Akademische Abschlussarbeiten sind akademische Abschlussarbeiten. Keiner schreibt sie gerne, keiner liest sie gerne. Manchmal gibt es aber auch Ausnahmen. Das sind dann Sternstunden der akademischen Lehre.
Vor einiger Zeit bekam ich eine solche Diplomarbeit auf den Tisch. Ihre These lautete kurzerhand: Die Soziologie arbeitet mit einem normativen Jugendbegriff. Sie kann deshalb andere Formen, dieses Lebensalter zu durchschreiten, nur als Modernisierungsdefizit verstehen, weshalb sich letztlich ein Assimilierungskonzept dahinter verbirgt. Die Soziologie verstellt sich damit den Blick auf soziale Wirklichkeit.
Das ist eine steile These, schauen wir uns die Begründung an. Die Autorin der Diplomarbeit, Havva Yilmaz, rekonstruiert zunächst die drei bekannten Generationslagen türkisch-stämmiger Migranten in Deutschland: die erste Generation wanderte bis 1973 ein, die zweite kam im Zuge der Familienzusammenführung oder wurde in Deutschland geboren, lebte aber noch in einem türkisch geprägten Horizont mit der Rückkehr-Option. Die dritte Generation dagegen hat Deutsch als Muttersprache, selbst keine Migrations-, sondern eine Zuweisungserfahrung: „Du hast Migrationshintergrund“.
Die problematische Definition dieses Begriffes wird kurz angerissen, um dann auf eine erste Pointe hinzuarbeiten: Der 2. Generation schreibt die gängige Forschungsliteratur ein Dilemma zwischen familiären Traditionen und der deutschen Umwelt (Bildungsinstitutionen, peer groups, Medien) zu. Sie leiste hier einen Spagat, für den sich das Bild der „zwei Kulturbeutel“ eingebürgert hat.
Havva Yilmaz argumentiert anders. Für sie ist „Kultur“ kein fixes Set an Werten, Normen und Kulturgütern, sondern eine subjektive Sinnleistung des Subjekts. Wörtlich: „Der Mensch ist nicht allein Kultur-Träger, sondern an erster Stelle Kultur-Stifter.“ Das heißt aber, dass sich die Integration verschiedener Sinnwelten im alltäglichen Handlungsvollzug als Sinnleistung immer schon ergibt. Kinder etwa entwickeln ihre ganz eigene Strategie, mit Gegensätzen produktiv umzugehen, und sei es im Genießen der Vorzüge von Freiheit und Bindung im jeweiligen sozialen Kontext.
In der Tat ist es schwer erklärbar, warum, sagen wir: ein Szenengänger zwischen seiner Arbeit als Fachangestellter und der Leipziger Gothic-Messe nicht ebenso viel Vermittlungsleistung erbringen muss, Eltern zwischen den gänzlich unterschiedlichen Welten von Beruf und Familie. Und sie alle kommen damit zurecht, ohne dass man einem Finanzmakler, der zu Hause großzügig ist und seine Kinder beim Taschengeld nicht übers Ohr haut, gleich einen Kulturkonflikt mit Assimilationsproblematik unterstellen müsste. Das moderne Rollengefüge bringt also für jeden die Aufgabe der sozialen und sinnhaften Integration mit sich, ob er migriert oder nicht.
Hier kann man der Autorin nur zustimmen: Jeder Mensch hat nur einen Kulturbeutel, aber der kann nach sozialen Situationen sehr Unterschiedliches enthalten. Das konnte nur eine Wissenschaft vergessen, die sich entschlossen hat, über „Gesellschaft“ Einheit, über „Kultur“ dagegen Differenz zu deklinieren.
Die zentrale These ihrer Arbeit entfaltet Havva Yilmaz jedoch an der 3. Generation. Bei ihr wird „erfolgreiche Integration“ oft „der Rückwendung ins Traditionale“ gegenübergestellt. Man stellt sich dann gerne weibliche türkische Jungunternehmer auf der einen, Salafisten auf der anderen Seite vor – als ob das die Alternative sei. Zu fragen wäre vielmehr, ob es sich nicht um eine „Vorwendung“ ins Traditionale handelt, die beide Typen dann gleichermaßen möglich macht. Wie das?
Zunächst behauptet die Verfasserin: Für die 3. Generation habe sich das soziale Umfeld soweit stabilisiert, dass familiäre Netzwerke im Gegensatz zur 2. Generation nun ein großes, gleichsam sich selbst tragendes soziales Umfeld böten. Vor diesem Hintergrund sei es verständlich, dass die Mitglieder dieser Generation gerade im Blick auf das Umfeld der verwandtschaftlich ausgedünnten „deutschen Normalfamilie“, aus der Cousins und Cousinen weitgehend verschwunden sind, ihre eigene Familie als eine zentrale Ressource begreifen. Die „Ablösung von der Herkunftsfamilie“ sei für sie kein Ziel der individuellen Genese.
