„Meine Arbeitsgruppe publiziert so viel“, beklagte sich neulich ein Ökonom, „aber wir merken, dass die Kollegen das gar nicht mehr lesen.“ – Wie könnten sie auch, die sind ja alle mit Schreiben beschäftigt. Und gerade Ökonomen sollten über eine Theorie verfügen, die das Phänomen erklärt: Inflation.
Das Problem betrifft nicht allein die Ökonomie: Weil im Wissenschaftssystem die Konsumenten immer zugleich auch Produzenten sind, gibt es eine beinharte intra-personale Konkurrenz um das wirklich knappe Gut: die Zeit. Gegenwärtig gewinnt die Produktion, weil alle Anreizsysteme auf sie eingestellt sind. Wir alle sind deshalb Chinesen und überschwemmen die Märkte mit billigen Texten. Die Umweltkosten sind hoch: die Fortschrittsfähigkeit unserer Disziplinen steht auf dem Spiel. Wir brauchen dringend eine Strategie für qualitatives, nachhaltiges Publizieren.
Jede Literaturliste am Ende eines Aufsatzes dokumentiert, was der Autor gelesen hat. Der Sinn diese Dokumentation besteht darin, anzuzeigen, welcher Kenntnisstand in die Studie eingegangen ist, auf dem aufbauend sie neue Erkenntnisse gewonnen hat. Anders formuliert: die Literaturliste ist der Fortschrittsindikator. Dahinter verbirgt sich allerdings die völlig ungeklärte Frage, ab wann man einen Text „gelesen“ hat, das soll hier heißen: seinen Inhalt rezipiert und so weit verstanden, dass man, mit eigenen Gedanken anknüpfend, auf ihn aufbauen kann.
Profis, d.h.: im Wissenschaftssystem Sozialisierte, pflegen hier einen eigentümlichen Umgang mit Texten. Sie sind Meister im Diagonallesen, im schnellen Herausfischen der relevanten Stellen. Den Rest des Textes kann man sich dann schenken, „man kennt das ja schon“ oder „das interessiert mich nicht“. Dieses virtuose Surfen auf den Textwellen ist an sich ein legitimes Verfahren. Es führt allerdings auf eine schiefe Ebene: Kann ein Text auch dann als „gelesen“ gelten, wenn man nur die zentrale These herauspickt, den Rest (Beweisführung, belegendes Material, bei empirischen Studien Methodik etc.) aber nicht zur Kenntnis nimmt? Bei Aufsätzen ja, bei Monographien nein? Und bei Sammelbänden? Ist es legitim, nur das Abstract zu lesen, und dann darf man den Aufsatz zitieren? Bei Monographien: nur den Klappentext? Oder müssen es mindestens Inhaltsverzeichnis, Einleitung und Schlussteil sein?
Wie auch immer, mit diesen Überlegungen sind wir ganz dicht am rein registrierenden Lesen, dessen zentraler Akt aus der Aufnahme der bibliographischen Daten besteht. Und Hand aufs Herz: Wer jetzt missbiligend den Kopf schüttelt, frage sich doch einmal, ob er in 10, 20 Jahren wissenschaftlicher Arbeit noch nie einen Titel angeführt hat, der nur registriert, aber eben in keinerlei Weise „gelesen“ war. Der Autor dieser Zeilen gehört nicht zu denen, die dann den ersten Stein werfen.
Lesen und Schreiben müssen also bei seriöser wissenschaftlicher Arbeit in einem angemessenen Verhältnis stehen. Aber was ist angemessen? Etwa: Wer genauso schnell schreibt, wie liest, darf nur den 60. Teil seiner Arbeitszeit mit Schreiben verbringen, wenn seine Literaturliste 60 Titel umfasst? Bei solchen Fragen geht es nicht um abstruse Beckmesserei, sondern um den Sinn der Sozial- und Geisteswissenschaften (und auch der Naturwissenschaften, aber das bedürfte einer ausführlichen wissenschaftstheoretischen Begründung): Schreiben wir nicht einfach permanent alles um und bezeichnen das dann als „Fortschritt“? Sind wir, wie Nietzsche formulierte, einfach nur „später“, aber nicht „weiter“?
