Seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist die Ablehnung von Rassismus auch Bestandteil der normativen Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften. Für die Überzeugung, dass Rassismus eine unzeitgemäße, wissenschaftlich widerlegte, moralisch abzulehnende und politisch zu bekämpfende Ideologie ist, kann inzwischen mit breiter Zustimmung gerechnet werden. Gleichwohl wirft die Frage einige Schwierigkeiten auf, wie es gelingen kann, nicht rassistisch zu sein und Rassismen nicht nur abzulehnen, sondern in überzeugender und wirksamer Weise zu kritisieren sowie zu vermeiden, dass die Kritik eine differenzierte Analyse durch Moralisierung ersetzt.
Stuart Hall hat bereits 1980 akzentuiert, dass von unterschiedlichen Formen von Rassismus und damit von Rassismen im Plural auszugehen ist, die dynamisch und kontextabhängig sind (Hall 1980: 305–345). Daran anschließend haben Annita Kalpaka und Nora Räthzel Anfang der 1990er Jahre in ihrer damals einflussreichen Publikation „Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein“ darauf hingewiesen, dass rassistische Denkweisen und Praktiken keineswegs allein als Bestandteil traditioneller rassistischer Ideologien wirksam sind, sondern modernisierte Varianten in den Blick zu nehmen und eigene Verstrickungen in rassistische Hierarchien zu reflektieren sind (Kalpaka/Räthzel 1990). Pierre-André Taguieff hat in seiner zuerst 1988 erschienenen umfangreichen Studie „Die Macht des Vorurteils“ argumentiert, dass bestimmte Formen der Rassismuskritik selbst auf vorurteilsgeleiteten Annahmen über diejenigen basieren, die von ihren Gegnern als Rassisten imaginiert werden und die Logik antirassistischer Kritik dann deutliche Ähnlichkeiten zu den von ihm kritisierten rassistischen Denkweisen aufweist (Taguieff 2000). In der neueren Rassismusdiskussion hat Loïc Wacquant dezidiert für eine wissenschaftliche Analytik rassistischer Herrschaft plädiert, die Distanz zu common-sense Annahmen einnimmt sowie sozialwissenschaftliche Analysen nicht durch ein moralisches Schema der vereindeutigenden Unterscheidung in Täter und Opfer ersetzt (Wacquant 2023). Wiederkehrend problematisiert wurde eine übergeneralisierende Verwendung des Rassismusbegriffs. Kennzeichnend dafür ist der Verzicht auf eine differenzierte, empirisch fundierte Analyse der Ursachen, Formen und Folgen sowie der Reichweite unterschiedlicher Formen von biologischem und kulturellem Rassismus sowie anderer Formen ethnischer, religionsbezogener oder nationalistischer Diskriminierung sowie der Verdacht, Rassismus sei eine alle gesellschaftlichen Sphären durchdringende Herrschaftsform.
Die damit angesprochenen Problematiken weisen auf einen theoretischen Klärungsbedarf hin, der nicht allein die Fragen betrifft, was die historischen und gesellschaftlichen Ursachen und Gründe von Rassismus waren bzw. sind, sondern auch, welche Widerstände und Kritik rassistische Denkweisen und Praktiken in den jeweiligen Kontexten haben. Sozialwissenschaftlich erklärungsbedürftig ist also nicht nur die Entstehung und Etablierung von Rassismus, sondern auch die Artikulationen von heterogenen Formen der Rassismuskritik. Damit stellt sich die Frage, was die gesellschaftlichen Ermöglichungsbedingungen von Rassismuskritik waren und sind. Darauf ausgerichtete Klärungen sind insbesondere deshalb relevant, weil es zweifellos nicht tragfähig ist, gegenwärtige Rassismuskritik als eine externe Kritik zu verstehen, die von außen an eine rassistische Gesellschaft herangetragen wird. Vielmehr handelt es sich um eine gesellschaftlich situierte Kritik, deren Voraussetzungen, Formen und Folgen sozialwissenschaftlich zu analysieren sind.