Und genau hier kommen die „genç“ ins Spiel. Das Wort wird ins Deutsche mit „jung“ oder „junger Mann“ übersetzt und meint eben nicht eine Lebensphase „Jugend“, sondern eine Altersgruppe. „Der genç wird im engen Kontext der türkischen Familie und Gemeinschaft auf die Erlangung des Erwachsenenstatus hin erzogen und sozialisiert. Das Erziehungsziel besteht nicht vorrangig in seiner psychischen und sozialen Ablösung von der Familie, da durch den Erwachsenenstatus dem genç die aktive Teilhabe an der Gemeinschaft (sic!) ermöglicht wird.“
Und hier zeigt sich ein signifikanter Unterschied im Erziehungsstil. Während in türkischen Familien das Senioritätsprinzip, d.h. die Achtung vor den Älteren, eine zentrale Stellung einnimmt und die Verschiedenheit der Rechte wie der Lebenssphären konstituiert, sind die „Entwicklungsaufgaben“, wie sie die jugendsoziologischen Lehrbücher (Hurrelmann etwa) präsentieren, für deutsche Jugendliche inzwischen so billige Ware, dass der Anreiz fehlt, das Jugendalter zu verlassen: Man hat ja schon frühzeitig alle Möglichkeiten. Die genç dagegen ließen sich mit diesem soziologischen Begriff des „Jugendlichen“ nicht fassen.
Nun könnte man bei solchen Gegenüberstellungen meinen: Aha, wir haben es mit einer Kulturalistin zu tun. Das ist aber nicht so, den die Verfasserin begreift das Phänomen genç eben nicht als „spezifisch türkisch-tradtionalen Erziehungsstil“, sondern als die eigentlich kulturelle Leistung der 3. Generation von Migranten aus ihrer sozialen Lage heraus, kurz: als einen Prozess der Ethnogenese, wie er sich typischerweise gerade nicht in den „Stammgesellschaften“ von Migranten abspielen kann, sondern nur an der Peripherie, die im Kontakt mit anderen Lebenswelten die eigene kreativ verändert. Wir sehen hier das Muster einer Integration ohne Assimilation (B > A = B’ + A), wie es klassische Einwanderungsgesellschaften schon immer auch aufzuweisen hatten (Extremfall: Mennoniten in den USA und Kanada). Damit sprengen die genç die Generationsfolge: Es ist nicht zu erwarten, dass die 4., 5. oder 6. Generation wesentlich andere Muster ausbilde. Eine neue Gruppe habe sich ethnisch stabilisiert.
Die Tragweite solcher Überlegungen zeigt sich, wenn man sie auf andere Phänomene überträgt. Wir wissen schon lang, dass der spezifische Ehrgeiz und die familiäre Unterstützung (man könnte auch sagen: der Druck von Tigermüttern) asiatische Einwanderer in ihren Bildungskarrieren vergleichsweise erfolgreich macht. „Bloß nicht zu viel Integration“ titelte in diesem Zusammenhang die FAZ. Die Gülen-Bewegung kopiert dieses Aufstiegsmuster mit ihren Schulen und ihrer Familienpolitik. Wir wissen auch, dass hispanische Einwanderer in die USA sich dann erfolgreich etablieren können, wenn sie in einem stabilen familiären Verband migrieren. Das Konzept der „Pluralisierung von Familienformen“, das schon immer nicht nur analytisch, sondern auch gesellschaftspolitisch gemeint war, kommt damit freilich unter Druck. Sicher: Familie ist, wo Kinder sind. Aber auch: Erfolgreiche Kinder sind, wo Familie ist, und das in einem sehr „traditionellen Sinn“ – wobei man dieses Adjektiv vielleicht besser durch „struktur-funktionalen“ Sinn ablösen sollte.