Für jemanden, der sich nur ein bisschen in der Wissenschaftsgeschichte auskennt, ist das déjà-vu-Erlebnis Gähnalltag bei der Lektüre von aktuellen Zeitschriften: Kenntnis der Sekundärliteratur schützt vor Entdeckungen, und es gibt eben immer mehr Sekundärliteratur. Alle, die erst Bourdieu benötigten, um den „Habitus“ zu entdecken, hätten vorher einmal die Anti-Kritiken Webers zur Protestantischen Ethik lesen sollen. Die Lektüre so mancher Artikel, die vor rund 100 Jahren geschrieben wurden, kann dagegen wahre Erkenntnisfeuerwerke auslösen (als Beispiel empfehle ich: Karl Vossler, Sprechen, Gespräch und Sprache, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1, 1923, S. 665-678).
Um das Problem verdeutlichen zu können, habe ich mir einmal die Literaturliste eines x-beliebigen sozialwissenschaftlichen Aufsatzes in einer angesehenen Fachzeitschrift aus dem Jahrgang 2013 vorgenommen. Sie umfasst 81 Titel, davon – themenbezogen – wenige Monographien und Sammelbände, viele Zeitschriftenartikel, manchmal nur wenige Seiten lang. Ich habe alle Titel, bei denen sich die exakten Seitenzahlen rekonstruieren ließen, addiert und komme auf die stolze Summe von 3.241 „gelesenen“ Seiten.
Daran angeschlossen habe ich einen Selbstversuch: einen Aufsatz, der mich durchgängig interessiert hat, wirklich gelesen, vom ersten bis zum letzten Wort, mit Exzerpt (Experimente sind dann reliabel, wenn sie nachvollzogen werden können, weshalb ich hier für alle Nachtester die bibliographischen Angaben nenne: es handelt sich um Alois Hahns Aufsatz „Kontingenz und Kommunikation“, in: O. Marquard / G. v. Graevenitz (Hg.), Kontingenz, Poetik und Hermeneutik Bd. XVII, München 1998, S. 493-521). Ich habe für die 28 Textseiten exakt 1 Stunde und 18 Minuten gebraucht. Ich habe mich in dieser Zeit nur aufs Lesen konzentriert, keine Email beantwortet, keinen Tee gemacht, das Telefon abgestellt, nur einmal Holz im Kaminofen nachgelegt.
Wenn ich dieses Zeitbudget nun hochrechne, dann würde ich für die 3.241 Textseiten 9.028 Minuten benötigen, also rund 150 Stunden reine Lektüre. Nehmen wir weiter an, der Autor des besagten Durchschnittsartikels liest einfach schneller als ich, weil er weniger nachdenken und exzerpieren muss (oder weil seine Texte im Vergleich zu Alois Hahns Arbeiten, sagen wir: unterkomplex sind), und er benötigt nur 120 h Lesezeit für diese Textmenge, so braucht er bei einem normalen wissenschaftlichen Arbeitstag von 10 h immerhin noch 12 Arbeitstage, um das alles zu lesen. Dabei bringt ihm ein Hiwi die Texte an seinen Schreibtisch (oder die Datenbanken seiner Bibliothek auf den Bildschirm), er hat keine Lehrveranstaltungen, ist von Gremiensitzungen völlig befreit, muss keine Tagungen organisieren oder Korrespondenzen unterhalten, seine Frau hat nicht Geburtstag, seine Kinder werden nicht krank (besser hat er beides nicht) – er kann also die freie Zeit völlig zur Erholung für den konzentrierten Leseprozess nutzen.
