Von René Tuma und Ajit Singh
Je nach Perspektive darf es entweder als ‚wohltuende Abwechslung‘ oder als ‚ungewohnte Neuheit‘ in einer sich neuordnenden Gesellschaft angesehen werden, an einer Liveveranstaltung teilzunehmen. Die von Hubert Knoblauch organisierte Veranstaltung „Gesellschaft unter Spannung – Sonderveranstaltung zu soziologischen Diagnosen der gegenwärtigen Um_Ordnungen mit oder nach Corona“ auf dem diesjährigen DGS-Kongress holte dafür den Raum des soziologischen Diskurses zurück in den Ort der Wissensvermittlung, genauer gesagt in den zweitgrößten Hörsaal H104 des Hauptgebäudes der Technischen Universität Berlin. Derlei Ortsbezeichnungen erscheinen gegenwärtig nahezu überflüssig, weil der „Weg“ zu einer Session vornehmlich über Links und Passwörter beschritten wird. Die Sonderveranstaltung fuhr hier jedoch zweigleisig. Während sich der Großteil des Publikums mit etwa 300 Zuschauenden via Youtube-Livestream zuschalten konnte, durfte eine kleine Gruppe von etwa 25 Teilnehmenden der Sitzung im Hörsaal beiwohnen und verlieh dem Anlass auch unter diesen Bedingungen einen angemessenen Rahmen. Auch die Autoren dieses Beitrags erlebten die Diagnoseveranstaltung aus unterschiedlichen räumlichen und medial-vermittelten Perspektiven (digital und vor Ort) und möchten nun im Folgenden die Erträge zusammenfassen.
Blickt man zurück, so kann die Veranstaltung schon in ihrer Form als Ausdruck der Themen und der Spannungen gelesen werden, die an dem Abend diskutiert wurden. Die ‘Übung’ bestand darin, vor dem Hintergrund der Pandemievermeidungsstrategie das Digitale als wesentliches Kommunikationsmedium einzusetzen und dabei gleichzeitig den Verlust der körperliche Kopräsenz zu verhindern. Das führte dazu, dass die meisten Zuhörer*innen vor ihren Geräten still, oder sollte man sagen entschleunigt da saßen und die Diskussion vor sich an den Bildschirm vorbeirauschen lassen konnten.
Von der Gesellschaftsanalyse zur “Soziologie der soziologischen Zeitdiagnose“
Der Nachfrage nach soziologischer Expertise hat sich in den vergangenen Monaten deutlich gesteigert. Durch die Corona Krise wurde klar, dass soziale Erklärungsmuster nicht alleine aus epidemiologischen und virologischen Befunden abgeleitet werden konnten. Die sich verändernden Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens im privaten wie im öffentlichen Raum, die Neuordnung beruflicher Arbeitsweisen im „Home Office“, die soziale Dauerformierung mit der Hervorbringung neuer sozialer Formen in Videokonferenzen sind Folgeerscheinungen der Pandemie, die ein Kerngebiet soziologischer Forschung berühren: die Beschreibung gesellschaftlichen Wandels.
Mit Recht ließ sich in den vergangenen Monaten mancher soziologische Schnellschuss kritisieren, der über Ad-hoc-Analysen erste Versuche einer Zustandsdiagnose der Corona-infizierten Gesellschaft anstellte. Gleichzeitig zeigte sich in diesen Momentaufnahmen auch die Möglichkeit erster Deutungs- und Orientierungsangebote für die vorläufige Einordnung der Krise. Die Corona-Pandemie ist zweifelsohne ein globales und ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, an der allgemeinere Zustände und Entwicklungen deutlich werden. Die Gesellschaft als Ganzes bildet daher auch den Gegenstand der Diagnose-Veranstaltung, wie Silke Steets in ihrer einführenden Moderation deutlich machte. Mit der Gegenüberstellung unterschiedlicher gesellschaftstheoretischer Ansätze geht es aber nicht nur um die Analyse der Gegenwartsgesellschaft, sondern auch um eine „Soziologie einer soziologischen Zeitdiagnose“.
