Der enorme Widerstand der rund vierzig Refugees in Berlin-Kreuzberg gegen die angekündigte Räumung der von ihnen besetzten Gerhard-Hauptmann-Schule in den vergangenen Wochen führte wieder einmal vor Augen, wie hart umkämpft das Recht auf Asyl ist. Während sich auf staatlicher Ebene in Deutschland und in der EU stark restriktive Tendenzen in der Flüchtlingspolitik abzeichnen, die – pointiert gefasst – nicht nur darauf abzielt, die Rechte von Flüchtlingen, sondern europäische Grenzen zu schützen, kämpfen Flüchtlinge für ihr Bleiberecht und damit um ihre Existenz.
Politisch wurde das Asylrecht in Deutschland bereits 1993 verschärft und im Zuge dessen sogar das Grundgesetz geändert. Auf eine Verordnung des Rates der EU wurde vor zehn Jahren Frontex gegründet, eine Behörde zum europaweiten Grenzschutz, die nicht zuletzt aufgrund ihrer unterlassenen Hilfeleistung von in Seenot geratenen Flüchtlingen im Mittelmeer immer wieder in die Kritik gerät. Im Oktober 2013 kenterte vor Lampedusa ein Boot mit etwa 500 Passagieren aus Eritrea und Somalia, 360 der Passagiere wurden tot geborgen, gegen die Überlebenden wurde umgehend wegen illegaler Einreise ermittelt. Nach Angaben des UNHCR starben seit Anfang diesen Jahres bereits knapp 200 Menschen auf ihrem Weg über das Meer nach Europa. Aber die italienische Mittelmeerinsel ist nicht nur zum Symbol der Politik der EU gegen sogenannte illegale Einwanderung geworden, sondern mit Protestaktionen wie Lampedusa in Hamburg steht sie auch für das Aufbegehren asylsuchender Menschen im Kampf um das Recht auf Asyl.
Seit 2012 tragen Geflüchtete in Deutschland verstärkt ihre Anliegen mit unterschiedlichen Protest- und Aktionsformen in den öffentlichen Raum. Was in Würzburg mit einem Hungerstreik von Geflüchteten aus dem Iran begann, entwickelte sich zu einer Vielzahl unterschiedlicher Aktionen wie dem Protestmarsch von Würzburg nach Berlin. In zahlreichen Städten fanden weitere Hungerstreiks und Protestcamps statt, in München wurde ein internationaler Refugee Struggle Congress (März 2013) und in Hamburg eine Flüchtlingsfrauenkonferenz (April 2013) veranstaltet. Der Kampf der Refugees in der besetzten Gerhard-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg steht dabei paradigmatisch für die deutschlandweiten Kämpfe um Asyl, deren Fluchtpunkt ein umfassendes Bleiberecht ist. Die Geflüchteten skandalisieren in ihren Protesten aber auch die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften, die Residenzpflicht und die Zuteilung von Essenspaketen. Sie fordern ein Ende der Abschiebungen und eine Aufhebung des Arbeitsverbots. Die Aufnahme eines Studiums und auch die Möglichkeit der Familienzusammenführung sollen vereinfacht werden. Kurzum: Sie wehren sich dagegen, in eine äußert prekäre Lebenslage gedrängt zu werden. Ihre prekäre Lebenslage wird dabei zum Ausgangspunkt für ihre Suche nach potentiellen Bündnisbildungen.
Diese Kämpfe um Asyl fordern „Sehgewohnheiten“ heraus, da sich die Geflüchteten weigern, ein in den Medien verbreitetes Klischee über sich zu bedienen, das sie als Opfer zeichnet. Ganz im Gegenteil erheben sie Ansprüche auf Rechte und widersetzen sich aktiv restriktiven Regelungen. Wir möchten dies zum Anlass nehmen, über Möglichkeiten der Repräsentationskritik nachzudenken, wenn wir über Prekarisierung sprechen. Bisher tauchen in der soziologischen Prekarisierungsdebatte Fragen zu Asyl nur am Rande auf. Wir möchten deshalb in diesem Blog-Eintrag die Argumentation weiterentwickeln, dass die Bestimmung von Prekarisierung unzureichend bleibt, wenn nur Veränderungen in der Erwerbssphäre betrachtet werden. Zum einen müssen nationalstaatliche und EU-politische Steuerungen stärker berücksichtigt werden, die Aufenthalte sowie Zugänge zu Arbeit, Bildung und Gesundheit regulieren. Zum anderen soll aber auch das produktive Element von Prekarisierung in den Blick genommen werden. Das sind auch Fragen danach, was eigentlich die Kämpfe der Refugees mit uns als Wissenschaftler_innen und als Bürger_innen zu tun haben.
Als Wissenschaft des Sozialen und der Gesellschaft ist die Soziologie selbst Teil des Geschehens, das sie beobachtet. Sie beeinflusst mit ihren Begriffen und Perspektiven die Wahrnehmung und Vergegenwärtigung von sozialen Ungleichheiten. Als Soziolog_innen arbeiten auch wir an der Repräsentation dessen mit, was als prekär empfunden wird. Uns stellt sich also die Frage, welche Sichtbarkeiten durch die soziologische Beobachtung, aber auch durch die mediale Berichterstattung produziert und welche verhindert werden. In einer genealogischen Perspektive ist nach dem Gewordensein jener wirkmächtigen Unterscheidung zu fragen, welche die Prekarität des Einen als Normalität und des Anderen als Skandal erscheinen lässt und damit die Unterscheidung zwischen einem ‚Wir’ und ‚den Anderen’ aufrecht erhält.