Jeder prüfe doch bitte einmal realistisch an seinem Alltag, wie viele Tage er braucht, um sich eine solche Literaturliste wirklich zu „erlesen“. Dann zähle man die Tage hinzu, die man benötigt, um einen Aufsatz von, in diesem Fall: 35 Druckseiten zu verfassen – und man hat die seriöse wissenschaftliche Arbeitsfähigkeit errechnet. Wer mehr schreibt oder in seinen Literaturlisten angibt, als diese ganz persönliche Kennzahl ausweist, arbeitet folglich unseriös.
Aber Herr Albrecht, so höre ich schon den zentralen Einwand, man erarbeitet sich doch im Laufe seines wissenschaftlichen Lebens einen Fundus, den man immer wieder zitieren kann! Der Autor Ihres Artikels ist doch ein Fachmann auf seinem Gebiet, er hat das alles nicht erst im Vorfeld dieses Aufsatzes gelesen, sondern schon lange vorher! – Sicher, antworte ich dann, aber genau das ist ja der zweite Mechanismus, der die Textmengen aufbläht: die Sekundärverwertung. Sicher kann man einen einmal gelesenen Text im Lichte eines neuen Problems, einer neuen Fragestellung noch einmal neu interpretieren. Wer aber zum fünften oder sechsten Mal einen Text zitiert, frage sich, ob er ihm wirklich etwas Neues abgewonnen hat, oder ob das, was er gerade schreibt, nicht schon längst in einem eigenen alten Text steht, kurz: Selbstzitat ist.
Diese Zweitverwertung von Erkenntnissen hat sich heute zu einem System von Publikationsstrategien ausgeweitet, die schon jenseits der Grenze zum unsittlichen Verhalten liegen. Jeder Redakteur einer wissenschaftlichen Zeitschrift kann ein Lied davon singen, wie nötig es ist, bei eingesandten Manuskripten erst einmal zu recherchieren, ob der Autor das nicht längst irgendwo auf dem globalen Markt publiziert hat. Ganze Dissertationen werden kapitelweise der sekundären Verwertung zugeführt, was man einmal auf Englisch publiziert hat, wird nun auch in die Herkunftssprache übersetzt (man weiß ja nicht, ob auch alle Englisch lesen), und positivistisch ausgerichtete Disziplinen pflegen inzwischen die Unsitte, einen Gedanken aus einer empirischen Studie in vier Teilgedanken aufzuteilen und in unterschiedlichen „Journals“ zu „plazieren“. Kein Wunder, dass man für solche Strategien dann quantitative Indikatoren braucht – einen anderen Gehalt als eine Kennzahl haben die Texte nicht mehr. Wer wollte freiwillig so etwas lesen? Es lohnt nicht.
Das alles ist nicht das Ergebnis eines wunderbaren Wachstums sich ausdifferenzierender Fächer, die jede Wissensgesellschaft dringend braucht, sondern nicht-intendierte Folge einer politisch gewollten Bewertungspraxis wissenschaftlicher Arbeit, die aufgrund ihrer Unkenntnis der Inhalte auf quantitative Faktoren setzt: die Anzahl der Publikationen (der Drittmittel, der peer-review-Zeitschriften etc.) entscheidet über die Qualität. Als man der Anzahl durch solche Bewertungspraxen erzeugter Schriften nicht mehr Herr wurde, begrenzte man Angaben zuerst auf „die wichtigsten Publikationen aus den letzten fünf Jahren“ – als ob alles, was der Autor davor geschrieben hat, nun nichts mehr wert sei (Klassiker und Standardwerke bleiben damit unberücksichtigt), und heute auf das idiotischste aller Bewertungsverfahren, den Impact Faktor. Eine solche Bewertungspraxis begünstigt systematisch Hochstapelei und Schaumschlägerei. (Als ich den Blog zu diesem Thema schrieb, war mir das ganze Ausmaß dieses Übels noch nicht bekannt. Ich hatte in letzter Zeit so viel ins Schreiben investiert, dass mir der grundlegende Artikel von Christian Fleck im Leviathan, 41, 2013, S. 611ff entgangen war.) Auf diesem Schleichweg zieht das naturwissenschaftliche Verständnis eines kumulativen Erkenntnisfortschritts auch in die innere Organisation der Sozial- und Geisteswissenschaften ein. Erst in den letzten Jahren beginnt die DFG, ganz vorsichtig umzusteuern.
