Die Lehrer der Republik müssen zur Weiterbildung antreten. „Inklusion“ steht auf ihrem Lehrplan. Seit 2009 gilt die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen auch in Deutschland, und alsbald brach in den Kultusministerien der Länder großes Grübeln aus, was denn wohl ein „Recht auf gleichberechtigte Teilnahme an der Gesellschaft“ für ein institutionell ausdifferenziertes Schulwesen bedeute. Irgendwie setzte sich dabei die Meinung durch, der Kern der Forderung bestehe darin, behinderte und nicht-behinderte Kinder künftig gemeinsam zu unterrichten. Und seitdem werden unter den Stichworten „Heterogenität“, „diversity“ und „Inklusion“ riesige Maschinen angeworfen, die Mensch und Organisation auf den neuesten Stand der Gerechtigkeitsumsetzung bringen.
Wer hat’s erfunden? Wir Soziologen! Darum sind wir auch ganz vorne mit dabei. Professoren können sich vor pädagogischen Weiterbildungserwartungen nicht mehr retten, Schulen stellen massenweise Inklusionsbeauftragte ein, ein riesiger Arbeitsmarkt für die Absolventen soziologischer Studiengänge hat sich aufgetan. Oder?
Leider nein. Ihren Schulhof haben die Pädagogen und Didaktiker fest im Griff. Aber mal ehrlich: Wer von uns würde sich ohne Naserümpfen auf so einen praktischen Umsetzungskram einlassen, ganz ohne theoretische Finessen, empirische Erkenntnisversprechen, und vor allem umweht vom bedrückenden Mief der eigenen Schulzeit, dem wir in unseren schwarzen T-Shirts mit Hilfe der Szenenkneipen aller Universitätsstädte gerade glücklich entronnen sind? Wer möchte da schon freiwillig – und sei es als Lehrkraft – der Oberstudienrätin entgegentreten, die einen nach langer Quälerei mit einem stolzen Lächeln ihres durch Klassenkämpfe verhärmten Mundes ins Leben entlassen hat?
Nein, dafür sind wir uns zu schade. Aber gesetzt den Fall, wir kehrten zurück in die Schulen – hätten wir denn etwas anderes zu sagen als die Pädagogen? Schauen wir einmal in die Bildungsquelle Nr. 1 aller Studierenden, in Wikipedia. Hier gibt es tatsächlich zwei unterschiedliche Artikel, die einmal „Inklusion“ als Begriff der Pädagogik und einmal als Begriff der Soziologie aufführen. Schaut man in die Artikel hinein, hätte es dieser Differenzierung eigentlich nicht bedurft: beide arbeiten mit den gleichen Bildchen, die den Unterschied zwischen Exklusion, Separation, Integration und Inklusion mit bunten Punkten und Kreisen beschreiben. Während bei der „Integration“ die bunten Punkte im großen Kreis noch von einem kleinen umgeben, sind sie „inkludiert“ dann bunt und gleich im großen Kreis verteilt.
Sancta simplicitas der bildlichen Darstellung, wo ist der Aufschrei der Zunft! Inklusion ist Integration ohne organisatorische Unterteilung? Oder was sollen die Kreise denn darstellen? Jedem Lehrer in der Weiterbildung ist das klar: Schulklassen zum Beispiel. Und die Punkte sind Kinder: Chantal der pinke, Charlotte-Luise der blaue und Murat der grüne.
Schaut man nun in die theoretisch elaborierten Konzepte unserer Disziplin hinein, stellt sich die Lage etwas anders dar: Niklas Luhmann führte das Begriffspaar „Inklusion/Exklusion“ als Ersatz für „Sozialintegration“ ein. Hintergrund ist die Annahme, dass die moderne Gesellschaft als funktional differenziertes System sich fundamental von segmentären und stratifizierten Gesellschaften unterscheide.
In diesen beiden Differenzierungstypen ist der Mensch als Person in einem Sozialverband integriert (Clan, Stamm, Familie, Schicht), und die Plazierung entscheidet gleichzeitig über die Lebens- und Teilnahmechancen. In der modernen Gesellschaft dagegen ist der Mensch dann inkludiert, wenn er gerade nicht primär über eine Gruppe (Schicht, Organisation) in Beziehung zur Gesamtgesellschaft steht, sondern wenn er gleichzeitig oder wechselnd die Möglichkeiten hat, an unterschiedlichen Funktionssystemen zu partizipieren: an der Wirtschaft über verfügbares Geld, am Rechtssystem über die Möglichkeit der Klage, am Bildungssystem über die Chance zur Weiterbildung.