Wenn man Prekarisierung nicht nur über die Erwerbssphäre bestimmt, sondern, wie wir vorschlagen, breiter fasst und beispielsweise die Umsetzung des Rechts auf Asyl zum Ausgangspunkt nimmt, gelangt man zu einem sehr weiten Begriff von Prekarisierung (hierzu ausführlich die ersten beiden Blog-Einträge). Berechtigterweise mag man sich die Frage stellen, welchen analytischen Wert ein Begriff hat, wenn man ihn so weit ausdehnt, wie wir es vorschlagen. Was ist dann eigentlich nicht prekär?
Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler entwirft in ihrem Buch Frames of War: When Life is grievable ein breites Konzept von Prekarisierung, in dem sie zwischen Prekärsein (precariousness) und Prekarität (precarity) unterscheidet. Prekärsein ist für sie die grundlegende Bedingung menschlichen Lebens. Weil wir körperliche und soziale (und damit immer auch verwundbare) Wesen sind, sind wir von Geburt an immer auf andere Menschen angewiesen. Dieses grundlegende Prekärsein wird durch soziale und politische Bedingungen reguliert, was in dem Begriff Prekarität zum Ausdruck kommt. Für Butler ist dieses weite Konzept von Prekarisierung ein wichtiger Ausgangspunkt, weil es in der Verknüpfung von anthropologischen und sozio-politischen Dimensionen – kurz: der allen Menschen gemeinsamen Erfahrung potentieller Verwundbarkeit – das Potenzial birgt, neue Bündnisbildungen zu initiieren.
Vor dem Hintergrund ihres weiten Prekarisierungsbegriffs stellt Butler Überlegungen an, die für unsere Fragen der Möglichkeiten der Repräsentationskritik bedeutsam sind. Butler stellt hierbei das Verhältnis von Normen und Anerkennbarkeit ins Zentrum und fragt zunächst, wie die angesetzten „Normen eigentlich operieren, um bestimmte Subjekte zu ‚anerkennbaren’ Personen zu machen, während sie zugleich die Anerkennbarkeit anderer Subjekte entschieden erschweren“ (2010: 14).
Während also im vergangenen Monat asylsuchende Menschen in Berlin-Kreuzberg mit dem Berliner Senat ihr Bleiberecht verhandelten, beschloss der Deutsche Bundestag zeitgleich zwei Tage vor der parlamentarischen Sommerpause und im Schatten der Fußball-Weltmeisterschaft eine Verschärfung des Asylrechts: Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina gelten nun als sichere Drittstaaten, so dass Möglichkeiten für Abschiebungen erweitert werden können.
Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist, dass Innenminister de Maizière mehr Kapazitäten für hilfsbedürftige Flüchtlinge aus Syrien verspricht und insbesondere gut qualifizierten Flüchtlingen die Möglichkeit geben möchte, in Deutschland zu arbeiten, indem die Wartefrist für die Aufnahme einer Beschäftigung von neun bis zwölf Monaten einheitlich auf drei Monate verkürzt werden soll. Was aber unterbunden werden soll, ist die Migration von Roma-Familien nach Deutschland – eine Gruppe, die weltweit erhebliche Diskriminierungen hinsichtlich ihres Zugangs zu Bildung, Arbeit, Wohnraum und Gesundheitsfürsorge erfährt.
Mit Butler gesprochen, scheint im Fall dieser Entscheidung das Prekärsein der einen Gruppe schutzbedürftiger als das Prekärsein der anderen. Aber welchen Maßstäben, welchen Kategorisierungen liegen diese Einschätzungen zugrunde?
Entkoppelt eine solche Logik nicht auch gleichzeitig den universellen Anspruch der Menschenrechte und damit auch ihre Gleichwertigkeit in Bezug auf ihre Schutzwürdigkeit? Wie ist vor diesem Hintergrund die Entscheidung des Berliner Senats zu verstehen, nicht von der Möglichkeit des Paragraphen 23 des Aufenthaltsgesetzes Gebrauch zu machen, um einer Gruppe von Menschen ein Bleiberecht zu erteilen? Gleichzeitig zeigt es aber auch, dass die politischen und rechtlichen Probleme nicht nur auf der Ebene von Kommunal- und Landespolitik gelöst werden können. Es geht, um weiter Butler (2010: 14) zu zitieren, „nicht nur um das Problem, einen größeren Kreis von Menschen in den Geltungsbereich bestehender Normen aufzunehmen, sondern vielmehr darum zu klären, wie bestehende Normen Anerkennung ab- und ausgrenzend zuweisen. Welche neuen Normen sind möglich und wie werden sie ausgestaltet? Wie kann man zu mehr egalitär angelegten Bedingungen der Anerkennbarkeit gelangen? Wie lassen sich, anders gefragt, die Bedingungen der Anerkennbarkeit selbst so verschieben, dass sie zu radikaler demokratischen Ergebnissen führen?“.
Wir schlagen also vor, die Kämpfe um Asyl, wie jüngst in Berlin, nicht als das Interesse einer partikularen Gruppe zu deuten. Der weite Prekarisierungsbegriff und Butlers Überlegungen zum grundlegenden Prekärsein öffnen vielmehr den Raum für ein Denken, das Prekärsein der Flüchtlinge mit Fragen danach zu verknüpfen, welche Konsequenzen ‚wir‘ als privilegierte Bürger_innen der Europäischen Union daraus ziehen wollen. Wie wollen wir in einem Europa leben, in dem zunehmend mehr Menschen ihr Grundrecht auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde nicht verwirklichen können? Was sagt die prekäre Situation von Geflüchteten über die Prekarisierung oder Verletzbarkeit demokratisch verfasster Strukturen aus?