Ich habe schon oft mit Kollegen und Kolleginnen über dieses Problem diskutiert. Alle sind sich einig, dass hier ein bedeutender Missstand vorliegt, und die Phantasie zu seiner Behebung kennt keine Grenzen: Ein verstorbener Altmeister der Soziologie schlug vor, jedes Manuskript für ein Jahr in einen Panzerschrank zu schließen, es dann dem Autor erneut vorzulegen, verbunden mit der Frage: Willst Du das wirklich publizieren? (er rechnete noch mit Gewissen und Scham als anthropologischen Konstanten). Andere meinen, man sollte nur Manuskripte akzeptieren, die mit Schreibmaschinen verfasst wurden. Das garantiere mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit den Ausschluss der üblichen paste & copy-Publikationen. Eine Erfolg garantierende Lösung schlug ein anderer Kollege vor: Die Anzahl der Personen, die publizieren, radikal einzuschränken: ein Viertel der heute arbeitenden Soziologen, Psychologen, Literaturwissenschaftler produziert auch nur ein Viertel der Texte. Das diene dem Fortschritt der Wissenschaft am ehesten.
Aber im Ernst: Wir brauchen dringend best-practice-Regeln, die die Erarbeitung von Ergebnissen wieder in ein angemessenes Verhältnis zur ihrer Dokumentation setzen, Lesen und Forschen zum Schreiben. Über die Einzelheiten kann man streiten, hier nur Vorschläge für ein paar Richtlinien:
- Wir brauchen einen einigermaßen verbindlichen Standard, ab welchem Kenntnisgrad ein Text als „gelesen“ zitiert werden darf.
- Die verbreitete Unsitte, aus jeder Konferenz oder Ringvorlesung möglichst sofort einen Tagungsband zu machen, sollte abgestellt werden. Vorträge dürfen nur dann publiziert werden, wenn sie mindestens drei Mal in unterschiedlichen Zusammenhängen diskutiert wurden, Manuskripte, die nicht vorgetragen wurden, gar nicht zur Publikation angenommen (Lexika- und Handbuchartikel ausgenommen).
- Die in Naturwissenschaften (und solchen Disziplinen, die sich dafür halten) üblichen Team-Publikationen sollten wissenschaftsethisch geächtet werden. Wer als Autor über einem Text steht, sollte nachweislich eine gekennzeichnete Passage verfasst und nicht nur irgendwie betreut haben.
- Lange Publikationslisten sollten Mitglieder von Berufungskommissionen nicht beeindrucken, sondern misstrauisch machen. Sie sind nur in wenigen Einzelfällen Ausdruck einer besonderen Produktivität, ansonsten aber Ergebnis von Sekundärverwertung und mangelnder Rezeption des Kenntnisstandes. Lange Publikationslisten in jungen Jahren einer akademischen Karriere deuten auf unseriöses Arbeiten hin. Das Argument: er hat viel publiziert, sollte ersetzt werden durch: er hat Gutes publiziert. Und wer das unbedingt operationalisieren möchte: Folgenreiches.