Spannend, die starke Orientierung an den Herkunftsfamilien auch auf deutsche Eliten (und Unterschichten) zu übertragen: Bei Adeligen war die „Lösung von der Familie“ noch nie Erziehungsziel, und auch die Clans der deutschen Großindustriellen pflegen (bei allem Streit, mit Simmel: wegen allem Streit, der unter Erben auszubrechen pflegt), doch eine deutlich stärkere Gemeinschaftsbindung. Zu fragen wäre also, ob unsere Jugendsoziologie wieder einmal einen typischen Mittelschichtsbegriff zum universalen Fortschrittsmuster erklärt hat („Gesellschaft löst zunehmend Gemeinschaft ab“), wo sozialer Aufstieg erst durch die Lösung von der Herkunftsfamilie möglich war. Wenn das so sein sollte, dann müsste man auch umgekehrt die Frage stellen, ob nicht die besondere Bindung an die Familie unter bestimmten Konstellationen erfolgreicher sein kann, wenn etwa die Konkurrenz um begehrte Posten so groß geworden ist, dass primär über soziales Kapital selektiert wird; dann ist Aufstieg ein Kollektivphänomen, nicht individuelle Leistung, die Differenz zwischen meritokratischem Ideal und empirischer Beobachtung in bestimmten Statusgruppen würde sich auflösen. Die Politik, Chancengleichheit über Bildungsinstitutionen durch Entmachtung der Familie herzustellen („Migrantenkinder in die Krippe“), bekäme dann ein leicht absurde Note.
Damit wird deutlich, welche Herausforderung das Phänomen „genç“, sollte es hier richtig beschrieben sein, an die gängigen Theorien von Moderne und Modernisierung stellt. Es könnte nämlich sein, dass wir in ihnen nur unsere eigene Kultur futurisch essentialisieren. „Kultur“ nicht verstanden als Set, sondern als Sinnmuster, die aus spezifischen sozialen Lagen heraus entstehen und diese wieder verstärken, stabilisieren, aber auch verändern können.
Ein zusätzliches Problem tut sich hier auf, das am Ende der Diplom-Arbeit auch angesprochen wird: die soziale Wirksamkeit soziologischer Analysekategorien selbst. Indem die Shell-Studien „Jugend“ empirisch analysieren, ihre Ergebnisse in Theorien aufgegriffen und diese dann wiederum in Lehrbücher umgesetzt werden, prägen sie auch die Vorstellung von dem, was „eine richtige Jugend“ ausmacht. Aus der analytischen Beschreibung durch Wissenschaft wird eine soziale Konvention. Protest gegen die Eltern, pubertäre Aufstände etc. gehörten „zur Jugend“, und wenn sie ausbleiben, weil durch den juvenilen Lebensstil der Eltern und die Dauerverhandlungshaushalte alle Konflikte schon im Sinne der Jugendlichen gelöst sind, dann kann man bei vielen Eltern schon eine Besorgnis beobachten, wie im klassischen Elternwitz: Dem Kleinkind nur deshalb einen Teller Spinat vorsetzen, damit er den Eltern einmal ins Gesicht geprustet werden kann – „eine wichtige Erfahrung“. Und tut das Kind das nicht, weil der Spinat schmeckt, dann wartet bereits der Therapeut. Ähnliches ist beim Dauerbrenner „erster sexueller Kontakt“ schon lange Effekt soziologischer Erhebung, die allein durch ihre Publikation einen Normdruck aufbaut.
Soziologische Theorie sollte diese Rückkoppelungseffekte immer im Blick haben, ohne sie jemals ausschalten zu können – und das Thema „genç“ ist keine Ausnahme. Entscheidend ist deshalb, dass man die Kategorien möglichst flüssig hält und sie eben nicht in imaginierten (oder erhofften) Entwicklungslogiken einmauert – der einen oder der anderen Seite.
Die Sozialisation türkisch-stämmiger Jugendlicher als Modernisierungsdefizit zu begreifen, ist tatsächlich das Resultat eines normativen, auf das Ideal der liberalistischen, westlichen Moderne bezogenen Jugendbegriffs.
Diesen für jedermann offensichtlichen Kulturkonflikt allerdings zu subjektivieren und die Jugendlichen als „Kultur-Stifter“ auf dem gleichen Sozialitätsniveau anzusiedeln wie die statistisch-normalen Kulturträger, zeigt das Dilemma des „methodologischen Individualismus“ und den fehlenden, realistischen Zugang zu sozialen Strukturen der zeitgenössischen Soziologie.
Es handelt sich selbstverständlich um die Entstehung von Subkulturen, die implizit oder auch explizit den Anspruch haben, kulturstiftend für die gesamtgesellschaftliche Kultur zu sein.
Es handelt sich soziologisch gesehen um einen impliziten Macht- und Verdrängungskampf zwischen dieser Subkultur und der traditionellen, gesamtgesellschaftlichen Kultur.
Zwar kann man das Verhalten der Jugendlichen soziologisch-interpretativ auch als Vermittlungs- und Sinnleistung begreifen. Aber auf diesem Abstraktionsniveau geht das soziologisch Markante des sozialen Prozesses verloren.
Das wird besonders deutlich, wenn man diese Vermittlungsleistung türkisch-stämmiger Migranten mit der Vermittlung von Familie und Beruf in einer Familie gleichsetzt.