Die gesellschaftliche Situierung auch von Rassismuskritik wird exemplarisch in der Selbstverständlichkeit deutlich, mit der Immanuel Kant über die Frage nachdenkt, wie viele Rassen es gibt und was diese unterscheidet, während er zugleich die Einheit der Menschengattung als Vernunftwesen betont sowie das Prinzip der jedem Individuum zukommenden Würde begründet (Kant 1964 [1775]: 11–30; Kant 1964 [1785]: 65–82). Gesellschaftlich situierte Zusammenhänge von jeweiligen Rassismen und den Formen ihrer Kritik zeigen sich auch bereits in den Zusammenhängen von Sklaverei, Rassismus und Abolitionismus: Historisch älteren Formen der Sklaverei liegen noch keine rassistischen Einteilungen zugrunde, sie operieren als gewaltgestützte Macht, die nicht auf ideologische Rechtfertigungen angewiesen ist (Eckert 2021: 36ff.). Dagegen waren sowohl die Entstehung des transatlantischen Sklavenhandels im Kontext der Plantagenökonomie und seine nunmehr rassistische Ausprägung ebenso eng mit dem europäischen Expansions- und Modernisierungsprozess verschränkt wie später dann die formelle Abschaffung der Sklaverei (ebd.: 74ff.).
Im Folgenden werden unterschiedliche Konstellationen von Rassismen und Rassismuskritik in der Absicht aufgezeigt, für problematische Vereinfachungen und Verkürzungen zu sensibilisieren, die aus einem ahistorischen und die eigene gesellschaftliche Situierung ausblendenden Selbstmissverständnis von Rassismuskritik resultieren können. In der Perspektive einer reflexiven Soziologie werden unterschiedliche Problematisierungsweisen von Rassismus skizziert sowie aufgezeigt, was dabei jeweils als Rassismus in den Blick genommen wird und was die Grundlagen und Implikationen der Kritik sind (Scherr 2020: Scherr/Müller 2025).
Situierungen von Rassismus und Rassismuskritik
Historische und gegenwärtige Rassismen versuchen in unterschiedlicher Weise rassistische Einteilungen und Hierarchien zu begründen und zu rechtfertigen. Dies ist immer dann erforderlich, wenn das Postulat der Existenz ungleicher und ungleichwertiger „Rassen“ gesellschaftlich nicht als vermeintlich unstrittige Tatsache betrachtet wird, also ein Bedarf an Begründung und Rechtfertigung besteht.
Bereits im historischen Kontext der europäischen Eroberung Mittel- und Nordamerikas waren Sklaverei und Rassismus keineswegs unumstritten. Vielmehr wurde von Bartholomé de Las Casas, dem damaligen Bischof von Chiapas in Mexiko, eine religiös begründete Kritik artikuliert, die zu Kontroversen und religiösen Rechtfertigungsversuchen geführt hat (Frederickson 2011: 53ff.). Die Auseinandersetzung über Rassismus wurde dabei im Rahmen eines christlich-religiösen Weltbildes geführt.
Im Unterschied dazu kommen gegenwärtiger Rassismus und gegenwärtige Rassismuskritik gewöhnlich ohne eine religiöse Begründung aus. Gleichwohl kann das Argument der gleichen Würde aller Individuen auch gegenwärtig durchaus noch theologisch begründet werden. Dies war etwa bei Papst Franziskus der Fall, der mit dem Verweis auf das Prinzip einer universellen Geschwisterlichkeit aller Menschen Rassismus als Verstoß gegen die Menschenwürde und als „ein Virus, das leicht mutiert, und, anstatt zu verschwinden, im Verborgenen weiter lauert“ problematisiert.[1] Dies hat bei ihm auch zu einer deutlichen Kritik der Migrationspolitik der Trump-Administration geführt.[2] Eine solche Positionierung des Papstes kann innerhalb der katholischen Kirche und von gläubigen Katholik:innen nicht ignoriert werden, entfaltet ihre Relevanz aber nur dort und von diesen – außerhalb dieser Sphären ist die Geltung gesellschaftlich anders situiert.