„Inklusion“ bedeutet deshalb nicht Mitgliedschaft in einer Gruppe (Organisation, Institution), schon gar nicht eine wolkige „Anerkennung“ nach dem Muster: ich hab’ dich auch lieb, sondern an den dominierenden Differenzierungsregeln. Wer dieses Begriffsniveau wieder auf eine Form der Sozialintegration verkürzt, bekommt ein Problem, das Luhmann prägnant formuliert: „Wenn daraufhin zunächst Inklusion ohne Exklusion, Inklusion ‚des’ Menschen in ‚die’ Gesellschaft konzipiert wird, so erfordert das eine totalitäre Logik, die die alte Einteilungslogik nach Arten und Gattungen (wie Griechen und Barbaren) ersetzt. Die totalitäre Logik verlangt, daß ihr Gegenteil ausgemerzt wird. Sie fordert Herstellung von Einheitlichkeit.“ Man könnte sagen: genau das leisten die Begriffe „Behinderte“ und „Nicht-Behinderte“. Oder eben „Menschen mit besonderen Eigenschaften“, oder wie immer politisch korrekt die Formulierungen gewendet werden. Dazu hat Goffman schon das Nötige gesagt: allesamt Stigmatisierungen, die von der Inklusionsrhetorik erst geschaffen werden.
Was folgt daraus für die Praxis des Umgangs mit dem „Recht auf Teilhabe“?
- Keine Inklusion ohne Exklusion! „Die Idealisierung des Postulats einer Vollinklusion aller Menschen in die Gesellschaft täuscht über gravierende Probleme hinweg“ (Luhmann). Jede Inklusionsform setzt die Exklusion sozial voraus, d.h. die „Totalinklusion“ aller wird in die Zukunft verschoben, Exklusion aber gerade durch Inklusionsregeln produziert.
- Inklusion in der modernen Gesellschaft bedeutet nicht vollendete Integration, sondern eine Chance auf Teilhabe, die durch Desintegration ermöglicht wird. Noch einmal Luhmann: „Die Exklusion integriert viel stärker als die Inklusion – Integration im Sinne des oben definierten Begriffs verstanden als Einschränkung der Freiheitsgrade für Selektionen. Die Gesellschaft ist folglich – genau umgekehrt wie unter dem Regime der Stratifikation – in ihrer untersten Schicht stärker integriert als in ihren oberen Schichten. Sie kann nur ‚unten’ auf Freiheitsgrade verzichten. Ihre Ordnung beruht hingegen auf Desintegration, auf Entkopplung der Funktionssysteme.“ Integration ist Einschränkung, Inklusion unter den Bedingungen einer funktional differenzierten Gesellschaft die Erweiterung von Freiheitsgraden.
- Wer die Frage nach „Inklusion“ auf eine vollendete „Integration“ verkürzt, reproduziert segmentäre und stratifikatorische Sozialformen (reiche Kinder weichen auf Privatschulen aus), oder schafft im günstigsten Fall ein neues Funktionssystem „Inklusion“ (Weiterbildungsapparate und Qualitätskommissionen), das dann die Exklusion intern spiegelt. Entscheidend ist vielmehr, Personen zu ermöglichen, durch Desintegration von Gruppen und Organisationen in Funktionssysteme zu inkludieren.
Soweit zum Potential soziologischer Reflexion auf diesem Gebiet. Warum zur Hölle lassen wir es dann zu, dass uns die Pädagogen und Politiker einen Begriff wegnehmen und ihn bis zur Unkenntlichkeit rückentwickeln? Die Antwort ist bitter. Sie hat nichts mit unseren schwarzen T-Shirts und unserer Schulverachtung zu tun, sondern mit der grundsätzlichen Unfähigkeit der Zunft, den Stand soziologischer Theoriereflexion einer interessierten Öffentlichkeit zu vermitteln. Es fehlt das Fischer-Lexikon auf der Höhe des gegenwärtigen Diskussionsstandes in der Soziologie. Wikipedia ist’s nicht.