Ähnliches gilt auch für den Vergleich türkisch-stämmiger Migranten mit den Mustern in anderen Migranten-Familien, z.B. Asiaten. Wer bei diesem Vergleich nicht den markanten Einfluss islamischen Selbstverständnisses im weitesten Sinn soziologisch mitbegreift, begeht wieder den Fehler, ein Abstraktionsniveau zu wählen, das so hoch ist, dass es die Differenzen aus den Augen verliert.
Andererseits wird hier ein weiteres Dilemma sichtbar, das in diesem Fall möglicherweise das Resultat der normativen Wirkung der Systemtheorie Luhmanns ist. Es hat sich gesellschafftlich eine Komplexitäts-IDEOLOGIE entwickelt, die die Basis jedes sozialen Prozesses, nämlich Macht und Gewalt, zeitgeistgemäß aus den Augen verliert (siehe auch ‚pdf‘ http://bds-soz.de/?p=0601 ).
Wenn es eine realitätsadäquate Struktur-Soziologie gäbe (an der arbeite ich zurzeit), würde diese Subkultur schlicht als abweichendes Verhalten mit Subkultur-Effekt einer bestimmten Gruppe innerhalb der Gesellschaft begriffen werden.
Das TYPISCHE, statistisch normale Verhalten in unserer Gesellschaft wird determiniert durch die liberalistisch-kapitalistisch-demokratische Ideologie (natürlich primär medial vermittelt) der westlichen Industrienationen einerseits und durch die nationale, deutsche Kultur und Traditionen andererseits.
Diese beiden Strukturebenen legen die Verteilung des Verhaltens und damit auch Variation und Abweichung erst einmal fest.
Die Soziologie versinkt weiter in die Bedeutungslosigkeit als WISSENSCHAFT, wenn sie nicht in der Lage ist, eine eigene Methodologie und einen eigenständigen Blick jenseits von Psychologisierung, Individualisierung und „gemeintem Sinn“/interpretative Soziologie zu kreieren.
Die Frage, auf welcher Ebene „das soziologisch Markante“ angesiedelt ist, stellt sich bei jedem Gegenstand von Neuem – und lässt sich bei keinem eindeutig beantworten. Verschärft wird diese Problematik durch die Tatsache, dass jede dieser Perspektive dazu tendiert, eine bestimmte (wenn man so will: politische) Haltung gegenüber dem Gegenstand zu generieren: die Mikro-Ebene (Handlung, Sinn, Interaktion) eine irenisch-tolerierende, die Meso-Ebene (Gruppen, Macht, Subkultur) eine antagonistisch-voluntaristische, die Makro-Ebene (Gesellschaft, Differenzierung) eine adaptiv-fatalistische.
Betrachten wir also die vermisste mittlere Ebene: Sie wird im Beitrag durch den Begriff der „Ethnogenese“ angesprochen, aber nicht ausdekliniert. Wenn es stimmt, dass sich (natürlich immer nur:) Teile der 3. Generation türkischer Einwanderer zu einer neuen ethnischen Gruppe in Deutschland formieren, dann würde es sich wirklich lohnen, die einzelnen Faktoren ihres Identitätsbewußtseins (etwa: welche Rolle spielt welche Form des Islam) näher anzuschauen. Ich glaube, dass diese Entwicklung noch offen ist und mit unterschiedlichen Formen (DITIB, Salafisten, Euro-Islam) changiert.
Entscheidend ist dann aber die Frage, in welchem Verhältnis diese Gruppe zu anderen Gruppen steht. Dabei sind unterschiedliche Formen möglich, die zwischen einer Subkultur mit expansivem Anspruch (und nur hier kommen dann Macht-, Verdrängungsprozesse ins Spiel; es gibt viele soziale Prozesse, deren Basis nicht Macht und Gewalt sind, etwa reziproke Austauschbeziehungen), eine territoriale Bindung und Einfriedung als anerkannte Minderheit (Dänen in Flensburg, Sorben in der Lausitz, Türken in Neukölln) oder einer folklorisierten Identitätsoption (Bayern, Sachsen, Friesen) angesiedelt sind.
Zum Schluss noch eine Lanze für die Soziologie: Sie hat sich im Gegensatz zu Psychologie und Ökonomie und gemeinsam mit der Politikwissenschaft noch nicht restlos einem naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal verschrieben. Deshalb gelingt es ihr durch ihre innere Pluralität im Gegensatz zu anderen Sozialwissenschaften, die Komplexität dieser drei Ebenen erstaunlich produktiv im Blick zu halten.