Die Situation asylsuchender Menschen muss stärker in ihrer Verwobenheit mit der Verletzbarkeit bzw. dem Prekärsein aller Menschen gedacht werden. Nur so wird auch jene wirkmächtige Unterscheidung prekär, die einen schützenswerten europäischen Subjektstatus einem nicht schützenswerten Anderen (‚Eindringling‚) gegenüberstellt. Vor diesem Hintergrund ist ein weites Verständnis von Prekarisierung zentral, weil es Bündnisbildungen erst denkmöglich macht. Die eingangs erwähnten Kämpfe um Asyl stehen schließlich dafür, wie eng das Recht auf Asyl mit den Möglichkeiten, aber auch mit dem Abbau von Demokratie verknüpft ist.
Butler, Judith (2010): Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt/M./New York: Campus.
Appell_Stipendienprogramm für Studierende aus Syrien
Bis 1. August 2014 werden Professorinnen und Professoren gesucht, die als Erstunterzeichnende einen Aufruf unterstützen, in dem ein Stipendienprogramm für Studierende aus Syrien gefordert wird.
Aktualisierung: Der Appell: Hochschulstipendien für Flüchtlinge aus Syrien wurde jetzt für alle zur Unterzeichung geöffnet
Auf dieser Seite findet sich ein Aufruf, der für die Berliner Geflüchteten ein Bleiberecht nach § 23, Abs. 1 Aufenthaltsgesetz fordert.
interessantes posting, danke. in der tat geht der prekarisierungs-begriff weit über die in manchen deutschsprachigen Kontexten erfolgte Engführung auf’s Ökonomische/Sozialpolitische hinaus. das wird international bereits lange diskutiert, sehr produktiv diskutiert. daraus ergibt sich (allerdings?) die frage, ob prekarisierung nicht ein neuer begriffs-schlauch für den (guten!) alten soziologischen wein ist, der da heißt bzw. geheißen hat: reflexivierung, Modernisierung, kontingenz…
aber womöglich ermöglicht der prekarisierungs-begriff neue Einsichten. die wir weiterhin gut miteinander ausloten können.
lesenswert:
Isabel Lorey, http://www.turia.at/titel/lorey.html und
„Inventionen 1. Gemeinsam. Prekär. Potentia. Kon-/Disjunktion. Ereignis. Transversalität. Queere Assemblagen (zus. m. Roberto Nigro u. Gerald Raunig), Zürich: diaphanes 2011“
von Rita Casale & mir hggen: http://www.feministische-studien.de/index.php?id=25&no_cache=1&paper=45
https://www.academia.edu/2109681/SENSING_PRECARIZATION_AND_RESISTANCE_IN_THE_MIGRATION_CONTEXT
HG
vielen Dank, auch für die Literatur. Gegen den Einwand „alter Wein in neuen Schläuchen“ können wir uns tatsächlich nicht ganz verwehren. Dennoch halten wir es für fruchtbar, gegenwärtige (Ungleichheits-)Phänomene unter einer Prekarisierungspersperspektive zu betrachten. Weit gefasst, eröffnet der Begriff die Möglichkeit, scheinbar divergente Phänomene unter einer gemeinsamen Klammer zu sehen. Zudem können zwei Ebenen zur Konvergenz gebracht werden, die meistens voneinander getrennt werden: Prekarisierung auf der Ebene von Ungleichheitsphänomenen und auf der Ebene von Doxa. Wir schreiben dazu abschließend einen Beitrag. HG, MM
„Prekärsein ist für sie die grundlegende Bedingung menschlichen Lebens. Weil wir körperliche und soziale (und damit immer auch verwundbare) Wesen sind, sind wir von Geburt an immer auf andere Menschen angewiesen.“
Dieser Überlegung kann ich nicht folgen. Ja, wir sind alle mit der Geburt zunächst auf andere Menschen angewiesen, um zu überleben. Aber sind wir das ganze Leben auf andere Menschen angewiesen? Sie schreiben auch von Schutzwürdigkeit. Wenn diese Schutzwürdigkeit aber niemals endet, begründet dies ein lebenslanges Abhängigkeitsverhältnis vom Beschützer. Wer sollte das sein, wenn alle Menschen schutzbedürftig sind? Dass man diesen Schutz auch selbst übernehmen könnte, scheint dieses Verständnis von Prekärsein von vornherein auszuschließen. Wie ist denn ein solches Menschenbild mit dem angestrebten Ideal eines freien und selbstbestimmten Menschen vereinbar? Müsste es nicht vielmehr umgekehrt heißen, gerade weil wir körperliche und soziale Wesen sind, sind wir nicht immer auf andere Menschen angewiesen? Wir sind zwar immer irgendwie verwundbar. Aber sind wir nicht nur deswegen auf andere Menschen angewiesen, weil die anderen einem zeigen können, was man dagegen tun kann, also wie man sich schützen kann.
Sie weisen zu Recht darauf hin, dass man die Asylsuchenden nicht nur als Opfer sehen soll. Aber werden durch dieses Verständnis von Prekärsein nicht nur die Asylsuchenden, sondern alle Menschen für ihr ganzes Leben zu schutzbedürftigen Opfer erklärt, die nicht in der Lage sind ihr Leben selbständig und ohne fremde Hilfe zu führen? Bietet ein solches Menschenbild nicht auch die Legitimationsgrundlage für eine bevormundende und paternalistische Wohlfahrtspolitik und eine repressive Ordnungspolitik? Immerhin ist das notwendige Gegenstück zum machtlosen und schutzbedürftigen Opfer der über Macht verfügende Beschützer. Wo sehen Sie denn bei einem solchen Menschenbild überhaupt noch Emanzipationspotentiale? Und, letzte Frage, mit welchem Recht kann eigentlich Frau Butler alle Menschen zu schutzwürdigen Opfern erklären? Damit versagt sie ja vielen Menschen auch eine bestimmte Art von Anerkennung, nämlich denen, die selbst dazu in der Lage sind für ihren Schutz zu sorgen. Verwundbarkeit war übrigens noch nie ein Kriterium mit dem sich Anerkennung begründen lässt – allenfalls der Wille, diese zu überwinden.
