Auf den ersten Blick scheint es so (und das wurde auch in den Kommentaren zu meinem Blog sichtbar), als habe die qualitative Sozialforschung in den Anfangsjahren einen Bestand an Methoden entwickelt, der im Laufe der letzten Jahrzehnte nur ausgebaut, verfeinert und verbessert wurde. Die qualitative Sozialforschung (so zumindest der erste Eindruck) ist bei diesem Prozess weitgehend mit sich identisch geblieben.
Mir scheint diese These von der sich nur verbessernden qualitativen Sozialforschung nicht zutreffend zu sein, denn diese Art der Forschung hat sich maßgeblich geändert – und zwar nicht nur die Praxis, auch in der Methodologie. Bedingt sind diese Umgestaltungsprozesse auch durch die veränderte Wirklichkeit (z.B. durch die allgemeine Mediatisierung), sicherlich aber auch durch die neuen Aufzeichnungs- und Auswertungsmedien. Die Hochschulreformen (Bologna) und die veränderte Vergabepraxis von Drittmitteln und natürlich die Tatsache, dass Forschung nicht mehr nur an den Universitäten und Instituten, sondern auch von Unternehmen durchgeführt wird, bedingen und gestalten ebenfalls den Wandel der Sozialforschung. Diese schleichende Umgestaltung der qualitativen Sozialforschung berührt m.E. auch den Kern dieser Forschungsstrategie, die angetreten war, den (subjektiven) Sinn von Handeln zu erfassen und dadurch Handeln zu verstehen und zu erklären.
Die qualitative Sozialforschung hat diesen tief greifenden Wandel bislang weder zur Kenntnis genommen noch reflektiert. Dieser Wandel lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen feststellen. Hier einige wichtige Entwicklungen stichwortartig und im Überblick:
Arbeitspraktiken: Von der Methodologie zur Methode, von der theoretischen Begründung hin zur praktischen Anwendung (Ablösung der Methoden von ihrer methodologischen Begründung); vom Einzelfall zur großen Stichprobe, von der Reflexion zur Anwendung, von der Kunst zur Massenproduktion, Objektivierung (Rationalisierung und Taylorisierung: Trennung der Forschungsschritte – Arbeitsteilung und Fließbandarbeit, Auslagerung von Befragung, Transkription und Übersetzung), vom Werkzeug zum Tool-Kit. Von dem Kampf gegen die Quantitativen hin zur fragen- und projektbezogenen Kooperation (Mixed Methods); von der Handarbeit zur Maschinenarbeit (PC, Kamera, Diktiergerät, Software); von der Forschung als sozialen Gruppenprozess hin zur computergestützten Einzelarbeit; von der Wetware (Kultur und Wissen) zur Software (Programm und Regel); von teuer und langsam zu quick and cheap; von der theoretischen und methodologischen Debatte zur praktischen Arbeit am Forschungsgegenstand; von dem getippten Bericht, über den gestalteten Text hin zur multi-medialen Aufführung.
Daten: Vom Text zum stillen und bewegten Bild; zunehmende Verbreitung medienbasierter Daten (Fotos, Videos, Chats, Skype, Video- und Telefonkonferenzen, Internetprotokolle); Daten, die gleichzeitig mediale und nicht mediale Kommunikation und Interaktion beinhalten; von Daten in deutscher Sprache zu sehr unterschiedlichen Daten, die Ausdruck einer allgemeinen Transkulturalität sind (von Texten in deutscher Sprache, die von Menschen mit transkulturellen Erfahrungen produziert wurden, bis hin zu Interviews, die in englischer Sprache geführt wurden, obwohl Englisch weder die Muttersprache von Frager noch Befragten ist bis hin zu Interviews, die in einer fremden Sprache geführt wurden und dann von einem Übersetzungsbüro ins Englische übersetzt wurden und dann von deutschen Interpreten gedeutet werden)
Theorien: Von Schütz über Mead zu Bourdieu, Foucault und Latour, vom sinnhaften Handeln des Einzelnen zur Interaktionspraxis menschlicher Akteure zu der Praxis der Interaktion menschlicher wie nichtmenschlicher Akteure; vom Einzelnen zur Gruppe und dann zu Mensch-Maschine-Netzwerken. Von der Sozialtheorie über die Zeitdiagnose zur angewandten Forschung. Von der symbolischen Interaktion über die symbolische Ordnung hin zur Governance.
Implizite Welttheorie: von der Zweigeteiltheit von Welt (=‚unten’ die bedingende Tiefenstruktur, die mühevoll rekonstruiert werden muss, und ‚oben’ die glitzernde Oberfläche) zum Lob der Oberfläche (= alles ist Oberfläche, es gibt keine Tiefenstruktur).
Legitimation: Von der persönlichen Evidenz hin zur Rechtfertigung mit Gütesiegeln (Rechenhaftigkeit, Verfahren, Evaluation); von der Orthodoxie zur Heterodoxie, vom Subjektiven zum Objektiven, von der Deutung zur Rekonstruktion; von Forschungssubjekt zum Forschungsverfahren, vom charismatischen ‚Vordenker’ hin zur kanonisierten Methode und der Veralltäglichung und Bürokratisierung des Charismas; von der Eurozentrierung über die anglo-amerika-Zentrierung hin zu der Globalisierung (Peripherie/Zentrum).
Ziele: Von der Vertretung des Subjekts über die Sozialtechnologie hin zum Herrschaftswissen; von der Aufklärung vor Ort hin zur Zeitdiagnose und Sozial- und Gesellschaftstheorie mittlerer Reichweite; von der Forschung für Betroffene oder die Gesellschaft hin zur Forschung für bestimme (wirtschaftliche, politische) Interessengruppen; von der Reputation zum ökonomischen Erfolg; von der Leidenschaft für den Job hin zur Optimierung des eigenen Business.
Alle diese Entwicklungen, auch wenn sie nicht in jedem Fach in gleicher Weise anzutreffen sind, auch wenn es immer wieder gegenläufigen Tendenzen gibt, haben den Charakter der qualitativen Sozialforschung tiefgreifend verändert. Allerdings neigt sie dazu, diesen Wandel nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Mich würde folgendes interessieren. Haben Sie zwischen diesen Aspekten: „… von der Handarbeit zur Maschinenarbeit (PC, Kamera, Diktiergerät, Software); von der Forschung als sozialen Gruppenprozess hin zur computergestützten Einzelarbeit; … von teuer und langsam zu quick and cheap; …“ im Rahmen Ihrer Forscherlaufbahn Zusammenhänge bemerkt? Ich kann lediglich auf ein paar Jahre zurückblicken und dabei keinen wirklich spürbaren Unterschied festmachen. Allerdings zwängt sich mir natürlich die Vermutung auf, Sie erwähnten es bereits so ähnlich in einem Ihrer vorherigen Posts, dass der Einsatz von (digitaler!) Technik aus dem ‚quick and cheap‘ eher ein ‚quick and dirty‘ macht….
Nein, ich glaube nicht, dass die digitale Technik notwendigerweise zu quick and dirty führt. Sie kann dazu führen, aber das ‚Schnell und schmutzig‘ ist zu allen Zeiten eine Option, die manchmal von manchen realisiert wird. Ziemlich sicher scheint mir dagegen, dass die digitale Technik nicht nur die Handhabung der Daten verändert hat, sondern auch den Aufmerksamkeitshorizont der Sozialforschung verschoben hat.