Von Sarah Kaschuba, Benjamin Köhler und René Wolfsteller
Für den Monat Juli haben wir als Redaktion des soziologiemagazin e.V. die Ehre und das Vergnügen, den SozBlog der DGS (Deutschen Gesellschaft für Soziologie) mit Inhalten zu füllen. Wir möchten diese einmalige Gelegenheit dazu nutzen, verschiedene Schlaglichter auf den Themenkomplex „Umbrüche und sozialer Wandel“ zu werfen. Unabhängig vom Thema mag sich manch_e SozBlog-Leser_in jedoch wundern, was wir als ein mehrheitlich studentisches Redaktionsteam nun hier tun, was genau wir zum fachlichen Diskurs beizutragen haben, da wir bisher weder formell ausgezeichnete, noch durch weitläufige Zitation anerkannte Soziolog_innen sind. Aber vielleicht deutet dieser Umstand bereits auf eine besondere, dem Medium Blog eingeschriebene Praxisweise hin, nämlich: einen offenen und öffentlichen Austausch über institutionelle Statusgrenzen hinweg zu ermöglichen; das heißt im hiesigen Fall, den soziologisch-fachlichen Austausch unabhängig von der wissenschaftlichen Reputation seiner Sprecher_innen zu befördern. Hinzu kommt: Oftmals sind es die Studierenden, die in ihren Projekt- oder Abschlussarbeiten mit als Erste die etablierten Analysewerkzeuge und Konzepte der Soziologie auf aktuelle Phänomene des sozialen Alltags anwenden, sie entsprechend modifizieren oder verwerfen, und womöglich Verbindungen zwischen Positionen erkennen, die im etablierten Kanon gemeinhin als unvereinbar gelten. Auch ohne den Mythos vom „Humboldtschen Bildungsideal“ zu bemühen, ist also leicht einzusehen, dass es sich lohnen kann, dieses große Kreativitäts- und Innovationspotenzial, das auf Seiten der Studierenden schlummert, zu fördern und in fachliche Diskurse mit einzubeziehen.
Wer wir sind…
Bevor wir in das Thema unserer Blogserie einführen, wollen wir uns jedoch kurz vorstellen. Der soziologiemagazin e.V. ist 2007 in Halle/Saale auf dem 1. Studentischen Soziologiekongress mit dem Ziel gegründet worden, die Brücke zwischen Studium und Nachwuchswissenschaft zu schlagen und den „etablierten“ soziologischen Diskurs um eine frische, studentische Perspektive zu erweitern. Wir als Redaktion, in der Studierende und Absolvent_innen aus dem deutschsprachigen Raum ehrenamtlich arbeiten, geben – neben einem soziologischen Wissenschaftsblog – ein Soziologiemagazin sowohl als elektronisches wie auch als Print-Journal zu wechselnden Schwerpunkten heraus. Während wir uns im letzten Jahr mit Fragen rund um „Tod und Sterben“ (Heft 5) und „Wirtschaft – Arbeit – Märkte“ (Heft 6) beschäftigt haben, stehen dieses Jahr die Themen „Sex, Gender, Diversity und Reifikation. (Wozu) brauchen wir (ein) Geschlecht?“ (Heft 7) und „Kriminaliät und soziale Normen“ (im Reviewprozess) im Vordergrund.
Zu unseren regelmäßigen Call4Papers sind Studierende aller Semester ebenso wie AbsolventInnen eingeladen, sich im wissenschaftlichen Schreiben erster publikationsfähiger Artikel zu versuchen, die wir gemeinsam mit unserem Beirat in einem zweistufigen Peer-Review-Verfahren auswählen und bis zur Publikationsreife betreuen.
Darüber hinaus betreiben wir auf unserer Website einen vom Magazin unabhängigen soziologieblog, den wir als einen wissenschaftlichen Serviceblog verstehen, auf dem Tagungsberichte, Rezensionen, Veranstaltungsankündigungen, Call4Papers, aber auch soziologische Inhalte und Diskussionsbeiträge veröffentlicht werden können. Soziologieinteressierte versorgen wir außerdem über unseren YouTube-Channel, in dem wir Interviews mit Soziolog_innen, Tagungs- und Vorlesungsmitschnitte veröffentlichen, sowie auf facebook und auf twitter täglich mit frischem soziologischen Input.
Wie und warum wandeln sich Gesellschaften?
In den kommenden Wochen wollen wir uns mit Fragen und Problemen des gesellschaftlichen Wandels beschäftigen, einige Beispiele geben und vor allem: euch dazu einladen, sozialen Wandel in all seinen Erfahrungshorizonten, Formen und Ursachen mit uns zu diskutieren. Wie können gesellschaftliche Veränderungen angemessen beschrieben und erklärt werden? Wie geht die Gesellschaft mit ihrem eigenen Wandel um? Welche Faktoren verursachen oder beeinflussen diese Umbrüche? Sind Krisen durchweg negativ zu bewerten oder bergen sie auch Chancen? Leben wir heute freier, individueller, schneller, riskanter oder gefährlicher als früher? Wie sehr ist sozialer Wandel von ökonomischen Entwicklungen abhängig – oder bedingt diese erst? Ist womöglich dem sozialen Handeln der Wandel stets eingeschrieben, definiert sich eine Gesellschaft vielleicht erst durch Umbrüche?