Freilich gäbe es auch eine andere Erklärung für das Versagen des Faches: Könnte es sein, dass die ganze Theorie der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften einfach nur ein Wolkenkuckucksheim von Leuten ist, die sich an einer im historischen Maßstab trägen sozialen Wirklichkeit langweilen? Dass also die Gesellschaft auf dem Stand der Integrationsproblematik stehengeblieben ist, und nicht nur die Politiker und Planer aller vereinten sozialdemokratischen Parteien? Weber hatte das schon immer behauptet: Stände bilden sich auch unter „modernen“ Bedingungen ständig neu. Und vielleicht kommt es ja für unser Lebensgefühl wirklich darauf an, dass wir uns in Kleingruppen lieb haben – wie vor zehntausend Jahren.
Dann würde die bittere Alternative heißen: Wir Soziologen sind entweder Versager oder Ideologen. Ab in die Schule!
Lieber Clemens Albrecht,
danke für die sehr hilfreichen Anmerkungen. Einen kleinen Aufschrei der Zunft gab es durch mich schon auf der Diskussionsseite des Wikipedia-Artikels „Inklusion (Soziologie)“, nun habe ich dort auch Ihren Blog-Beitrag verlinkt:
https://de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Inklusion_(Soziologie)#Sancta_simplicitas_der_bildlichen_Darstellung
Vielleicht hilft es ja, ich mache mich bald an die Arbeit und schreibe den Wiki-Artikel um, bin gespannt auf die Widerstände.
Beste Grüße
Jürgen Oetting
@Prof. C. Albrecht
Nun gut, was das pädagogisierte Schicksal des neuen schulisch-interaktiven Leitkonzepts Inklusion betrifft. Erfahrene Schullehrerinnen durften lange Jahre lang Ähnliches in anderen Feldern erfahren, etwa das instrumentale Geklipper, Mindmaps, Bildchen etc. Auch ist nicht alles neu, was so erscheint oder so ausgemünzt wird (jedenfalls im sozialwissenschaftlichen Sinn).
Auch gut, daß Sie Ein- u n d Ausschluß, Inklusion und Exklusion zuammendenken und (wenn man so will) an ihre widersprüchliche Einheit (vulgo Dialektik) mit ihrer Faustformel KEINE INKLUSION OHNE EXKLUSION (et vice versa) erinnern.
Das Grundproblem aus meienr Sicht ist Ihr mehrfaches WIR, das freilich auch im im Spannungsfeld von Ein- und Ausschluß steht. Insofern – was konkret meint Ihr WIR SOZIOLOGEN. Oder konkreter – meinen Sie ganzdeutsche Lehrstuhlsoziologen oder Mitglieder Ihrer Deutschen Gesellschaft für Soziologe? Und schließlich: ist ein immer noch aktiver „Sozialwissenschaftsjournalist“ (Lars Clausen) wie ich inkludiert in Ihr großes SOZIOLOGENWIR?
Mit freundlichem Gruß,
Dr. R. Albrecht
Bad Münstereifel, 030314
Inzwischen gibt es in der Wikipedia einen Artikel über „Inklusion (Soziologie)“, der nicht mehr völlig am Thema vorbei geht und ohne Kuller-Bilder ist:
https://de.wikipedia.org/wiki/Inklusion_(Soziologie)
Den kann man bearbeiten, verbessern, ergänzen! Ist ja noch ein „Stummel“ Einfach auf „Bearbeiten“ klicken und los. Auch unangemeldet. Wenn Soziologinnen und Soziologen in der Wikipedia mitschreiben, könnte das der Wahrnehmung des Faches nützen.
Beste Grüße
Jürgen Oetting
Lieber Herr Albrecht,
vielen Dank für Ihren interessanten Bloggbeitrag, der mich einmal mehr von dem großen Wert der Systemtheorie überzeugt, für Irritationen von Alltagsschemata zu sorgen.
Allerdings zweifle ich daran, ob sie im Bereich schulischer Inklusion tatsächlich mehr als genau das leistet.
Nehmen wir Wikipedia kurz ernst: Chantal ist der pinke Punkt, Jean-Lukas der grüne und Inklusion in die Schulklasse wird als gleichberechtigte Koexistenz unterschiedlicher Farbpunkte anschaulich gemacht. Die Kreise würde ich als „Gruppenidentitäten“ deuten wollen – Integration würde demnach bedeuten, andere Identitäten im Modus der Akzeptanz in der dominanten Mehrheits-identität existieren zu lassen (Muslimische Kinder brauchen nicht unbedingt das Morgengebet sprechen), während Inklusion den Verzicht auf Leitkulturen o.Ä. und eine Tendenz zum Individualismus andeuten würden. Damit kann ich vielleicht als Theoretiker nicht allzu große Sprünge machen – als Lehrer/in kriege ich aber sehr wohl eine grobe Vorstellung von einem angemessenen Leitbild (Verzicht auf christliche Morgengebete etc.).