Sicherlich bietet die Betroffenheit von einem bestimmten Problem das Potential für Zweckbündnisse. Im Anbetracht der schier unendlichen Vielzahl von Problemen, von denen Menschen betroffen sein können, habe ich allerdings meine Zweifel, ob Prekärsein als Problembeschreibung die geforderte Solidarität motiviert kann. Immerhin sind wir alle verwundbar, schützen uns aber offenbar mit sehr verschiedenen Mitteln dagegen. Gerade wenn man das Problem so allgemein fasst wie Butler, könnten viele den Schluss ziehen, dass jeder besser die Probleme löst, von denen er selbst betroffen ist – natürlich auch in Kooperation mit anderen Betroffenen. Entscheidend dabei ist die Schutz- oder Hilfsbedürftigkeit durch andere zu überwinden und selbst für den Schutz oder die Hilfe zu sorgen. Dann würde sich zumindest das leidige Repräsentationsproblem nicht mehr stellen, weil die Betroffenen für sich selbst sprechen und nicht irgendwelche Stellvertreter sprechen lassen, die ihnen vielleicht erst eine Problembetroffenheit andichten mussten.
Ihr Beitrag berührt einen Kern des Phänomens. „Ja, wir sind alle mit der Geburt zunächst auf andere Menschen angewiesen, um zu überleben. Aber sind wir das ganze Leben auf andere Menschen angewiesen?“ Geht man davon aus, dass der Mensch ein soziales Wesen ist und fasst man die conditio humana als eine genuin soziale, dann sind wir nicht nur mit (und vor) der Geburt auf andere Menschen angewiesen, sondern: ja, das ganze Leben. Auch endet dann die „Schutzwürdigkeit aber niemals“ – begründet aber nicht notwendigerweise ein „lebenslanges Abhängigkeitsverhältnis vom Beschützer“. Vielmehr kann diese Schutzwürdigkeit und die Angewiesenheit auf intersubjektive Anerkennung (Honneth) – zumindest theoretisch – auch als ein wechselseitiges, reziprokes und hierarchiefreies Anerkennungsverhältnis gedacht sein, wenngleich es darin ein Abhängigkeitsverhältnis bleibt. Deren Herausforderung ist die Reziprozität.
Fasst man den Menschen als sozial verfasstes Wesen, ergibt sich hieraus m.E. nicht notwendig, alle „Menschen für ihr ganzes Leben zu schutzbedürftigen Opfer(n)“ zu erklären, „die nicht in der Lage sind, ihr Leben selbständig und ohne fremde Hilfe zu führen“, ebenso wenig resultiert hieraus als notwendige Konsequenz eine „bevormundende und paternalistische Wohlfahrtspolitik“. Sehr wohl aber könnte man hieraus – mit Manfred G. Schmidt und anderen – eine Sozial- und Wohlfahrtspolitik schlussfolgern und begründen, die die Menschen vor existenzieller Not und den Wechselfällen des Lebens wie Krankheit u.a., die „die Kräfte des Einzelnen und seiner Nächsten übersteigen“ (Schmidt 2005, Sozialpolitik in Deutschland, 3. Aufl., S. 15) schützt. Gerade Sozialpolitik hat ein emanzipatorisches Potential, in dem sie die genuine Schutzbedürftigkeit des Menschen in Rechnung stellt und zu kompensieren versucht.
Ob Prekärsein als Problembeschreibung die geforderte Solidarität motivieren kann, ist tatsächlich eine offene und wesentliche Frage. Auch schützen wir uns, wie Sie schreiben, ganz offenbar mit sehr verschiedenen Mitteln auf verschiedenen Wegen dagegen. Mehr noch: die Möglichkeiten, sich zu schützen, sind (national und global) sehr ungleich verteilt – etwa nach Einkommen und Vermögen oder nach sozialem Kapital, nach Staatsbürgerschaft, regionaler und sozialer Herkunft u.v.a.m. Gerade deshalb erscheint auch ein Sozial- und Wohlfahrtsstaat erforderlich, der nicht nur sein emanzipatorisches, sondern auch sein kompensatorisches Potential umsetzt, indem er die Ungleichheiten in den Schutzmöglichkeiten der Einzelnen ausgleicht – und in diesem Sinne auch ent-prekarisierend wirkt. Aber hierzu mehr in einem der folgenden Blogs. C.W.