- Die Anreizsysteme in der Wissenschaft sollten generell nicht nur auf einen Teil der wissenschaftlichen Arbeit ausgerichtet sein, die Publikation von Ergebnissen, sondern umfassender auf den wissenschaftlichen Arbeitsprozess. Dazu sind aber quantitative Indikatoren völlig ungeeignet, weil sie seiner Komplexität nicht gerecht werden. Wie wäre es, wenn jede wissenschaftliche Publikation künftig von einem Blog begleitet wird, auf dem die Leser ihre Erkenntnisse und Einsichten sammeln und mit dem Autor diskutieren? Blog-Beiträge können die Rezeption genauso dokumentieren wie die Wirkung der Publikationen, und zwar qualitativ: sie sind ein funktionales, wissenschaftsadäquates Äquivalent für den Impact Faktor. Blog-Protokolle verdichten Informationen über die Qualifikation des Autors wie des Lesers in einer Weise, die viel seriöser als jede Kennzahl Grundlage von Entscheidungen sein kann, etwa über Berufungen. Auch sie können strategisch missbraucht werden, aber dazu bedarf es wenigstens der Kartellbildung.
Ich schlage deshalb vor, dass die DGS zur Bekämpfung der oben benannten Fehlentwicklungen, der Inflationierung der Texte, best-practice-Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens aufstellt, die geeignet sind, die reine Anzahl der Publikationen zugunsten ihres Gewichtes und ihrer Wirkfähigkeit zu reduzieren. Wir sollten uns auch in der Wissenschaft vom typischen Produktionsmodus der Schwellenländer lösen: keine Stofflöwen aus Plastik für Jahrmärkte erzeugen, sondern wertebeständige Hochtechnologie.
Lieber Herr Albrecht,
nur zustimmen kann man Ihren Diagnosen – mit Einschränkungen allerdings nur Ihren Therapievorschlägen: Indem Sie „Folgenreiches“ als Operationalisierungskriterium erwägen, eröffnen Sie mit dem Auszählen von Zitationsindices der Reduktion von Qualität auf Quantität wieder Tür und Tor – auch wenn Sie das dann auf’s „Bloggen“ umlenken: Mit Ausnahmen – Ihre Beiträge zähle ich dazu – führt Kommunikation im Internet zu einer Inflation von Selbstinszenierung und -stilisierung, insbesondere – aber nicht nur – wenn sie nicht verbindlich gemacht wird, also die Zurechnung zum Autor durch anonymes oder pseudonymes Publizieren umgangen werden kann.
Das Aufstellen von Regeln – das zeigt schon etwa eine Analyse des Corporate Governance Codex – löst das Problem nicht, sondern ist sein Ausdruck.*) Wenn die „Unsitte“ nicht als solche erkannt wird und ihr nicht die Sitte in selbstverständlicher Weise entgegengehalten wird, kurz: wenn das wissenschaftliche Handeln nicht auf einem wissenschaftlichen Habitus aufruht, wie er etwa exemplarisch an Max Weber zu gewinnen ist,**) dann führen Regeln nur zur technokratischen Überregulierung und spülen gerade nicht wissenschaftliche Innovatoren nach oben. Die Gedanken, die wir uns machen müssen, sind also eher darauf auszurichten, wie wir in der Lehre (nicht Unterricht) die Bildung dieses wissenschaftlichen Habitus fördern können und wie wir ihn in kollegialem Austausch fordern und stützen können.
Abschließend hier zum Zitieren und zu den Literaturlisten noch eine kleine Trouvaille, die ich vor einigen Jahren dem Literaturverzeichnis eines Buches voranstellte:
„Eine ebensolche Unsitte, die immer mehr in Gelehrtenkreisen einreißt, ist die: Literaturübersichten zu geben, ohne die angeführten Werke zu kennen. Beim heutigen Stande unserer bibliographischen Technik ist es dann nicht schwer, beliebig lange Listen von Büchern aufzustellen, die freilich nur dem Laien den Eindruck der Gelehrsamkeit machen, während der Eingeweihte meistens die Eselsbrücken bemerkt, denen die Listen ihre Entstehung verdanken. Einem solchen Unfug sollte mit der stillschweigend angenommenen Regel gesteuert werden, kein Buch in einer Literaturübersicht anzuführen, von dessen Verwendbarkeit für den bestimmten Zweck man sich nicht hinreichend unterrichtet hat.“ (Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Erster Band: Einleitung – Die vorkapitalistische Wirtschaft – Die historischen Grundlagen des modernen Kapitalismus. Erster Halbband. München, Leipzig: Duncker & Humblot 1928: XXIII)
Die bibliographischen Techniken, von denen Sombart spricht, haben sich heute ja noch perfektioniert; wichtig scheint mir sein Hinweis auf die dem entgegensteuernde erforderliche Regel: „stillschweigend“ sei sie anzunehmen – eben: kein Kodex, sondern eine Sitte.