Nehmen wir dagegen den systemtheoretischen Begriff, sehe ich nicht, was die Lehrerin oder der Schuldirektor zu gewinnen hat. Die Schüler sind also inkludiert, wenn sie ans Bildungssystem „angeschlossen“ sind. Die muslimischen Kinder gehen zur Schule – Inklusionsauftrag erledigt?! – Oder gibt es noch Tipps zur besseren Desintegration?
Bei aller Unkenntnis empirischer Befunde würde ich außerdem vermuten, dass es für das Lernen von Kindern tatsächlich extrem wichtig ist „sich in Kleingruppen lieb zu haben, wie vor 10.000 Jahren“.
Sie haben völlig recht: aus der soziologischen, spezieller: systemtheoretischen Deutung des Begriffs folgert keine unmittelbare pädagogische Praxis. Ich möchte trotzdem versuchen, Folgerungen zu ziehen:
1. Wo es um Integration geht, sollte man es auch Integration nennen. Mit Leitidentitäten hat dieser Begriff nicht unbedingt zu tun, er beinhaltet nicht die „Akkulturation“, sondern einzig den Aspekt der sozialen Teilhabe an Gruppen oder Organisationen.
2. Inklusion ist ein viel anspruchsvolleres Ziel, weil es hier um die Chance auf Teilhabe an gesellschaftlichen Subsystemen geht.
3. Ob Inklusion am besten erreicht werden kann, wenn man Kinder gemeinsam oder separiert (also: spezialisiert) darauf vorbereitet, ist eine offene Diskussion, die sich nur am Erfolg entscheiden sollte. Wenn etwa das Konzept der anthroposophischen Michael-Bauer-Schulen, Kinder unterschiedlicher Fähigkeiten und Herkünfte gemeinsam zu unterrichten, auf die ganze Biographie bezogen bessere Ergebnisse erzielen sollte als die klassischen Sonderschulen, würde einiges für Inklusion durch Integration sprechen.
4. Die Paralympics sind ein gutes Beispiel für Inklusion (Chance auf Teilhabe am Sport) ohne Integration: Sonst müsste Oscar Pistorius gegen Ben Johnson antreten (sofern beide ihre juristischen Probleme überstanden hätten).
Insofern plädiere ich für eine saubere Trennung beider Begriffe, für Inklusion als gesellschaftliche Zielvorgabe, bei der am Einzelfall zu entscheiden ist, ob sie besser durch Integration oder Separation zu erreichen ist.
@Anicker u.a.
Betr. TERTIUM
Wenn ich (ohne hier zensiert zu werden) mal weiterführend im TERTIUM-Sinn mitdiskutieren darf – auch wenn ich weder an Webers „soziale Schließung“ als früher Beschreibung von Ausschluß anschließe, Luhmann (wie Habermas) erst gründlich lesen werde wenn sie Deutsch übersetzt sind;-) und diese Ötting-Reklame für diese deutsche Wikipedia nicht mag: weil und wenn jede sozialwissenschaftliche Erkenntnis so konkret wie banal ist – was veranschaulicht denn´s aktuelle Beispiel winterlicher Sotschi-Paralympics? Mir kommt´s vor wie Scheininklusion, Antiinklusion, Schwindelinklusion, Inklusionsschwindel: wer dem medienmarktbezogenen Bild von Behinderung (disability, handicapment) und der aktiven Überwindung dieser durch individuelle, hier sportive, Leistung n i c h t entspricht, wird entweder ausgegrenzt oder, noch „schlimmer“, als nicht existentes Nullum (im Sinn von E. Bloch; N. Elias; K. Farkas; R. Albrecht; C. Offe)[1] nicht mal wahrgenommen. Damit ist auch hier etwas, was den Horizont aller kleinen Bürger pädagogischer und soziologischer Provenience und deren im Grunde gedankenarm-dychotomes Janeinschema überschreitendes Drittes als TERTIUM angesprochen.
[1] Anstatt weiterer Richard Albrecht, The Utopian Paradigm, in: COMMUNICATIONS, 16 (1991) 3: 283-318; Claus Offe, Moderne “Barbarei”: Der Naturzustand im Kleinformat; in: JOURNAL FÜR SOZIALFORSCHUNG, 35 (1994) 3: 229-247