Mit Hartmut Rosa, Andreas Reckwitz und Martina Löw wurde ein spannendes Podium zusammengestellt, die nach jeweils einem eigenem Input miteinander ins Gespräch gebracht wurden.
Hartmut Rosa und die still vor seinen Worten im Livestream sitzenden Zuschauer
Die Welt schien uns dank Corona für eine Weile stillzustehen, wie reagiert Hartmut Rosa darauf? In seinem engagierten und mit Verve (und Geschwindigkeit) vorgetragenen Statement greift Rosa das diagnostizierte Entschleunigungsgeschehen auf, und macht dies am weltweiten Rückgang der Zirkulation von Gütern und Menschen fest: Transport, Verkehr und Logistik kamen nahezu komplett zum Erliegen, vom sozialen Leben im öffentlichen Raum ganz zu schweigen. Wenngleich dieser Stillstand ökologisch betrachtet (zumindest temporär) positive Auswirkungen zeitigte, machte die Krise bereits bestehende Ungleichheiten und Probleme umso sichtbarer – so kann das unfreiwillige Stillgestelltsein Entbehrungen und Verluste nach sich ziehen (dazu später mehr), gleichzeitig verlagert sich die Bewegung ins Digitale, so sitzen wir unbewegt vor unseren Endgeräten und verfolgen im „rasenden Stillstand“ das Vorbeirauschen zunehmender Datenströme. Hat sich also nun durch Corona Paul Virilios Diagnose realisiert? Was bedeutet Corona nun für die Soziologie? Rosa tritt für eine Soziologie ein, die zwar kein sicheres Wissen über die Entwicklungen nach der Corona Krise haben könne, aber ihr ganzes Instrumentarium an Deutungsangeboten liefern müsse, von Daten, Statistiken und Fakten bis hin zu Meinungen und Positionen. Die Aufgabe sei es an diesem “Bifurkationspunkt” eine Wertediskussion zu ermöglichen, da es sich hier entscheide, ob die Entwicklung zurückfällt in den “Aggressionsmodus zur Welt”, oder ob eine neue (bessere) Zukunft im Handeln gestaltet werden kann.
Andreas Reckwitz und seine Theorie des Verlustes
Reckwitz setzt ähnlich wie Rosa bei der Krisenerfahrung an und nimmt dabei ebenfalls auch eine zeitliche Perspektive ein. Dabei diskutiert er Spannungen zwischen Fortschritt und Verlust. Nachdem er das Neue ja bereits ausführlich behandelt hat, zeigt er die Probleme auf, die Unfähigkeit der Moderne produziert, die keine Antwort auf die immanent produzierten Verlusterfahrungen liefert. Vor dem Hintergrund der dominanten Fortschrittsvorstellungen, die sich in der Spätmoderne als Optimierung bis hinein in die privatesten und intimsten Lebensformen und Praxen breitgemacht hat, wird jede Form des Verlusts dem Subjekt zugeschrieben. Mit dem Verlust bricht schließlich die Negativität in die Sozialwelt ein. Diese Verlusterfahrungen werden nicht produktiv umgewandelt. Dies gilt auch für die globale Gesellschaft, die Verlust zunächst nur unzureichend, in Form aggressiver Verlusterfahrung transformiert. Reckwitz systematisiert in seinem Beitrag diese Verluste und zeigt verschiedene Spielarten auf. Sie können ganz konkret als „Realverluste“ von Status, Macht und Kontrolle auftreten. Der Verlust der Biodiversität zeitigt so Corona als Menetekel. Daneben skizziert er „Zukunftsverluste“ als einen Verlust von Utopien, wohin sich das eigene oder das gesellschaftliche Leben hin entwickelt. Was hieraus erwachsen kann, ist Agonie oder der Verlust von Handlungs- und Steuerungsfähigkeit bis hin zu Angst und Wut. „Verlustängste“ wiederum verweisen auf die Angst, den gegenwärtigen Zustand (status quo) nicht erhalten zu können. Dennoch verweist Reckwitz auch auf Umkehrstrategien, in denen die Verlusterfahrung wie am Fall des Klimawandels spürbar wird, auch die Chance auf die Herstellung einer neuen Balance besteht.