Die Soziologen und der Pudding an der Wand
„Die Frage, auf welcher Ebene “das soziologisch Markante” angesiedelt ist, stellt sich bei jedem Gegenstand von Neuem – und lässt sich bei keinem eindeutig beantworten.“
Der konstruktivistische Zeitgeist schlägt unbarmherzig zu. Wer die Objektivität von sozialen Strukturen und ihren Wirkungen erforschen will, nach Wahrheit und wissenschaftliches Denken in den Sozialwissenschaften zum Maßstab seriöser Arbeit machen will, muss aufpassen, nicht in eine geschlossene Anstalt eingewiesen zu werden. Dass der radikale Konstruktivismus philosophisch betrachtet eine Absurdität darstellt, zeigt z.B. der neue ontologische Realismus von Markus Gabriel. Aber das spielt keine Rolle. „Die Soziologie als Dauerkrise“ lautet das fast stolz verkündete Paradigma der Soziologie. Man glaubt es kaum, aber aus einem Defizit wird das Wesen der Soziologie nach heutigen Maßstäben. Entschuldigung, Wesentliches gibt ja nicht!
Wenn man ein Thema der Soziologie im alten Sinn auf den Punkt bringen will, hat das Gefühl, in der Auseinandersetzung mit anderen Perspektive und Beiträgen(die natürlich alle gleich relevant sind) hat man das Gefühl, wissenschaftlich korrekt formuliert, „einen Pudding an die Wand nageln zu wollen“.
Hier: „Deshalb gelingt es ihr durch ihre innere Pluralität im Gegensatz zu anderen Sozialwissenschaften, die Komplexität dieser drei Ebenen erstaunlich produktiv im Blick zu halten.“
Die Steigerung von Komplexität, mein Lehrer Luhmann lässt grüßen, ist das Ziel, selbstverständlich nicht die Erkenntnis von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen. Dieser Anspruch ist wie gesagt zeitgeistgemäß psychiatrieverdächtig.
Radikal konstruktivistisch sieht Ihr Kollege Wagner und unsere DGS die Soziologie „erstaunlich abgestürzt“:
„Das (dass keine aktuellen Publikationen zum aktuellen Stand der Forschung soziologischer Wissenschaftstheorie zu finden sind, G.A.S.) ist kein Zufall, denn im Unterschied zu anderen Einzelwissenschaften findet man in diesem Fach noch nicht einmal annähernd eine facheinheitliche Konzeption von Gegenstand und Methode, die man referierend vorstellen könnte. Was man findet, sind viele widersprüchliche Positionen (Braun,2008), die überblicksartig vorzustellen müßig wäre. Man würde damit nur einen Missstand dokumentieren, der offenbar für den Missstand des ganzen Fachs verantwortlich ist. ‚Es gibt in diesem Fach derzeit keinen Stand der Erkenntnis‘, lautet die öffentlichkeitswirksame (Hervorhebung .G. A. S.) Kritik anlässlich des Jubiläumskongresses, den die Deutsche Gesellschaft für Soziologie zur Feier ihres 100-jährigen Bestehens 2010 in Frankfurt am Main ausgerichtet hatte ( Kaube 2010).
Als wollten sie dieses vernichtende Urteil ( Hervorhebung G.A.S.) bestätigen, ließen kurz darauf Fachvertreter in einer Befragung durchblicken, dass es tatsächlich keinen ‚Konsens über das Grundwissen der Disziplin‘ gibt, was sich in erster Linie mit einer ‚fehlenden gemeinsamen wissenschaftstheoretischen Vororientierung im Fach‘ erklären lässt (Braun & Ganser 2011:171)
Da die Soziologie offenbar wie ein Computer abgestürzt ist,…“ (Wagner 2012:1)
Natürlich sind beide Perspektiven gleichwertig, denn es handelt sich ja um zwei verschiedene Beobachter.
Die Soziologie ist besonders produktiv in der Produktion von Texten und von Komplexität, sicher sinnvoll für die vorwissenschaftliche Phase einer möglichen, wissenschaftlichen Soziologie. Zugegeben, die Soziologie ist noch ein sehr junges Fach und hat das Recht auf Verirrungen.
Und wenn das aus einer gut bezahlten und abgesicherten Position heraus passiert, ist da karrieresoziologisch-interpretativ betrachtet, nichts einzuwenden.
Nur wenn damit ernsthafte gesellschaftliche Probleme gelöst werden sollen, ist eine solche Selbststilisierung natürlich höchst bedenklich.
Jede empirische Arbeit hängt wissenschaftstheoretisch von der Theorie und der Methodologie ab, die Fragestellungen und Hypothesen liefern. Auch wenn das naiv implizit passiert, ändert dies nichts an den systematischen Grundlagen. Ansonsten wird die ideologische Ausrichtung der Empirie und ihrer Ergebnisse gleich mitgeliefert, entweder ideologisch gezielt oder ohne Selbstwahrnehmung der eigenen emotional-ideologischen Komfortzone.