Mit besten Grüßen
Ihr Thomas Loer
———-
*) Ein paar Argumente dazu, warum das so ist, finden sich in folgendem Aufsatz: Loer, Thomas (2008): Normen und Normalität. In: Willems, Herbert (ed.), Lehr(er)buch Soziologie. Für die pädagogischen und soziologischen Studiengänge. Band 1: Grundlagen der Soziologie und Mikrosoziologie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 165-184
**) Sehr schön deutlich wird das in seinen wissenschaftpolitischen Einwürfen – vgl. Weber, Max (2. Aufl. 2012): Max Webers vollständige Schriften zu wissenschaftlichen und politischen Berufen. Hg. v. Dreijmanis, John. Bremen, Oxford: Europäischer Hochschulverlag; dazu meine Rezension in der Soziologischen Revue (Jg. 36, H. 4/2013, S. 483-486)
Lieber Herr Loer,
d’accord: Regeln sind Krücken, wo Sitten nicht mehr greifen. Ohne intrinsische Unterstützung laufen Sie ins Leere. Allerdings: Institutionen können beides, und so stelle ich mir die Rolle der DGS auch vor: nicht als Gesetzgeber, der dann irgendwie überwacht, sondern als Formulierungsinstanz für einen Konsens im Fach, der als normative Grundlage die Ausbildung eines Habitus gleichsam intersubjektiv unterstützt. Nichts liegt mir ferner als technokratische Überregulierung. Aber ganz dem freien Spiel der Kräfte kann man wissenschaftliche Standards auch nicht überlassen. Und genau dazwischen liegen die Leitideen von Institutionen: schriftlich fixierte Sitten.
Schön die Sombart-Stelle, ich kannte sie nicht. Sie zeigt, dass das Problem nicht neu ist.
Herzliche Grüße,
Clemens Albrecht
…ach lieber Herr Albrecht,
– da klingt der Ihnen Wohlvertraute ja hervor: „Ich glaube, daß die Institutionen Bändigungen der Verfallsbereitschaft des Menschen sind. Ich glaube auch, daß die Institutionen den Menschen vor sich selbsr schützen.“*) Die DGS könnte viel besser einen Raum zur Verfügung stellen – nicht nur am Buffet bei Tagungen –, in dem offene Debatten mit Leidenschaft und Verantwortung geführt würden; aber die DGS zu kritisieren, steht mir als Nicht(mehr)mitglied nicht zu. Ich will mich auch nicht schlicht auf den Gesprächspartner und Kontrahenten Gehlens berufen, auch wenn er auf Gehlens Befürchtungen die richtige Antwort gab: „ich würde sagen, dass die Menschen, so lange, wie man sie entlastet, und ihnen nicht die ganze Verantwortung und Selbstbestimmung zumutet, daß so lange auch ihr Wolbefinden und ihr Glück in dieser Welt ein Schein ist. Und ein Schein der eines Tages platzen wird.“**)
Aber festzuhalten ist, dass der Reglementierung der Lehre, der Departementalisierung des Geistes darin und seiner Reduktion auf Wissen, nicht mit neuen Regeln zu begegnen ist, und dass die Lehre nicht sein kann, was sie sein sollte: Ort der Zukunft von Wissenschaft, wenn man sich der Aufgabe der Lehre nicht vergewissert: Erfahrungen ermöglichen und Haltungen entwickeln, Haltungen, in denen Kritik in der Sache kollegiale Anerkennung bedeutet und persönlich beglaubigte Leidenschaft als Movens von Wissenschaft erfahrbar wird.
