frauenwahlrecht einführt. Und genau so kommt es dann auch. Für die Arbeiterbewegungen gilt ebenfalls: Erst Unterstützung des Krieges durch die Arbeiter, im Gegenzug politische und sozialpolitische Inklusion.
4. Die inkludierende Kraft der patriotischen Vergemeinschaftung wirkt auch in multiethnischen Großreichen
Zur Bevölkerung Österreich-Ungarns zählten eine Reihe von Nationalitäten, so Deutsche, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Polen, Ukrainer, Slowenen, Kroaten, Italiener. Nationalitätenkonflikte prägten die Arbeit des 1907 erstmals nach allgemeinem, gleichen (Männer-)Wahlrecht gewählten Abgeordnetenhaus des Reichsrats der österreichischen Reichshälfte. Handgemenge, Prügeleien und Obstruktion mit allen Mitteln waren an der Tagesordnung, so dass die Regierung im März 1914 das Parlament wegen Arbeitsunfähigkeit auf unbestimmte Zeit schloss und per Notverordnungen regierte. Doch der Kriegsausbruch beendet zunächst die Nationalitätenkonflikte im Habsburgerreich. „Alle Unterschiede, so berichtet der Zeitzeuge Stefan Zweig über Wien, „waren überflutet für diesen einen Augenblick von dem strömenden Gefühl der Brüderlichkeit“.
Doch schon bald zeigen sich erste Risse in der patriotischen Einheitsfront, als tschechische Einheiten zum russischen Gegner überlaufen. Der Kriegseintritt von Italien im Mai 1915, bis 1914 mit Österreich-Ungarn und Deutschland im Dreibund verbündet, erneuert noch einmal die innere Einheit. 1917 scheidet das Zarenreich aus dem Krieg aus, womit sich das Problem der Desertation slawischstämmiger Soldaten erledigt. An der verbleibenden italienischen Front hält die multiethnische Einheitsfront bis in die letzten Kriegswochen.
Sogar im britischen Empire ergreift die patriotische Vergemeinschaftung die britischen Dominions (Australien, Neuseeland und Kanada), die Iren und die kolonisierten Inder, die während des Ersten Weltkriegs 1,3 Mio. Soldaten stellen. Auch hier wird freilich die Loyalität gegenüber dem Empire mit Reziprozitätserwartungen verknüpft, die auf mehr Autonomie und auf staatliche Unabhängigkeit abzielen.
5. Die Kriegsgesellschaften exkludieren „feindliche Ausländer“ aus der patriotischen Gemeinschaft
Die Welt vor dem Ersten Weltkrieg war, wie Jürgen Osterhammels Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts lehrt, ein transnational vergesellschafteter Raum, und zwar in allen sozialen Schichten. Die europäischen Königshäuser – 1914 wurden abgesehen von der Schweiz, Frankreich und Portugal alle europäischen Staaten von Monarchen regiert – waren verwandtschaftlich und sozial eng miteinander vernetzt. So war Kaiser Wilhelm Neffe des russischen Zaren Nikolaus II. und des englischen Königs Georg V. Als 1913 seine einzige Tochter Viktoria Luise heiratete, waren Niki – so der Spitzname des Zaren – und Georg als Trauzeugen zugegen. Die große Bourgeoisie war kosmopolitisch ausgerichtet, die kapitalistischen Unternehmen transnational aufgestellt. Auch Handwerker und Arbeiter wanderten, wenn die physischen, psychischen und materiellen Voraussetzungen gegeben waren, dorthin, wo man mehr verdienen konnte. Daraus entwickelten sich transnationale Netzwerke, die oft über Generationen Bestand hatten. Die Zeit zwischen 1850 und 1914 war, so Osterhammel, eine Periode beispielloser transnationaler Netzwerkbildung, jedenfalls aus europäischer Perspektive. Die Migrantenkolonien entfalteten ein reges soziokulturelles Leben mit eigenen Vereinen, Kirchen, Kirchengemeinden, Schulen und Zeitschriften. Auch wenn das Zusammenleben mit der einheimischen Bevölkerung nicht immer spannungsfrei verlief: viele Migranten waren willkommen und angesehen.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ändert sich der Charakter transnationaler Vergesellschaftung fundamental. Aus willkommenen und respektierten Mitbürgern werden „feindliche Ausländer“, Enemy Aliens. Sie werden der Spionage für ihr Herkunftsland verdächtigt und bezichtigt. Die Exklusion aus der patriotischen Vergemeinschaftung kann unterschiedliche Formen und Grade aufweisen: von informellen Ausgrenzungen aus dem gesellschaftlichen Leben, über – oft spontane – gewaltsame Ausschreitungen gegen Personen und Sachen, über Deportationen, über Internierungslager und Zwangsarbeitslager bis hin zum offenen Genozid. Verbreitet sind vor allem Internierungen „feindlicher Ausländer“. In den fünf großen Krieg führenden Ländern werden ca. 400.000 Zivilisten als feindliche Ausländer interniert.