Auch die Abgrenzung zum naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess gehört sicherlich zur vorwissenschaftlichen Phase einer jeden Wissenschaft, die Alchemie führte zur Chemie mit anfänglich großen Widerständen.
Es gilt immer noch Piaget und „Das falsche Ideal einer suprawissenschaftlichen Erkenntnis.“
Der Mensch und sein Geist sind auch Teile der Natur. Insofern ist zu vermuten, dass es auch in diesem Bereich Gesetze gibt wie im übrigen Teil der Natur. Sichtbar werden solche Gesetze z.B. im Bereich von Massenpsychologie/Medien/Propaganda und Werbung oder z.B. auf der Interaktionsebene beim Thema „Gruppendynamik“.
Ich war erstaunt als ein Kollege vom BDS ganz entsetzt war, als ich den Begriff „Propaganda“ benutzte. Dieser Begriff sei doch heute nun wirklich nicht mehr soziologisch brauchbar, meinte er. Bei so viel Realitätsblindheit ist das Ansehen der Soziologie nachvollziehbar äußerst gefährdet.
Der Absturz der Soziologie wird verursacht durch das beharrliche Festhalten am „methodologischen Individualismus“, der Strukturen absurderweise durch individuelles Handeln zu erklären versucht, das in Wahrheit umgekehrt TYPISCHERWEISE durch die Struktur determiniert wird. Das hat nicht einmal etwas mit Dialektik zu tun, sondern ist schlicht zirkulär und erklärt entgegen ihren eigenen Ansprüchen gar nichts. Die interpretative Soziologie verhindert eine klare soziologische Methodologie/Theorie und Distanzierung von der Psychologie und der Psychologisierung sozialer Prozesse.
Die Steigerung von Komplexität und das muntere Produzieren von soziologischen Texten auf der Basis des radikalen Konstruktivismus führt dazu, dass hierarchisches Denken, den systematischen Unterschied zwischen Regel und Ausnahme und der Sinn für das Wesen eines konkreten, sozialen Prozesses aus dem Blickfeld geraten sind.
Soziale Prozesse werden TYPISCHERWEISE gesteuert durch Macht oder Gewalt (Regel). In Ausnahmefällen kommt es zum reziproken Austausch, entweder zufällig am Rand der Wahrscheinlichkeitsverteilung oder systematisch, wenn die involvierten sozialen Gesetze (Macht/Gewalt) angewandt werden zur gezielten Gestaltung sozialer Prozesse (s. Brainstorming oder Gestaltung von Gruppen s. “The Difference“ v. Page).
Die mögliche, soziologische Erkenntnis von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen auf der Basis eines „methodologischen Strukturalismus“ ist dringend notwendig, wenn die politisch-gesellschaftliche Verantwortung für Strukturen wieder ernstgenommen werden soll.
Halt: den Ehrentitel des fröhlichsten Konstruktivismus-bashers in der Soziologie lasse ich mir nicht nehmen. Obgleich peinlich, muss ich hier doch zu einem Selbstzitat greifen. In meinem Artikel Die Halbwertszeit der Kultur. Kultursoziologie zwischen Geistes- und Kulturwissenschaft (in: Sociologia Internationalis, 47, H.1, 2009, S. 39-55), habe ich erläutert, warum sich der kulturwissenschaftliche mainstream-Konstruktivismus im alten Relativismusdilemma selbst widerspricht: „Alles ist Konstruktion, nur der Konstruktivismus ausgenommen? Bleibt er als einziges Sinngebilde von der invention verschont, aus dem Diskurs ausgeklammert? Wenn nein: Was kann ich dann über seinen Wahrheitsgehalt aussagen? Wodurch ergibt sich die Verbindlichkeit seiner Erkenntnisse? ‚Die Frage’, schrieb jüngst eine meiner Examinandinnen, ‚ob nun die These vom Verschwinden der Kindheit oder die These von der Infantilisierung der Gesellschaft zutrifft, braucht hier nicht erörtert zu werden, weil ja so oder so beide nur Konstruktionen sind.’ Hinter dem Konstruktcharakter der Dinge verschwinden alle Realitäten und alle Qualitäten, sie werden sekundär, unwirklich, eben: gemacht. Der cultural turn ist die Rache der Geisteswissenschaften für die Soziologisierung der Philologien, das verführerische Angebot an die Soziologie, ihren Wirklichkeitssinn abzulegen, um am Elfentanz der Zeichentheorie in den Nebelschwaden der Texthermeneutik teilnehmen zu können.“
Aber: Aus diesem Grund oder gar aus fachpolitischen Wirkungsvermutungen anzunehmen, die Soziologie bekäme ihre Stellung aus den 60er Jahren wieder zurück, wenn sie auf einen naiven Realismus umschalte und zu Durkheims Glaube an die Existenz vom Kollektivbewußtsein zurückkehre (ich weiß, Herr König, dass Sie der Ansicht sind, dass Durkheim dies nie geglaubt habe), ist doch arg naiv. Deshalb hier ganz klar: Es gibt keine sozialen Strukturen da draußen in der Welt, die wir entdecken könnten wie einen neuen Quasar. Strukturen sind begriffliche Erkenntnismittel, die an intersubjektiv geteilten Wirklichkeitswahrnehmungen plausibilisiert werden. Auch die Frage, welche Kausalaussagen sich aus empirischen Zusammenhängen eindeutig ableiten lassen, haben wir wissenschaftstheoretisch durchgeturnt, und zwar nicht erst mit der Wahrscheinlichkeitstheorie der Ableger des Wiener Kreises, sondern schon im Neukantianismus. Und das Ergebnis ist nicht sehr ermutigend. Deshalb sprechen wir meist nur von „Korrelationen“.