Damit soll exemplarisch verdeutlicht werden, dass Rassismen und jeweilige Formen der Rassismuskritik kontextabhängig sind, d.h. auf Hintergrundüberzeugungen verweisen, die für jeweilige (religiöse, politische, wissenschaftliche) Weltbilder spezifisch sind. Das führt zu der Frage, welche Ansatzpunkte für Rassismus und für Rassismuskritik in den jeweiligen Kontexten gegeben sind. Dies ist politisch (und auch pädagogisch) folgenreich, denn eine Rassismuskritik, die auf Argumente (statt auf Verbote, Sanktionen oder moralische Beschämung) setzt, ist darauf verwiesen, an entgegenkommende Hintergrundüberzeugungen ihrer jeweiligen Adressat:innen anknüpfen zu können, um diese davon zu überzeugen, dass Rassismus auch von ihnen und im Rahmen ihres Weltbildes abzulehnen ist.
Problematisierungsweisen von Rassismus
Rassistische Klassifikationen entwickelten sich in Europa seit dem 16. Jahrhundert im Kontext der europäischen Expansion und damit in Verbindung mit Sklavenhandel und Kolonialismus (Frederickson 2011: 46ff.). Rassismus entstand dabei als Ideologie, die ein auf körperliche Unterschiede (Hautfarbe, Physiognomie) bezogenes Einteilungsschema sowie ein Erklärungsschema für Unterschiede des gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungsniveaus herstellt. Die Existenz unterschiedlicher „Rassen“ wurde auch in der damaligen religiösen Kritik des Rassismus (s.o.) als unstrittige Tatsache vorausgesetzt. Dennoch ging man davon aus, dass die Menschen aller „Rassen“ vernunftbegabte Wesen sind und als solche anerkannt werden sollen, also nicht versklavt werden dürfen (ebd.: 54ff).
Eine Rassismuskritik, welche die Existenz unterscheidbarer „Rassen“ annimmt, ist noch Mitte des 20. Jahrhunderts gängig. In der Zusammenfassung des damaligen Diskussionstandes durch die UNESCO wurde 1950 argumentiert, dass von einer Einheit der Gattung Mensch auszugehen ist, also davon „that all men belong to the same species“ (UNESCO 1950: 6). Deshalb sei es bei der Thematisierung von Unterschieden zwar angemessener, „to drop the term ‚race‘ altogether and speak of ethnic groups“ (ebd.: 5). Gleichwohl wird dort noch an der Vorstellung einer Zulässigkeit rassialisierender Einteilungen zur Erklärung körperlicher Unterschiede – aber ausschließlich dafür – festgehalten. Demgegenüber wird inzwischen davon ausgegangen, dass selbst körperliche Unterschiede keine klare Abgrenzung zwischen nach Kriterien der „Rasse“ unterscheidbaren Kollektiven begründen können, sondern auch bezogen auf die bloße Körperlichkeit von fließenden Übergängen und Vermischungen auszugehen ist. Rassen, so der sozialwissenschaftliche Konsens, existieren nur in der Vorstellungswelt von Rassist:innen.
Folglich können zunächst zwei basale Problematisierungsweisen von Rassismus unterschieden werden: Zum einen die historisch länger zurückreichenden Kritikstrategien, welche die Existenz von „Rassen“ als Sachverhalt voraussetzen und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen bestimmte soziale Verhältnisse kritisieren, die durch Rassismus legitimiert werden. Zum anderen jüngere Kritikstrategien, die die rassische Klassifikation selbst in Frage stellen und als Teil des Problemzusammenhangs begreifen. Diese beiden Problematisierungsweisen haben jeweils unterschiedliche Ausprägungen, die im Folgenden skizziert werden.
Problematisierungen von Rassismus, welche die Existenz von „Rassen“ als Sachverhalt voraussetzen
a. Kritik von Rassismus als Legitimation von extremen Formen der Ausbeutung und gewaltgestützten Herrschaft, so bereits 1552 bei Bartolomé de Las Casas mit einer christlich religiösen Begründung und im Kontext der Haitianischen Revolution 1791 mit explizitem Bezug auf die französische Erklärung der Bürger- und Menschenrechte bei Toussaint Louverture (Frederickson 2011: 53ff.).