Vielen herzlichen Dank für Ihre vielen wichtigen Fragen, die uns mitten ins Zentrum der Herausforderungen der Subjektkritik führen. Bei Butler findet sich der Vorschlag, Vergesellschaftung von einer (körperlichen) Verwiesenheit aus zu denken und nicht von einer größtmöglichen Autonomie der Einzelnen. Sie fragen: „Wie ist denn ein solches Menschenbild mit dem angestrebten Ideal eines freien und selbstbestimmten Menschen vereinbar? Müsste es nicht vielmehr umgekehrt heißen, gerade weil wir körperliche und soziale Wesen sind, sind wir nicht immer auf andere Menschen angewiesen?“ Spannende Frage! Das Ideal, das Sie ansprechen, wird seit vielen Jahrzehnten und aus vielfältigen Perspektiven (feministische Wissenschaftskritik und Bioethik etc.) als androzentrisch verkürzt diskutiert. Dabei geht es nicht darum – auch wenn es paradox klingt– Autonomie und Selbstbestimmung zu verabschieden, aber durchaus infrage zu stellen. Also: Wessen Autonomie und Selbstbestimmung? Auf welchen Ressourcen basiert sie? Wer wird überhaupt als autonom und selbstbestimmt wahrgenommen? In Bezug auf universelle Rechte gehen damit Fragen danach einher, welche Subjekte durch das Recht überhaupt repräsentiert werden. Auf welcher Norm beruht der geltende Rechtsschutz? Wer hatte die Möglichkeit an der Rechtsschreibung mitzuwirken?
Aus dieser Perspektive wird Autonomie und Selbstbestimmung nicht vom Individuum aus begriffen, sondern als etwas, das auch von/m ‚Anderen’ abhängig ist, uns von anderen Menschen zugewiesen wird und von diesen anerkannt werden muss. Die dahinter stehende Frage ist, ob man Selbstbestimmung und Autonomie auf eine Art und Weise denken kann, die nicht von rationalen Individuen, sondern von einer Konzeption „meines Selbst als eines ausnahmslos vergemeinschafteten Selbst“ ausgeht (J. Butler: Die Macht der Geschlechternormen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 41).
Sie fragen ganz richtig, ob so nicht „alle Menschen für ihr ganzes Leben zu schutzbedürftigen Opfer erklärt“ werden. Lässt man sich auf die hier skizzierte Sichtweise ein, dann geht es eher darum zu fragen, auf welcher Grundlage ein gemeinsames solidarisches Handeln möglich ist. Die körperliche Verletzbarkeit bzw. der Wunsch nach körperlicher Unversehrtheit ist aus dieser Perspektive eine der wenigen Gemeinsamkeiten von Menschen, die sich sonst sehr stark in ihren Privilegien und in ihren Möglichkeiten, sich vor Verletzungen zu schützen, unterscheiden.
Auf unsere Frage, was „uns“ etwa mit den Berliner Protestierenden der Schule verbindet, kann man zweifelsfrei antworten, dass uns gar nichts verbindet, vielleicht die Nachbarschaft. Wir möchten uns aber auch die Suche begeben und bei dieser Suche ist dieses Verständnis von (körperlicher) Verwiesenheit fruchtbar. Ob, wie Sie schreiben, „Prekärsein als Problembeschreibung die geforderte Solidarität“ motivieren kann, ist dann tatsächlich eine empirische Frage.
MM, JT
Ich würde das wirklich, gerade wenn man mit Butler bzw. einer post-souveränen Ethik argumentiert, weiter fassen. der kleinste gemeinsame Nenner der Menschen ist nicht nur der Wunsch nach körperlicher Unversehrtheit, sondern auch die Fähigkeit, einander Gewalt antun zu können (vgl. Lévinas z.B.). Wir sind uns, so gesehen, tatsächlich weitgehend ausgeliefert und können schnell Opfer der verschiedenen Formen von Gewalt werden. Das ist nicht nur körperlich. Vgl. die Hasskampagnen im Netz gegen einzelne Kolleg_innen!
Das ist, glaube ich, aber soziologisch letztlich trivial. Wenn wir diese (existenzielle!) Trivialität aber anerkenne, ist doch eine wichtige – soziologische! – Frage: wie lässt sich dies mit z.B. Ungleichheit zusammen denken? Ist die Absicherung/sind Versuche der Immunisierung abhängig von Geld, Wissen, Status, Zugehörigkeit? Und wenn ja, wie genau? Bei Asyl z.B. ist die Zugehörigkeit in den Kreis der ‚Bürger_innen‘ entscheidend. Dazu gibt es ja reichlich Analysen, insbes. im Kontext der kritischen Migrationsforschung. Aber Raum?? Eure Bemerkung zur Nachbarschaft suggeriert ein nachbarschaftliches ‚bonding‘, das ich gar nicht nachvollziehen kann. Könnt Ihr das erklären?
HG
Liebe Paula,
vielen Dank für die Anmerkung, die wir in Bezug auf die Erweiterung des Arguments um Gewalt auch teilen. Zu der Frage nach dem ’nachbarschaftlichen bonding‘ – hier geht es uns eben nicht um eine automatische Verbundenheit oder Solidarität mit den Refugees, nur weil man eventuell im gleichen Stadtteil (Kreuzberg) lebt. Der Verweis auf Nachbarschaft soll eher darauf aufmerksam machen, dass der Kampf um Asyl wie im Fall der Kreuzberger Schule zwar für Kreuzberger_innen und Berliner_innen in lokaler Nähe stattfindet und sich über diese Nähe auch solidarisches Handeln entwickeln kann (was ja auch geschehen ist), was aber nicht bedeutet, dass dieses Handeln auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten stattfindet, wie wir sie auf der Basis von ‚Verwundbarkeit‘ zu konstruieren versucht haben. HG JT
In der Problembeschreibung würden wir uns wahrscheinlich sehr schnell einig werden. Mit Subjektkritik rennen Sie ja bei Systemtheoretikern eh offene Türen ein. Lediglich bei den daraus folgenden Erkenntnis- und Forschungsinteressen unterscheiden wir uns. Was am Ideal eines selbstbestimmten Menschen androzentristisch sein soll, weiß ich nicht. Wenn ich nur vom beobachtbaren Verhalten ausgehe, führen Männer ihr Leben nicht mehr oder weniger selbstbestimmt als Frauen. Möglicherweise liegt es schon an Ihrer Fragestellung: „Wer wird überhaupt als autonom und selbstbestimmt wahrgenommen?“ Wenn man schon personenbezogen beobachtet, würde ich eher fragen: Warum nimmt jemand eine bestimmte Person als autonom oder selbstbestimmt wahr? Wobei es dabei weniger im die wahrnehmende Person geht, sondern um ihre Kriterien (oder Indikatoren) für Autonomie und Selbstbestimmung.
