Rassismus – und was noch? Soziologische Anmerkungen zu den Neonazi-Morden (SozBlog 2012, Treibel 4)

Annette Treibel, 24. Februar 2012, für SozBlog, den Blog der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 

Am 23. Februar 2012 fand im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt die Gedenkfeier für die Opfer der Neonazi-Morde statt. In den Jahren 2000 bis 2006 wurden Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik und Halit Yozgat sowie Michèle Kiesewetter im Jahr 2007 offensichtlich von Mitgliedern der Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ ermordet. Für die Angehörigen, von denen viele gestern anwesend waren, waren Neonazis als mögliche Täter in Frage gekommen. Auch einige wenige Ermittler hatten dies offensichtlich nicht ausschließen wollen. Aber tatsächlich wurden diese Verbrechen nicht in einen Zusammenhang und schon gar nicht mit neonazistischer Gewalt gebracht. Neun ermordete Migranten, eine ermordete Polizistin – bis zum November 2011 undenkbar, dass Landes- und Bundesbehörden von Polizei über Verfassungsschutz bis Innenministerien auf dem ‚rechten Auge so blind‘ sein konnten.

Als Hauptursache wird jetzt meist von Rassismus gesprochen: Rassistische Neonazis; mehr oder weniger heimlicher Rassismus und rechte Gesinnungen auch bei Ermittlern; die Rede von ‚Döner-Morden‘ keineswegs nur in der Boulevard-Presse (vgl. http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,809512,00.html ).

Meiner Meinung nach kann dieser Zugang möglicherweise für das ‚Zwickauer-Trio‘ und seine Unterstützer und Gesinnungsgenossen gelten, für eine soziologische Erklärung der Ermittlungskatastrophen reicht er jedoch nicht aus: Der Einwanderer-Status von neun der zehn Opfer alleine kann die Gleichgültigkeit und der Fehl- bzw. Nicht-Ermittlungen nicht erklären.

Was wäre gewesen, wenn die Opfer prominent gewesen wären?

Stellen wir uns vor, es wären nicht ‚Klein-Unternehmer‘, sondern ‚Groß-Unternehmer‘, Ministerinnen, Fußballspielerinnen oder Filmschauspieler mit Migrationshintergrund ermordet worden. Unvorstellbar, dass dann die Ermittlungen im Sande verlaufen wären.
In dem widerlich-spöttischen Paulchen-Panther-Video und weiteren Dokumenten wird deutlich, dass die Opfer für die Täter anonyme ‚Nummern‘ in der Masse von Einwanderern waren. Die Täter setzten auf der einen Seite auf die Vergesslichkeit und die Gleichgültigkeit von Öffentlichkeit und Ermittlern gegenüber ‚kleinen Leuten‘ ohne Prominenz-Faktor. Auf der anderen Seite kalkulierten sie in der eigenen rechtsradikalen Szene wohl mit Zuspruch für ihre Zählung ‚Türke 9‘ (vgl. http://www.stern.de/politik/deutschland/film-des-nsu-ein-video-erschuettert-deutschland-1751000.html ).

Für mich geht es also um mehr, als darum, dass die Ermittlungsbehörden auf dem ‚rechten Auge blind‘ sind. Offensichtlich kam verschärfend so etwas wie Klassismus hinzu. Dabei handelt es sich um eine bislang wenig thematisierte Form der Geringschätzung, die mit dem sozialen Status zu tun hat. Ist dieser Status wie im Falle der Gemüsehändler, Änderungsschneider oder Blumenhändler eher kleinbürgerlich und gibt es keine Lobby der ‚altdeutschen‘ Mehrheitsgesellschaft, die aufhorcht, so schert sich offensichtlich niemand mit Einfluss um die Fehlermittlungen.

Darüber hinaus zeigt die Mordserie des NSU die Schieflage im Umgang mit Migration in Deutschland.

Der Umgang mit ‚Migration‘: Die Gleichzeitigkeit von zu viel und zu wenig Aufmerksamkeit

Es gibt ein doppeltes Problem mit der Aufmerksamkeit: zu viel Aufmerksamkeit und gleichzeitig zu wenig Aufmerksamkeit für ‚MigrantInnen‘.

Zu viel Aufmerksamkeit gibt es dann, wenn Deutsche mit dunklen Haaren oder Augenbrauen oder Hautfarbe und/oder mit ausländisch klingendem Namen immer und ohne Unterlass auf ihre ‚Migranteneigenschaft‘ verwiesen werden und Auskunft darüber geben sollen, wo sie ‚denn herkommen‘ und wann sie ‚denn zurückgehen‘, wie die Journalistin Ferdos Forudastan eindrücklich schildert: http://www.fr-online.de/meinung/kolumne-von-hier–aus-freiburg–echt-wahr-,1472602,11548256.html . In beträchtlichem Maße sind solche Menschen eben so wenig migriert wie diejenigen, die so fragen. Hier ist also weniger Aufmerksamkeit gefragt. Wenn man nett und interessiert sein will, kann man ja mal nach den Interessen und nicht nach dem (vermeintlichen) Herkunftsland fragen.