Modus der Kritik: Aufgrund der Gleichheit aller Menschen ist die offenkundige Außerkraftsetzung elementarer moralischer Prinzipien nicht rechtfertigbar.
b. Kritik von Rassismus als Legitimation sozialer Ungleichheiten in Verbindung mit der Forderung nach ökonomischer und politischer Gleichstellung, so klassisch bei W.E.B. Du Bois, dem ersten afroamerikanischen Soziologen, der eine soziologische Rassismuskritik begründet hat (Du Bois 2005 [1903]), sowie im Kontext des First Universal Races Congress (1911). Im Weiteren dann in einflussreicher Weise bei Martin Luther King, dort in Verbindung mit einem christlich begründeten moralischen Universalismus (Scharenberg 2011).
Modus der Kritik: Kollektive Benachteiligung aufgrund rassistischer Diskriminierung steht in Widerspruch zur Idee gleicher Rechte und Freiheiten aller Individuen.
c. Kritik von rassistischen Klassifikationen als wissenschaftlich nicht tragfähige biologistische Erklärung sozialer Phänomene, so bei Max Weber, der sich beim ersten Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) – mit Verweis auf seine Kontakte zu Du Bois – gegen die Etablierung des Rassebegriffs als soziologische Grundkategorie wendet (Müller 2020).
Modus der Kritik: Die Erklärung sozialer Verhältnisse durch biologische Gegebenheiten ist wissenschaftlich nicht belegbar; die gängigen Behauptungen über die vermeintlichen Eigenschaften der rassistisch Klassifizierten stehen in Widerspruch zu relevanten empirischen Sachverhalten.
d. Kritik von Rassismus als weiße, westliche Herrschaft gegenüber „Schwarzen“, People of Colour (PoC) bzw. Black, Indigenous, and other People of Color (BIPOC), klassisch bei Malcolm X, dann in Varianten der gegenwärtigen identitätspolitischen und postkolonialen Ansätze.
Modus der Kritik: Selbstermächtigung für antirassistischen Kampf gegen weiße Vorherrschaft in Verbindung mit einer Distanzierung vom universalistischen Modus der Kritik.
Problematisierungen der rassischen Klassifikation
e. Kritik der biologischen Rassekonstruktion als ideologisches Klassifikationsschema, das rational nicht begründbar ist, so etwa bei Claude Levi-Strauss (Lévi-Strauss 2019).
Modus der Kritik: Die Idee biologisch klar unterscheidbarer Rassen ist naturwissenschaftlich nicht tragfähig sowie auch keine tragfähige Erklärung kultureller Unterschiede und sozialer Hierarchien.
f. Kritik des Kulturrassismus als funktionales Äquivalent des biologischen Rassismus nach der erfolgreichen Delegitimation des biologischen Rassismus (Miles 1989; Taguieff 2000; zur Diskussion in Deutschland s. u.a. Rommelspacher 1995 und die Beiträge Melter/Mecheril 2009).
Modus der Kritik: Ideologiekritische Analyse der Verwendung des Kulturbegriffs als funktional äquivalentes Substitut für „Rasse“; Zurückweisung kulturdeterministischer Erklärungen individuellen und kollektiven Handelns und von Annahmen über unüberwindbare Differenzen zwischen Kulturen.
Ob, und wenn ja, in welcher Weise Unterscheidungen zwischen Kulturen und klassifikatorische Einteilungen in Ethnien als wissenschaftlich begründbar gelten können und welche Erklärungskraft sie für Identitätsbildung, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen haben, wird anhaltend kontrovers diskutiert (s. etwa Scherr 2000; Wieviorka 2003; Brubaker 2007; Mende 2015; Appiah 2019). Kulturdeterministische Konzepte und die Vorstellung vermeintlich klar abgrenzbarer und in sich widerspruchsfreier Kulturen sind dabei begründet kritisiert worden, was aber nicht heißt, dass die Annahme kultureller Unterschiede grundsätzlich obsolet ist.