Martina Löw und der Übergang zu Spannungen der Raumformen
Vor dem Hintergrund der Diagnosen zu Zeit und Fortschritt, die von Rosa und Reckwitz dargelegt wurden, denkt Löw Spannungen nicht zeitlich, sondern räumlich. Sie argumentiert auf Basis der Forschungen des SFB 1265, der mit dem Begriff der “Refigurationen” die Spannungen und gesellschaftlichen ‚Umbauten‘ in räumlicher Hinsicht untersucht. Verschiedene Raumformen (Territorien, Netzwerke, Orte und Bahnen) stehen nicht alleine oder einheitlich, sondern verschachteln sich und stehen in Spannung zueinander. Dieses Spannungsverhältnis konstituiert sich durch sich kontrastierende Logiken: Öffnungen und Schließungen, Homogenisierungen und Heterogenisierung räumlicher Wirklichkeitskonstruktion. Deutlich wird das daran, dass weltweit gleichzeitig immer mehr Grenzen und Mauern hochgezogen und Territorien damit eingehegt werden, aber gleichzeitig der globale Flugverkehr immer neue Verbindungsbahnen zwischen den Flughäfen der Welt erschließt. Angesichts einer globalen Epidemie wie dem Corona Virus zeigte sich ebenso anschaulich, dass trotz der voranschreitenden Reterritorialisierung von Nationalstaaten das Virus mühelos Grenzen überschreiten konnte und bis ins Lokale hinein städtische und nachbarschaftliche Räume grundlegend veränderte. Damit öffnet Löw die Debatte für eine räumliche und damit auch für eine globale Perspektive, die den methodischen Nationalismus, den Beck einst kritisiert hatte, systematisch überwindet. Sie betont, dass Diagnosen eine größere Reichweite aufweisen müssen, die über eine westliche-zentrierte Position hinausgehen.
„Zeitdiagnose ist die Benutzeroberfläche der Gesellschaftstheorie“
Die Sonderveranstaltung lieferte der Soziologie, die sich ja nicht nur nach innen, in ihren kleinteiligen disziplinären Diskussionen erschöpfen, sondern auch die großen Fragen angehen will, ein geeignetes Forum. Durch das hybride Format war es zudem möglich, auch Fragen des Onlinepublikums mit in die Diskussion aufzunehmen.
Die drei Vortragenden präsentierten unterschiedliche Perspektiven auf die Krise mit je eigenem theoretischen Zuschnitt. Zweimal basierte dieser auf einer zeitlichen, und einmal auf einer räumlichen Grundlage. Der Anspruch ist dabei jedoch bei allen Teilnehmenden klar über eine reine pointierte Ad-Hoc Diagnose hinauszugehen. Das Unbehagen mit dem Begriff der Zeit- oder Gegenwartsdiagnose wurde geäußert, denn hierauf hat die Soziologie ja kein Monopol oder Markenrecht. Die ihr eigene Leistung besteht darin, die Diagnosen an Theorie zu koppeln, so seien diese, wie Reckwitz pointiert feststellte, quasi “die Benutzeroberfläche der Gesellschaftstheorie”. Welches Potential sich hierin verbirgt, zeigte einst Ulrich Beck, der nicht nur zeitgeistig von der Risikogesellschaft zu berichten wusste, sondern ihr ein theoretisches Fundament gab, das bis heute (auch in vielen Ideen der Vorträge) nachhallt. Alle drei Vorträge, so unterschiedlich sie waren, eint jedoch, dass sie sich wechselseitig ergänzen und in der Zusammenschau doch ein vielfältiges, spannungsgeladenes aber dadurch auch kontrastreiches Bild ergeben.