In der Soziologie wird gesellschaftlicher Wandel oft mit ganz unterschiedlichen Begriffen verbunden – von Fortschritt und Modernisierung bis hin zu Krise, Rationalisierung, Differenzierung, Entfremdung und Beschleunigung. Inwiefern sich Gesellschaften verändern, beschäftigt Soziolog_innen schon seit über einhundert Jahren. Seither hat sich eine beeindruckende Fülle und Vielfalt an Theorien entwickelt: Führte Karl Marx (1848) gesellschaftliche Umbrüche auf die vorherrschenden materiellen Bedingungen und Klassenkämpfe zurück, so beschrieb Émile Durkheim (1893) den Übergang von segmentären zu nicht-segmentären Gesellschaften als einen Wechsel von mechanischen zu organischen Formen von Solidarität. Max Weber (1905) befasste sich mit den Ursachen und Auswirkungen von Kapitalismus und „okzidentalem Rationalismus“ in der europäischen Moderne und sah eine mögliche Antwort in den religiösen Prägungen der Menschen. Gegen jede statische Auffassung von Gesellschaftszuständen, die lediglich von Phasen des Wandels unterbrochen werden, wendet sich der prozesssoziologische Ansatz Norbert Elias’ (1939), während die Strukturfunktionalisten Talcott Parsons (1951) und Niklas Luhmann (1984) mit sozialem Wandel in der Moderne eine zunehmende funktionale Differenzierung verbinden, die sowohl zur Inklusion vormals ausgeschlossener Gruppen wie auch zu einer wachsenden Individualisierung der Gesellschaftsstrukturen führt. Gegenwärtig besonders populär sind hierzulande die Thesen Ulrich Becks (1986) und Hartmut Rosas (2005) – der erste versteht gesellschaftliche Umbrüche als Ausdruck einer fortschreitenden Kosmopolitisierung, während sozialer Wandel in den Augen des letzteren vor allem durch eine exponentielle Beschleunigung des gesellschaftlichen und individuellen Lebens gekennzeichnet ist, die sich der menschlichen Steuerung zunehmend entzieht und Merkmale einer totalitären Herrschaft aufweist. Trotz dieser vielen verschiedenen Zugänge sind sich aber die meisten Soziolog_innen darüber einig, dass es a) einen sozialen Wandel gibt, und dass wir b) multikausale Erklärungen benötigen, um Phänomenen des Wandels ausreichend auf den Grund zu gehen.
Vor diesem Hintergrund möchten wir das Augenmerk in unseren künftigen Beiträgen exemplarisch auf den sozialen Wandel in folgenden Bereichen lenken: Zuerst geht es uns um die Praktiken und Folgen von sozio-kulturellen Umbrüchen, beispielsweise für Jugendliche maghrebinischer Herkunft, die in den Vorstädten Frankreichs aufwachsen, oder für die ehemaligen Bürger_innen der DDR, die in Folge der „Wiedervereinigung“ plötzlich Handlungs- und Wertemustern folgen sollen, die den Diskursen der alten Bundesrepublik entstammen. Im folgenden Beitrag wollen wir die Auswirkungen des Paradigmas vom „unternehmerischen Selbst“ auf das gegenwärtige Gesundheitsdenken und -handeln analysieren, das die Logiken der individuellen Verantwortung, Prävention und des Selbstmanagement in der Leitfigur des „Gesundheitsagenten“ zusammenbringt. Desweiteren wollen wir der Frage nachgehen, welchen Wandel abweichendes Verhalten erfährt, und wie und von wem definiert wird, was als kriminell zu gelten hat. Abschließend nehmen wir die neuen technischen Medien und Kommunikationsformen, wie das Social Web und Augmented Space, in den Blick und erörtern, welche Auswirkungen diese auf uns als Individuen und in der Gesellschaft haben.
Dabei können die exemplarischen Schlaglichter, die wir auf einzelne Themen werfen, als Denkanstöße verstanden werden, die von den Leser_innen in den Kommentaren erweitert, verworfen und – vor allem – diskutiert werden sollen. Die SozBlog-Beiträge wollen wir auch auf unserem soziologieblog veröffentlichen und euch herzlich dazu einladen, uns über die Kommentarfunktion hinaus Gegendarstellungen, eigene Gesellschaftsanalysen, Beobachtungen und theoretische Auseinandersetzungen zu schicken, die wir im Blog posten wollen. Wir werden alle Beiträge ebenso über facebook und twitter senden, sodass die Diskussionen auch dort weitergeführt werden können.
Wir freuen uns also auf einen diskussionsreichen Monat,
mit den besten Grüßen
Eure Soziologiemagazin-Redaktion
Literatur
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/Main.
Durkheim, Émile (1893): De la division du travail social: Étude sur l’organisation des sociétés supérieures. Paris.
Elias, Norbert (1939): Über den Prozeß der Zivilisation. Basel.
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme.
Marx, Karl (1848): Manifest der Kommunistischen Partei. London.
Parsons, Talcott (1951): The Social System. London.
Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt/Main.
Weber, Max (1905): Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. Tübingen.
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