Sie betonen völlig zu Recht, dass sich Autonomie und Selbstbestimmung nur in Relation des Individuums zum Anderen bestimmten lassen. Damit wird Autonomie und Selbstbestimmung zu einem sozialen Sachverhalt, weil er sich eben nur als Verhältnis zwischen mindestens zwei Personen denken lässt. Wobei ich hier weniger von einem generalisierten anderen Menschen ausgehen würde, sondern von jeweils konkreten Kommunikationspartnern. Autonomie und Selbstbestimmung können sich dann nur indirekt im jeweiligen Verhalten der Kommunikationspartner zeigen. Sicherlich sind die Kommunikationspartner nicht immer rationale Individuen – falls es solche überhaupt gibt, woran ich zweifle, denn Gefühle spielen für das menschliche Verhalten eine genauso wichtige Rolle, wie die Ratio. Was allerdings der Gegenbegriff „ausnahmslos vergemeinschaftetes Selbst“ bedeuten soll, kann ich mir nicht erschließen. Die Einflüsse, die uns prägen, kommen aus der Umwelt. Am Ende liegt es aber an jeder und jedem selbst, ob und wie man sich die Einflüsse bewusst macht und wie man mit ihnen umgeht.
Dass der Wunsch nach körperlicher Unversehrtheit eine Grundlage für solidarisches Handeln ist, hat die Geschichte wohl oft genug widerlegt. Vielmehr kann gerade dieser Wunsch zu Gewalt gegen andere führen. Ansonsten bestünde auch keine Notwendigkeit für Politik – damit meine ich das Funktionssystem im Sinne Luhmanns. Das soll allerdings nicht bedeuten dass dieser Wunsch nicht gerechtfertigt wäre. Es gibt nur unterschiedliche Möglichkeiten, wie man diesen Wunsch realisieren kann. Eine Möglichkeit besteht eben darin die Bedrohungen, und das können auch andere Menschen sein, zu eliminieren. Die Zweischneidigkeit stellt sich also nicht erst auf der Ebene von Bürgerbewegungen, wie der oder die Kommentatorin, die glaubt besser zu wissen, was ich meine, als ich selbst es weiß, meint, sondern viel grundlegender bei der Frage, wie man für die eigene körperliche Unversehrtheit sorgt. Solange sich nicht die Einsicht bei allen Menschen durchsetzt, dass Gewalt in physischer und symbolischer Form tabu ist, wird auch immer die Notwendigkeit bestehen etwas dagegen zu tun. Politische Relevanz haben weniger die Probleme, von denen alle Betroffen sind, sondern welche Lösungen dafür gefunden werden.
Ich vermute eher, dass in einer weiteren Gemeinsamkeit aller Menschen eine etwas bessere Chance für kooperatives, nicht unbedingt solidarisches, Handeln liegt: die Andersheit, Verschiedenheit, Unterschiedlichkeit oder Kontingenz aller Menschen. Klingt zunächst ziemlich abstrakt, lässt sich aber in praktisch jeder sozialen Situation erfahren, da man es immer mit anderen Personen zu tun hat, die die Welt anders sehen als man selbst. Insofern besteht die Herausforderung darin, Kommunikationsweisen zu finden, wie man trotz der Verschiedenheit zu einer annährend gemeinsamen Sichtweise auf einen Sachverhalt finden kann. Dazu gehört es auch herauszufinden, warum die andere Person die Dinge anders sieht als man selbst. Das ist sicherlich nicht einfach oder problemlos, aber immer noch besser als die gewaltsamen Lösungen. Denn bei denen braucht man sich gar nicht erst die Mühe machen die anderen Personen zu verstehen. Und gerade in dieser Einfachheit gewaltsamer Lösungen liegt ihre verführerische Attraktivität bis heute.
Wiederum vielen Dank! Ganz kurz zum beobachtbaren Verhalten bzgl. Selbstbestimmung: da lässt sich jedenfalls mit Blick auf eigenständige Existenzsicherung und dadurch ermöglichte oder beschränkte Selbstbestimmung durchaus ein Unterschied zwischen Männern und Frauen (v.a. Frauen mir Fürsorgeverantwortung) beobachten, wenn man an die ungleiche Partizipation am Arbeitsmarkt und an Fürsorgetätigkeiten, die daraus resultierenden (durchschnittlich) ungleichen Einkommen und die ungleiche Alterssicherung denkt (was natürlich nicht heißt, dass ein eigenes Einkommen sich per se mit Selbstbestimmung gleichsetzen ließe).