Zu besonders krassen exklusiven Exzessen kommt es in den multiethnischen Großreichen. An der Spitze steht der Genozid im Osmanischen Reich an den Armeniern, die der Kollaboration mit dem russischen Feind verdächtigt werden. Ebenfalls gegen eigene Staatsbürger richten sich die Exklusionshandlungen in Österreich-Ungarn. Die Ruthenen im Osten des Reichs, das unter Druck der zaristischen Armee stand, werden zu Tausenden hingerichtet, weil man sie, meist objektiv grundlos, der Sabotage und Spionage für den ethnisch verwandten Feind bezichtigt. In Großbritannien und den britischen Dominions kommt es zu Tausenden gewaltsamer Übergriffe gegen Deutsche, auch solche, die schon die Staatsbürgerschaft des Gastlandes angenommen haben, allerdings nur ausnahmsweise mit Todesopfern.
Militärische Misserfolge sowie systembedingte Probleme der zentralen Steuerung befeuern staatliche und militärische Exklusionshandlungen, die von der Verantwortung der militärischen und politischen Führung ablenken. Ethnische Minderheiten werden zu Sündenböcken für militärische Misserfolge und staatliche Steuerungsprobleme erklärt. Ein Beispiel dafür bilden im Ersten Weltkrieg die Juden im deutschen Reich. Zunächst als Teil der patriotischen Gemeinschaft akzeptiert und von den Behörden geschützt, werden sie spätestens ab 1916 zu Sündenböcken für kriegs- und systembedingte Versorgungsprobleme gestempelt.
Fazit: Klassenkonflikte, Geschlechterkonflikte, Nationalitätenkonflikte, partiell auch koloniale Konflikte verschwinden (scheinbar) bei Ausbruch des Krieges. Diskriminierte Gruppen wie Proletarier, Frauen, ethnische Minderheiten, kolonial Beherrschte ordnen sich freiwillig staatlicher Autorität unter, die sie zuvor bekämpft hatten. Die Unterordnung von Proletariern, Frauen, Nationalitäten, kolonialisierten Völkern ist immer mit Reziprozitätsansprüchen verknüpft, nach dem Motto: Wir helfen dem Vaterland in der Stunde der Not, dafür erwarten wir die Abschaffung unserer Diskriminierung nach dem Krieg. Wir erwarten volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung und sozialpolitische Unterstützung. Und so kommt es dann auch.
Die patriotischen Vergemeinschaftungen in den Kriegsgesellschaften des Ersten Weltkriegs sind nicht von Dauer. Das liegt im „kriegsgesellschaftlichen Dilemma“ begründet, welches ich im folgenden Beitrag 10 vorstelle.
Literatur
Gerhard Hirschfeld/ Gerd Krumeich/ Irina Renz (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 3. Auflage, Schöningh: Paderborn 2014.
Volker Kruse (2009): Mobilisierung und kriegsgesellschaftliches Dilemma. Beobachtungen zur kriegsgesellschaftlichen Moderne, in: Zeitschrift für Soziologie 38 (2009), S. 198-2014.
Volker Kruse (2015): Kriegsgesellschaftliche Moderne. Zur strukturbildenden Dynamik großer Kriege. UVK: Konstanz 2015.
Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949. München: Beck 2003.