Zu wenig Aufmerksamkeit für MigrantInnen zeigen die Morde des ‚NSU‘: Für die Familienangehörigen war es naheliegend, dass die Täter aus dem rechtsextremen Milieu stammen könnten. Das konnte jedoch nicht sein – weil nicht sein kann, was nicht sein darf. In Zukunft gilt es also, aufmerksamer für den Fall zu sein, dass tatsächlich Menschen alleine deshalb diskriminiert und attackiert werden, weil sie als Migrantinnen oder Migranten wahrgenommen werden. Hier ist also mehr Aufmerksamkeit gefragt. Ich bin gespannt, ob die Arbeit des Ende Januar eingerichteten Untersuchungsausschusses wenigstens in der Aufklärung entsprechende Wirkung zeigt.

Für die Forschung und für die Öffentlichkeit wäre gleichermaßen interessant, wie das Deutschland der ‚Alt- und der Neudeutschen‘ eigentlich ist und sein soll. Dann würde der Migrationshintergrund wirklich in den Hintergrund und das Zusammenleben mit seinen Schatten- und seinen Lichtseiten (kurz: mit seiner Normalität) in den Vordergrund treten. Und dabei geht es darum, es auszuhalten, dass Menschen verschieden sind und sich frei entfalten können und zwar – wie Semiya Simsek, die Tochter des ermordeten Enver Simsek, es auf der Gedenkfeier zusammenfasste, „unabhängig von Nationalität, Migrationshintergrund, Hautfarbe, Religion, Behinderung, Geschlecht oder sexueller Orientierung“. In dieser einschlägigen Intersektionalitäts-Liste fehlt jedoch wiederum die zentrale soziologische Kategorie: Klasse bzw. soziale Herkunft oder sozialer Status. Der Kristallisationspunkt sozialer Ungleichheit wird auch hier – bewusst oder unbewusst – ausgespart. Das sagt nicht unbedingt etwas über die Rednerin, aber einiges über die gängigen Diskurse zu Machtverhältnissen, deren entscheidende Mechanismen nicht benannt werden. Vielleicht ist eine Gedenkveranstaltung auch nicht der rechte Ort …

 

Weitere Links und Literaturhinweise:

Zur Gedenkfeier vgl. http://www.fr-online.de/neonazi-terror/gedenken-fuer-die-neonazi-opfer–das-darf-sich-nie-wiederholen-,1477338,11694368.html .

Rede von Semiya Simsek vgl. http://www.berliner-zeitung.de/neonazi-terror/gedenken-an-die-neonazi-morde–wir-durften-nicht-opfer-sein–,11151296,11693236.html .

Interview mit der Ombudsfrau Barbara John: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012-02/neonazi-opfer-gedenkveranstaltung-john

Ermittlungsstand zum sog. ‚Zwickauer Trio‘: http://www.mdr.de/nachrichten/zwickauer-trio244.html .

Der Auftrag des am 26. Januar 2012 eingesetzten Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/084/1708453.pdf .

Literaturhinweise zu ‚Klassismus‘: Kemper, Andreas/ Heike Weinbach: Klassismus. Münster 2009; Winker, Gabriele/ Nina Degele: Intersektionalität. Bielefeld 2009

Ein Gedanke zu „Rassismus – und was noch? Soziologische Anmerkungen zu den Neonazi-Morden (SozBlog 2012, Treibel 4)“

  1. gefällt mir gut, dass hier auf den Klassenaspekt der Morde eingegangen wird. Allerdings würde ich sagen, dass es sich dermaßen nicht nur in den „gängigen Diskurse zu Machtverhältnissen“ verhält, sondern auch in denen der Sozialwissenschaften verhält es sich ähnlich. Klasse hat sich bisher nicht in die Reihe der identitären Kategorien (Rassizifierzung und Geschlecht) einordnen lassen, ohne dass entscheidende Aspekt rausgefallen wären.
    Auch die Theoretisierung von Degele und Winker ist, ohne mich jetzt tiefergehend mit ihr auseinandergesetzt zu haben, soweit ich weiß nicht die unumstrittenste.

    Ich denke ein Konzept der Klasse, welches mit der Theoretisierung anderer Machtmechanismen harmonisiert, ist im Moment wie eine eierlegende Wollmilchsau…

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