Aber entscheidend ist ja die Relation von ego und alter und die zentrale Frage, in welcher Gemeinsamkeit aller Menschen Chancen für kooperatives Verhalten zu suchen und zu finden sind. Die eigene, die menschliche und existenzielle Verletzbarkeit ist eine, und m.E. die „einfachere“ Variante – hier lässt sich die goldene Regel relativ leicht (und am eigenen Körper spürbar) nachvollziehen, um nochmal auf Immy zu referieren. Die Andersartigkeit ist deutlich voraussetzungsvoller, da sie erfordert, sich in alter zu versetzen und seine/ihre Sicht auf die Welt nachzuvollziehen (was ja allemal empirisch schwierig und system-theoretisch unmöglich ist). Und beides kann sich in Gewalt niederschlagen: die körperliche Unversehrtheit von alter nicht anerkennen und die andere Sicht auf die Welt zur Ruhe bringen zu wollen. Insofern sind wir womöglich nicht nur bei der Problembeschreibung nahe, sondern auch in einer grundlegenden Folgerung: jedenfalls Gewalt in physischer und symbolischer Form zu tabuisieren. C.W.
Ja, diese Zweischneidigkeit zieht sich letztlich durch alle Lösungsvarianten. Auch bei der von mir präferierten Variante wird das Politische im Sinne Carl Schmitts nicht eliminiert und ein Rückfall in gewaltsame Konfliktlösungsmethoden ist nicht ausgeschlossen. Das Problem bei der einfachen Lösung besteht darin, dass sie letztlich immer nur mechanische Solidarität (nicht unbedingt im Sinne von Durkheim) erzwingen kann, denn nichts diszipliniert besser als ein äußerer oder innerer Feind. In Romanen wie G. Orwells „1984“ oder auch R. Heinleins „Stormship Troopers“ werden die daraus resultierenden Herrschaftstechniken ausführlich beschrieben. Kommunismus und Faschismus haben sie extensiv eingesetzt. Das Problem dieser Form mechanischer Solidarität ist, dass die Konstruktion der Gemeinschaft immer nur unter Bezug auf externe Bedrohungen bzw. Feinde basiert. Der gemeinschaftliche Zusammenhalt lässt sich immer nur gegen etwas etablieren. Letztlich ist das einheitsstiftende Element immer die Feindschaft und die daraus resultierende Handlungsmotivation Hass. Dies zeigt sich immer nach dem Zusammenbruch autoritärer Regime wie z. B. Jugoslawien oder Irak. Sobald die Regimes beseitigt waren, brachen wieder alte Feindschaften auf, die vorher mit Gewalt unterdrückt wurden. Mehr ist mit mechanischer Solidarität wohl nicht zu erreichen – eine erzwungene Ordnung.
Wird die wie auch immer geartete Verschiedenheit nicht dazu genutzt um Feindbilder zu konstruieren, sondern produktiv um eine Verständigung zu erreichen, kann dies zu einer Überwindung der Freund/Feind-Unterscheidung führen. Die Verschiedenheit des Kommunikationspartners wird dann nicht mehr als Negation des Selbst aufgefasst, sondern als die Chance sich seiner eigenen personalen Identität zu versichern. Eine Synchronisation des wechselseitigen Erlebens bis zur vollständigen Übereinstimmung ist, wie Sie richtig anmerken, unmöglich. Die Frage ist allerdings, ob eine solche vollständige Übereinstimmung überhaupt notwendig ist, um den anderen verstehen zu können. Ich denke nicht. Das Ziel kann letztlich nur darin bestehen auf eine wechselseitige Handlungskoordination bei divergentem Erleben der beteiligten Personen hinzuarbeiten. Nur die Lösung gemeinsamer Probleme durch Kooperation kann zu einer tendenziellen Konvergenz des Erlebens der Beteiligten führen, auch im Hinblick darauf, wie man in den Augen der anderen erscheinen möchte. Das ist nicht einfach und häufig mühsam und anstrengend, aber immer noch besser als die einfachen, aber gewalttätigen Alternativen. Gelingt eine solche Kooperation, kann man schließlich das beobachten, was Durkheim als organische Solidarität bezeichnete.
Ich möchte durchaus nicht bestreiten, dass es institutionelle Benachteiligungen von Frauen gibt. Ich frage mich allerdings, ob die Lösungen immer politisch sein müssen, die ja zumeist nur darin bestehen eine institutionelle Benachteiligung durch eine andere zu ersetzen. Damit werden nur die Personen ausgetauscht, die Machtmechanismen bleiben jedoch dieselben bzw. das eigentlich Problem, das Verhaltensmuster, wird perpetuiert. Darin kann ich keinen Fortschritt erkennen, sondern lediglich simplen Revanchismus. Dies ist meiner Meinung nach nur möglich, weil auch Teile der feministischen Bewegung es immer noch für normal halten, dass man in Freund/Feind-Kategorien denkt und handelt. Die Lehre, dass das Freund/Feind-Schema selbst das Problem ist, wurde leider noch nicht gezogen. Dass in dieser Hinsicht Teile verschiedenster Protestbewegungen noch einen erheblichen Nachbesserungsbedarf in ihren Kommunikationsformen haben, möchte wohl niemand ernsthaft bestreiten. Und gerade dieses einheitsstiftende Moment von Feindbildern diskreditiert häufig durchaus berechtigte Anliegen, denn es wird nur Hass und Wut artikuliert. Dieses Problem stellt sich auch, wenn man von körperlicher Unversehrtheit als einheitsstiftendes Element ausgeht. Damit setzt man ja direkt bei Schmitt an und perpetuiert das Politische anstatt es zu überwinden. Man beschwört quasi die Probleme herauf, die man eigentlich lösen will.
Die Anerkennung der grundlegenden Verletzbarkeit der Anderen kann, muss aber nicht zu einer nur mechanischen Solidarität, zu einer bloß erzwungenen, auf externe Bedrohungen bezogenen Gemeinschaft führen. Mir scheint sie vielmehr zunächst als eine grundlegende Voraussetzung. Auf diese Gemeinsamkeit aufbauend, folgte dann die Anerkennung der Verschiedenartigkeit mit dem Ziel eines verständigungsorientierten Handelns.