Das heißt nun aber beileibe nicht, dass alles irrelevante Literatur ist, was wir produzieren. Natürlich können wir mit einiger Plausibilität sagen: Wer in einem Betrieb die informellen Gruppierungen nicht beachtet, scheitert an der Bildung effektiver Teams; oder: wenn man einmal annimmt, dass es ein hedonistisches Milieu gibt und akzeptiert, dieses Milieu durch postmaterialistische Werte identifizieren zu können, dann umfasst dieses Milieu ca. 13% in unterschiedlichen sozialen Schichten, die wir anhand des Bildungsabschlusses identifiziert haben. Natürlich sind alle diese Begriffe „konstruiert“ (und man kann sie auch anders konstruieren), aber gerade durch diese Erkenntnis gewinnen sie ihre Wirklichkeitsbindung: man kann nämlich mit ihnen die Differenz zwischen empirischer Einzelerscheinung (und nur die gibt es) und begrifflicher Bündelung präzise erfassen.
Und nun noch zur Soziologie: Soll sie science spielen wie die Psychologie oder die Ökonomie? Ich halte das für einen falschen Weg. Er führt nämlich in einen außerordentlich verengten Wirklichkeitsbezug hinein, bei den Ökonomen über die Modellannahmen, bei den Psychologen über das universalistische Axiom. Und das kann einer Disziplin ganz schnell und sehr schmerzhaft auf die Füße fallen, wenn etwa eine Finanzkrise plötzlich die Vorannahmen der Modellbildung in Frage stellt oder die einzige Profession, die man in der Disziplin hat, etwas ganz anderes erfordert: da hat man mühsam die ganze „unwissenschaftliche“ Psychoanalyse und Tiefenpsychologie aus der Disziplin ausgegrenzt – aber genau das brauchen Therapeuten für ihren Beruf. Prima, zu 98% daneben ausgebildet.
Da lobe ich mir die Soziologie: sie hält vom hard-core Quanti über den soliden Familiensoziologen bis zum esoterischen Theoretiker ein breites Spektrum parat, sie bildet Wissens-Latenzen aus, die in je spezifischen Situationen von je spezifischen Gruppen abgefragt werden können. Und genau das geschieht auch in wunderbarer Vielfalt.
Soziologie ist offensichtlich zu einem Teil der Unterhaltungsindustrie mutiert.
Soziotainment liegt voll im Trend der Zeit.
Die naive Vorstellung von Wissenschaft ist durch die Schwierigkeiten der Psychologie und der Ökonomie überholt, wie Herr Prof. Albrecht meint. Die Soziologie kommt nicht zu dem Schluss, dass deren Probleme z.T. durch die nicht vorhandene wissenschaftliche Soziologie entstanden sind. Nein, die universitäre Soziologie ist viel schlauer, sie macht die Verantwortungslosigkeit und das Soziotainment zum neuen Paradigma.
Damit vermeidet sie die peinlichen Prognose-und Grundlagenfragestellungen anderer Sozialwissenschaften. Sie qualifiziert einfach Prognosen und Kausalitätvorstellungen zum naiven Realismus, genial.
Sie erklärt das Gründungsthema der Soziologie, nämlich die Erklärung sozialer Strukturen und ihrer Wirkungen, für überholt und setzt auf Soziotainment. Der naive Realist, der Strukturen als unabhängig von individuellen und intersubjektiven Konstruktionen begreift, wird ersetzt durch den „realistischen“ Intersubjektivisten, der die „nicht vorhandenen Strukturen“ konstruktivistisch dekonstruiert.