Herausforderungen einer reflexiven Rassismuskritik heute
Jede sozialwissenschaftliche Beobachtung und Beschreibung geht mit spezifischen Ein- und Ausschlüssen einher, was auch für die Reichweite und die Grenzen der jeweiligen Problematisierungsweisen von Rassismus folgenreich ist. Die Perspektive einer reflexiven Kritik (vgl. dazu Müller/Scaramuzza 2024) ist deswegen darauf verwiesen, nicht ‚nur‘ die Entstehung der Begründungen und Legitimierungen von Rassismus, sondern auch die der Rassismuskritik in den Blick zu nehmen. Es geht demnach darum, die Gleichursprünglichkeit von Rassismus und Rassismuskritik zu analysieren. Zugespitzt formuliert: Wo Rassismus existiert, existiert auch seine Kritik, historisch und empirisch. Theoretisch zeichnen sich derzeit aus einer reflexiven Perspektive vor allem vier Herausforderungen ab:
Erstens besteht dringender Klärungsbedarf in Bezugnahmen auf den Begriff „struktureller Rassismus“, der inzwischen nicht mehr nur in wissenschaftlichen Kontexten (s. dazu u. a. Biskamp 2023: 156ff.; El-Mafaalani 2021: 39ff.: Gomolla 2023: 172ff.) verwendet wird, sondern auch in der medialen[3] und politischen[4] Kommunikation. In einer einschlägigen repräsentativen Befragung stimmen auch 48,9 % der Aussage zu „Wir leben in einer rassistischen Gesellschaft“ (DEZIM 2022: 56). Während in wissenschaftlichen Texten akzentuiert wird, dass es klärungsbedürftig ist, ob, und wenn ja, in welcher Weise Rassismus strukturell bedingt und verankert ist, wird in der medialen und politischen Kommunikation sowie in Kreisen des antirassistischen Aktivismus wiederkehrend unterstellt, dass die Gesellschaft insgesamt rassistisch strukturiert sei. Rassismus im engeren Sinne ist heute jedoch nicht konstitutiv für die ökonomische, rechtliche und die politische Ordnung, wie dies zu Zeiten der Rassentrennung in den USA oder der Apartheid in Südafrika der Fall war. Ganz im Gegenteil: Explizit rassistisches Handeln ist justiziabel und wird in der Gesellschaft von einer überwiegenden Mehrheit abgelehnt. Dass rassistische Ressentiments, Stereotype und Praktiken gleichwohl weiterhin existieren und ggf. auch in die Strukturen von Organisationen eingeschrieben sind sowie politische Entscheidungen beeinflussen, soll damit nicht bestritten werden. Inzwischen liegen zahlreiche wissenschaftliche Studien vor, die hervorheben, dass rassistische Diskriminierung nicht hinreichend als Folge vorurteilsgeleiteten Handelns verstanden werden kann, sondern auch aus Entscheidungsverfahren, Regeln, Konventionen und Routinen von Institutionen und Organisationen resultieren kann (s. etwa Gomolla 2023 und Scherr 2023 sowie die Beiträge in Scherr/Reinhardt/El-Mafaalani 2023, Teil II und III). Ein diffus verwendeter Strukturbegriff, bei dem Annahmen über rassistische Strukturen vage und unbestimmt bleiben, ist für eine sozialwissenschaftliche Analyse solcher Sachverhalte jedoch kaum hilfreich. Erforderlich ist es vielmehr, empirisch und theoretisch fundiert zu betrachten, ob und ggf. wie z. B. ökonomische, politische, organisationale oder rechtliche Praktiken rassistisch begründet oder legitimiert werden sowie etablierte Gewissheiten und Routinen zu Benachteiligung und Ausgrenzung führen, obwohl eine rassistische Zielsetzung resp. eine explizite ideologische Überformung nicht gegeben ist. Sichtbar wird dann auch genauer, wo, wie und inwiefern der Abbau und die Kritik jeweiliger vorhandener rassistischer Praktiken und Legitimationen nach wie vor dringlich und erforderlich sind.
Die zweite Herausforderung besteht darin, dass die skizzierten Problematisierungsweisen von Rassismus in aktivistischen Diskursen gelegentlich in ein binäres Schwarz-Weiß-Schema übersetzt werden, in dem ganz generell „Weiße“ als Unterdrücker:innen und „Schwarze“ bzw. People of Colour als Opfer von Ausbeutung und Unterdrückung imaginiert werden. Folgenreich werden die problematischen Konsequenzen einer solchen binären Dichotomie regelmäßig, wenn dieses Schema auf Jüdinnen und Juden angewendet wird und diese dabei als ‚Weiße‘ etikettiert werden. Islamistische Repression und Gewalt können dann als Kampf gegen weiße Vorherrschaft und der moderne israelbezogene Antisemitismus mit einer antirassistischen Haltung legitimiert werden (vgl. dazu auch Scherr 2021; Müller 2025).