Auch aus einer anerkennungstheoretischen Perspektive (im Honnethschen Verständnis) ergibt sich die Notwendigkeit nicht nur der ersten, sondern auch der zweiten, anspruchsvolleren Variante. Aus einer solchen Perspektive im weiteren Sinne schließen sich zudem die Frage an: Welche Differenzen bestehen zwischen den angenommenen Idealen der wechselseitigen, reziproken Anerkennung der Verletzbarkeit und der Andersartigkeit, Verschiedenheit der Menschen auf der einen Seite und dem „empirisch“ auffindbaren Ist-Zustand auf der anderen? Was sind gesellschaftliche und strukturelle Ursachen für diese Differenzen? Und wie ließe sich der erstgenannte Zustand erreichen? Also welcher gesellschaftlicher Bedingungen bedarf es, damit die universelle Anerkennung der Gleichheit (im gleichen Recht auf Leben und Unversehrtheit aller Menschen, in der Achtung der Würde aller Menschen) und die intersubjektive Anerkennung der Andersartigkeit des konkreten sowie des verallgemeinerten Anderen kein bloß theoretischer Fluchtpunkt bleiben, sondern eingelöst werden (können) – und das im Bereich konkreter sozialer Nahbeziehungen, innerhalb nationalstaatlicher Grenzen und global? CW
Die Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit
Beobachter der Moderne stellt im ersten Abschnitt interessante Fragen. Er erweckt durch die Auswahl der verwendeten Präpositionen im ersten Abschnitt zunächst den Eindruck eines dem Text gegenüber kritischen Standpunktes. Er stellt die entscheidende Frage nach der Instanz, die den schutzbedürftigen Schutz gewähren soll. Das ist m.E. das Gesetz, und nicht der Staat (der ja aus Gesetzen, Bevölkerung UND Territorium besteht). Im zweiten Abschnitt gibt er dem traurigen Normalzustand die passenden Namen, nämlich Paternalismus und Repression. Er suggeriert, dass er sich durchaus Gedanken über Emanzipationspotentiale macht, die mithin als Legitime Bestrebung ansieht. Hier hinterfragt er den Standpunkt Butlers, und bringt dort den Begriff der Anerkennung (wenn auch im Butlerschen Sinne) ins Spiel – Diskurse der Ausgrenzung ist hier das Stichwort.
Der Satz Dann würde sich zumindest das leidige Repräsentationsproblem nicht mehr stellen, weil die Betroffenen für sich selbst sprechen und nicht irgendwelche Stellvertreter sprechen lassen, die ihnen vielleicht erst eine Problembetroffenheit andichten mussten. ist sehr zentral, denn er verdeutlicht die Mechanismen der Ausgrenzung.
Ohne die ständige Bewußtmachung, so „Beobachter der Moderne“, von Ungerechtigkeit und Benachteiligung gäbe es unter anderem auch weniger Pro-NRW Wähler, weniger Hamas Sympathisanten, weniger Konflikte in der Ukraine und weniger schwäbische Lehrer, die sich Dienst- oder Fachaufsichtsbeschwerden einhandeln, weil sie diskriminierende Texte für Unterschriftenaktionen verfassen, die der Abwehr einer halluzinierten regenbogenfarbenen Gefahr für die „Keimzelle der Gesellschaft“ (habe ich eigentlich schon erwähnt, daß ich Fichte und Konsorten für die nächsten 20 Generationen verflucht habe) dienen sollen.
Er scheint auf die zweischneidigkeit des historischen Models der „Bürgerbewegungen mit dem Zweck der Erlangung von Rechten“ hinweisen zu wollen.
@ Christine Wimbauer
Ja, die Probleme existentieller Bedrohung und die Vielfalt der Lebensstile können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. In welchem Zusammenhang sie stehen, versuchte ich bereits in meinem letzten Kommentar anzudeuten. Auch die von Ihnen aufgeworfenen Fragen werden eigentlich durch diesen Kommentar bereits beantwortet. Meine These lautet etwas vereinfacht und dadurch notwendig auch etwas zu pauschal ausgedrückt folgendermaßen: Solange es für normal gehalten wird in klischeehaften Vorurteilen und Feindbildern zu denken und andere Personen seinen dadurch aufgestauten Frust und Hass durch sein Verhalten spüren zu lassen, wird sich nichts ändern. Eine Möglichkeit diesen Frust und Hass weiter anzustacheln, ist das Schüren von Angst und Misstrauen, z. B. vor physischer Gewalt. Schon die bloße Fixierung auf das Problem, ohne das klar wäre, was die Lösung ist, kann die Angst und das Misstrauen weiter steigern und zu einer fatalistischen Einstellung führen. Am Ende wird man entweder lethargisch oder sucht den gewaltsamen Befreiungsschlag.
Dieser Hang zu stark vereinfachenden Personenbeschreibungen betrachte ich als das, was Sie wahrscheinlich als strukturelle Ursache bezeichnen würden. Es geht mit anderen Worten um bestimmte angstbasierte Kommunikationsgewohnheiten, die nach meinem Eindruck in Deutschland sehr stark ausgeprägt sind. Das geht im Alltag los und zieht sich durch alle politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und auch künstlerischen Zusammenhänge. Solange sich daran nicht etwas ändert, wird sich das beschriebene Ideal, wie man zu einer anerkennenden und wertschätzenden Kommunikation kommen kann, nur extrem schwer erreichen lassen. Unmöglich ist es aber nicht, denn auch hier kann jeder selbst mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen wie es geht.