Das nächste Stadium der Soziotainments wird wahrscheinlich die „Wir wünschen uns was, liebe Fee!“-Ideologie sein. Die Verantwortungslosigkeit wird systematisch perfektioniert. Wenn es bei dieser Fee nicht klappt, wird der nächste systemische Versuch bei einer anderen Fee gestartet, bis der Wunsch erfüllt wird oder halt nicht. Die Gesellschaft entwickelt sich von einer narzisstischen Gesellschaft zu einer schizophrenen Gesellschaft mit einem wahnhaften Zugang zur Realität.
Dass der Konstruktivismus gleichzeitig als Absurdität begriffen wird, erhöht den Jahrmarktcharakter des Soziotainments. Prinzipiell ist der Konstruktivismus absurd, aber konkret sehr unterhaltsam. Für jeden ist etwas dabei, die staatlich subvenionierte Ideologie-Show überzeugt fast jeden.
Dasgleiche gilt für Kausalitätsvorstellungen. Als soziologisch sinnlos betrachtet, werden sie durch „realistische“ , sinnvolle Korrelationen ersetzt. Prinzipiell, alllerdings in konkreten Einzelfällen werden dann mit Ursache -Wirkungs-Vermutungen operiert, kein Problem. Herr Prof. Albrecht, Sie nennen das dann „Plausibilität“. Wissenschaftstheorie war gestern.
Oder Wissenschaftstheorie wird situativ „begriffen“, der Patch-Work-Zeitgeist lässt grüßen.
Die Wissenschaftstheorie für die Theorie des Waldspaziergangs hat Hochkonjunktur. Verantwortungslosigkeit für größere Zusammenhänge ist die zwangsläufige Folge, Gesinnung ist angesagt und nur ja keine Eindeutigkeit, um Himmels Willen. Dafür könnte man ja im Falle einer Fehl-Eindeutigkeit zur Verantwortung gezogen werden.
Wer profitiert von dieser Soziotainment-Entwicklung und dem naiven Intesubjektionismus, könnte man in altertümlicher soziologischer und kriminologischer Manier fragen?
Ganz einfach:
1.) die Lehrbeamten an den Universitäten, die sich literarisch voll entwickeln können, bei guter Bezahlung und Absicherung, risiko-und haftungslos. Ob sie am freien Markt von ihren wichtigen Textproduktionen leben könnten, ist fraglich.
Fast so gut, karrieretechnisch gesehen, wie die EU-Bürokraten in Brüssel, die strukturell hervorragend versorgt sind, wenn es um das Verhältnis von Bezahlung, Absicherung und haftungsloser Verantwortung geht.
2.) Die demokratische Mittelmaß-Elite. Wenn es keine erkennbare Kausalität in sozialen Systemen gibt, ist sie hervorragend geschützt, vor allen Dingen, wenn etwas schief geht oder sogar Katastrophen passieren. Die Komplexitäts-Ideologie, die die soziologische Systemtheorie gleich mitgeliefert hat, ist dabei sehr hilfreich. Wer will leugnen, dass die Realität komplexer geworden ist. Wer die Frage nach dem „Warum“ stellt, ist ein naiver, hinterwäldlerischer Realist. Von Zukunftsgestaltung und strategischer Planung zu reden, überlässt man den Insassen geschlossener Anstalten.
Wer zahlt für diese Entwicklung?
Auch ganz einfach!
Wie immer diejenigen, die von den „nicht vorhandenen Strukturen“ abhängig sind und beim „Wir wünschen uns was, liebe Fee!“ auf der Strecke bleiben und leer ausgehen.
Also, um es noch einmal eindeutig? mit Ihren Worten, Herr Prof. Albrecht, auf den Punkt zu bringen (lassen wir mal den immanenten Widerspruch beiseite):
„Es gibt keine sozialen Strukturen da draußen in der Welt, die wir entdecken könnten …. Strukturen sind begriffliche Erkenntnismittel, die an intersubjektiv geteilten Wahrnehmungen plausibilisiert werden.“
Klar, oder?
Was passiert aber z.B., wenn wie in den Asch-Experimenten 90% der intersubjektiven Wahrnehmung Propaganda darstellt? Und in der Gesellschaft ist das noch blöder, die Länge des Strichs kann man nicht nachmessen. Sind das dann objektive Strukturen oder begriffliche Erkenntnismittel, die durch die Propaganda entstehen oder wie oder was????????????
Und die Medien sind begriffliche Erkenntnismittel, die an intersubjektiv geteilten Wahrnehmungen plausibilisiert werden oder wie oder was??????????
Und Werbung? Ist das ein begriffliches Erkenntnismittel, das an intersubjektiv geteilten Wahrnehmungen plausibilisiert wird oder wie oder was????
Oder die Verfassung usw.usw.usw.?
Sehr guter Artikel. Danke