Wissenschaftliche Standards müssen ebenso in Prozessen ernsthafter und leidenschaftlicher Auseinandersetzung erstritten werden und immer wieder neu sich bewähren. Das Aufwerten von Rezensionen, von dem Herr Petring spricht, ist ein wichtiges Moment dazu – aber nicht durch Begutachtungen, sondern durch Schaffen von Foren zur Diskussion. Zeitschriften, die dies versuchten, scheiterten ja immer wieder – warum? Da hat Herr Petring recht: Die Missachtung solcher Aktivitäten in Berufungsverfahren etwa entwertet sie. Sie kosten Zeit und bringen nichts, meint man. Aber wo, wenn nicht in solchen Foren, werden Argumente geschärft und zugleich Beurteilungskriterien für Argumente immer wieder neu auf den Prüfstand geschickt?
Was Sie mit den Blogs anzielen: Ja, davon mehr. Nur echter Streit***) aber, ernsthaft und engagiert, kann uns voran bringen.
Ihr Thomas Loer
——-
*) Adorno, Theodor W.; Gehlen, Arnold (1974): Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen?. In: Grenz, Friedemann (ed.), Adornos Philosophie in Grundbegriffen. Auflösung einiger Deutungsprobleme, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 225-251; hier natürlich: Gehlen, S. 245
**) A. a. O.; hier natürlich: Adorno; S. 250
***) Gehlen: „Wir müssen doch endlich den Streitpunkt finden.“ (A. a. O.; hier: S. 245) / Adorno: „Das ist eigentlich die ganz einfache Frage, über die ich ganz gern mit Ihnen mich gerauft hätte.“ (A. a. O.; hier: S. 244)
Lieber Herr Loer,
natürlich Institutionen – und genauso natürlich intrinsisch gestützte Haltungen. Ohne das Institut für Sozialforschung und die Diktatur des Direktors auch keine Sammlung des Ideenpotpourris als „Kritische Theorie“. Insofern bietet der Blog eine Chance, wenn er gleichzeitig institutionell in seiner Bedeutung bestärkt wird. Dass das die Welt (zumal die akademische) nicht von Heute auf Morgen anders macht, wissen wir. Dass wir deshalb aber nicht aufgeben sollte, es zu versuchen, und uns den Idiotien formaler Bewertung ergeben sollten, wissen wir auch. In diesem Sinne: einfach weiterkämpfen.
Herzliche Grüße,
Clemens Albrecht
Ein Vorschlag für die quantitative Umsetzung der Forderung nach Abbildung des wissenschaftlichen Arbeitsprozesses wäre es, Rezensionen (insb. auch von Zeitschriftenaufsätzen) aufzuwerten (und diese selbst einem Begutachtungsverfahren zu unterziehen). Hier könnte womöglich gelten: um so mehr, desto besser. In Berufungsverfahren einzureichende Literaturlisten dürften dann die nach eigener Ansicht besten 3-5 Veröffentlichungen enthalten (aber nicht mehr) sowie sämtliche Rezensionen.
Einverstanden. Wichtig ist, dass Rezensionen nicht nur Fingerübungen für Newcomer sind, sondern sich die Etablierten an dieser Fachdiskussion beteiligen. Ich würde allerdings von jeder Formalisierung absehen, sondern die Begutachtung der Rezensionen eben der freien wissenschaftlichen Diskussion überlassen: Wenn andere Leser (oder der Autor) das anders sieht und gute Argumente hat, können eben die in einem Blog ausgetauscht werden.
Lieber Clemens,
dank Dir für Deine Kritik am inflationären Publizieren. Ich finde Deine Überlegungen zur Frage, ab wann etwas als „gelesen“ gelten darf, sehr bedenkenswert (auch wenn ich den dafür aufgebrachten Zeitaufwand nicht per se als guten Indikator erachte; sehr wohl allerdings die Zeitspanne, die es gelingt, ohne selbst- oder fremdverschuldete Unterbrechung, d.h. konzentriert (und „lernend“) bei der Lektüre zu bleiben).