Drittens ist es diskussionsbedürftig, ob und wie Rassismuskritik gegenwärtig Bestandteil von Tendenzen in Richtung auf eine post-rassistische Transformation von Macht- und Ungleichheitsverhältnissen im globalisierten Kapitalismus sind, die mit einer meritokratischen Ideologie einhergehen, für die tradierte rassistische Einteilungen ein zu überwindender Störfaktor sind (Scherr 2017).
Die vierte Herausforderung besteht unseres Erachtens in der Tendenz zur Ersetzung von Analyse durch Moral. Die verschiedenen Modi der Kritik können durch moralische Haltungen so stark überlagert und überformt werden, dass die für sozialwissenschaftlich reflexive Zugänge unhintergehbare Differenz von Empirie und Analyse einerseits, moralischen Überzeugungen und moralisch motivierten Haltungen andererseits nicht mehr aufrechterhalten, sondern in unzulässiger Art und Weise vermischt wird. Moralische Eindeutigkeit tritt dann an die Stelle empirischer Analysen und theoretischer Beschreibungen. Im Extremfall werden diese auch nicht benötigt, sie scheinen überflüssig zu sein oder werden abgewehrt.
Aussichtsreiche Rassismuskritik wird auf eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Formen und Legitimationen von Rassismus angewiesen sein. Eine abstrakte, kontextunabhängige Rassismuskritik kann moralisch befriedigend sein; Rassismuskritik kann jedoch nicht voraussetzen, dass alle dasselbe moralische Verständnis teilen, dass die Idee der gleichen Würde und der gleichen Rechte jedes Individuums und die Ablehnung aller Formen von Diskriminierung für sie fraglos selbstverständlich ist. Praktiker:innen der politischen Bildung können ein leidiges Lied davon singen: Es gibt keine voraussetzungslose, kontextfreie und deshalb überall zustimmungsfähige Rassismuskritik. Reine Moralisierung und/oder Sanktionierung mag zwar attraktiv und hilfreich erscheinen, scheitert jedoch an den Überzeugungen der Adressat:innen (Haug 1992). Diese verstehen, was ‚man nicht sagen darf‘, jedoch nicht, warum. Eine überzeugende Kritik muss an die Überzeugungen der Adressat:innen anschließen, für diese überzeugend sein.
Für angemessene politische, rechtliche und pädagogische Strategien gegen Rassismus ist es erforderlich, sozialwissenschaftliche Analysen fortzuführen, die nicht ‚nur‘ befähigen zu verstehen, wie und warum welche Rassismen bestehen und andauern, sondern auch, wie sich antirassistische Überzeugungen und Praktiken in denselben Strukturen nachhaltig und zukunftsweisend formieren können. Eine Ersetzung von Analyse durch Moral ist dafür nicht hilfreich.
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Über die Autoren
Stefan Müller
Professor für Bildung und Sozialisation unter Bedingungen sozialer Ungleichheiten an der Frankfurt University of Applied Sciences, Forschungsbereich ‚Gesellschaftliches Erbe des Nationalsozialismus‘.
Albert Scherr
war Professor am Institut für Soziologie der Pädagogischen Hochschule Freiburg und ist Research Fellow an der University of the Free State, QuaQua Campus, South Africa.
[1] Papst Franziskus, Enzyklika Fratelli tutti über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft, 2020, https://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20201003_enciclica-fratelli-tutti.html, hier Art. 96.
[2] Siehe dazu das Schreiben an die US-amerikanischen Bischöfe, das auch eine explizite Kritik der politischen Moral des Vizepräsidenten J.D. Vance enthält: https://www.domradio.de/glossar/schreiben-von-papst-franziskus-die-us-bischoefe-zur-migrationspolitik-der-regierung-unter
[3] Siehe etwa https://mediendienst-integration.de/news/was-ist-struktureller-rassismus/ oder https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-tag-mit-teresa-koloma-beck-wie-viel-strukturellen-100.html
[4] Siehe etwa https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/faqs/DE/ethnische_herkunft_rassismus/04_institutioneller_struktureller_rassismus.html oder https://www.youtube.com/watch?v=r6rIjA00U5E.