Mehr noch beschäftigt mich aber das Schreiben. Der Publikationszirkus ist natürlich ein Unsinn. Er hat damit zu tun, dass alles, was geschrieben wird, als wertlos gilt, wenn es nicht auch publiziert ist/wird. Natürlich muss nicht jeder Tagung ein Tagungsband folgen. Ich erinnere mich aber, dass wir zu jedem Workshop des Arbeitskreises „Professionelles Handeln“ damals eine so genannte „Dokumentation“ mit den Beitragsmanuskripten erstellt hatten. Noch vor der Institutionalisierung des Arbeitskreises erst als Arbeitsgruppe und dann als Sektion Professionssoziologie haben wir diese Praxis dann in der Tat durch Sammelbände ersetzt, deren größte Leistung vielleicht darin bestand, bei der Institutionalisierung mitgeholfen zu haben.
Die Nachfrage nach diesen Dokumentationen war damals enorm hoch (ich erinnere mich an viele Stunden am Kopierer, um den diesbezüglichen Anfragen zu entsprechen). Und den Vorgang des Dokumentierens finde ich nach wie vor sinnvoll – nicht nur aus historischen Gründen, sondern weil viele Beiträge es wert sind, weil sich daran Diskussionen entzündet haben, die tatsächlich eine nachhaltige Wirkung entfaltet haben (und auf die auch bei späteren Tagungen immer wieder Bezug genommen wird).
Diese so genannte „graue Literatur“ ist weggefallen. Darunter fallen ja nicht nur solche Dokumentationen, sondern auch die vielen Arbeitspapiere, Projektdokumentationen etc., die vor allem in Arbeits- und Projektgruppen und unter Kollegen zirkuliert sind, weil man sich gegenseitig an den Früchten des Denken teilhaben lassen wollte.
Das hat ja nun etwas furchtbar Verstaubtes, diese Papierberge, die in Büros vertrocknen und vergilben. Aber es war Ausdruck eines Wissenschaftsverständnis, wonach wissenschaftliches Arbeiten letztendlich Schreiben und nicht ’nur‘ Denken und Lesen ist bzw. das Lesen und Denken eben sichtbar werden muss und nicht nur flüchtige Spuren im immer ungenauen Reden hinterlassen darf.
Worauf ich hinaus will: Das Plädoyer für „nachhaltiges“ Publizieren sollte nicht als eines gegen Schreiben missverstanden werden. Diese Gefahr sehe ich, wenn ich bedenke, wie schwer es ist, den wissenschaftlichen Nachwuchs zum Schreiben anzuhalten. Nicht alles, was gedacht und gesagt wird, muss publiziert werden; aber wenn das, was gedacht und gesagt wird, nicht (mehr) den Reifeprozess des Schreibens durchläuft, entfernen sich Tagungen immer weiter vom wissenschaftlichen Austausch.
Vielleicht sind Blogs, Newsletter, Projektplattformen usw. tatsächlich ein guter Ort, an dem Geschriebenes – ganz papierlos – platziert, zirkuliert,kommentiert, diskutiert werden kann, ohne dass es oder lange bevor es publiziert wird.
Herzliche Grüße aus Boston
Michaela
Liebe Michaela,
als Vorstufe für Publikation und zur Konsensfindung gerade bei neuen Forschungsgebieten spielt diese graue Literatur tatsächlich eine große Rolle. Wir haben aber mit dem Netz eine ideale Plattform, um das auszutauschen, an Interessierte zu verbreiten, zu diskutieren. Ich würde vorschlagen, dass wir diese Form der Dokumentation gezielt als Vorstufe für Publikationen ausbauen, d.h. aber auch, dass nur ein Bruchteil von dem hier Verhandelten letztlich gedruckt wird.
Herzliche Grüße,
Clemens