Internationale, qualitative HIV-Forschung

Vom 6.-9. Juli 2015 fand in Stellenbosch, Südafrika, eine internationale Konferenz zu sozialwissenschaftlicher HIV-Forschung statt („Rhetoric and Reality“). Die Konferenz wurde von ASSHH (Association for the Social Sciences and Humanities in HIV) veranstaltet und fand in dem Tagungszentrum des Stellenbosch Institute for Advanced Study (STIAS) statt. Ich hatte bereits an der letzten ASSHH-Konferenz vor zwei Jahren in Paris teilgenommen und war nun das erste Mal in meinem Leben in Südafrika.

Das Besondere an ASSHH-Konferenzen (im Unterschied zu anderen internationalen HIV-Konferenzen) besteht in dem Fokus auf dezidiert sozialwissenschaftlichen Zugängen zur HIV-Forschung, die kritisch und theoretisch informiert sind und methodologische Ansätze beinhalten, die in klinisch-biomedizinisch dominierten Kontexten oft nur wenig Beachtung finden. Viele der vorgestellten empirischen Studien basieren auf qualitativer Forschung, Mixed-Method-Designs und partizipativer Forschung; Theoriebezüge werden zu einem breiten Spektrum von Ansätzen und Disziplinen hergestellt (v.a. Anthropologie, Cultural Studies, Gender Studies, Literaturwissenschaft, Postcolonial Studies, (Sozial-)Psychologie, Soziologie und Politikwissenschaften).

Die Präsentationen auf der Tagung thematisierten aktuelle Entwicklungen in der globalen HIV-Epidemie: die neue Biomedikalisierung der Prävention durch das prophylaktische Verschreiben und Einnehmen von Medikamenten (Pre-Exposure Prophylaxe, kurz PrEP); die neue Identität „undetectable“ bei HIV-positiven schwulen Männern, deren Viruslast unter die Nachweisgrenze gefallen ist und die nicht mehr „ansteckend“ sind; und vieles mehr (siehe Programm). Einzelne Beiträge machten auf die paradoxen Effekte von internationalen Empfehlungen in lokalen Kontexten aufmerksam (z.B. zum Thema „Stillen“ oder zu „freiwilliger medizinischer männlicher Beschneidung“); sie gingen der Frage nach, wie HIV-Diskurse Heteronormativität reproduzieren, oder wie sich politischer Aktivismus und Ethnographie verbinden lassen, zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit der Kriminalisierung von Homosexualität in Uganda (zu diesem Thema hielt Stella Nyanzi einen Plenarvortrag).

Einen Beitrag möchte ich besonders herausgreifen: es handelt sich um eine qualitative Interviewstudie (von Erin Stern und Kolleg/innen) zu Problemen in der medizinischen Versorgung in dem Township Kayelitsha am Stadtrand von Kapstadt (an dem Township fährt man vorbei bei der Anreise nach Stellenbosch, siehe Foto).

Das Township Kayelitsha von der Autobahn
Das Township Kayelitsha von der Autobahn

Nachdem in Südafrika über den Zugang zu den teuren antiretroviralen Medikamenten (ART) lange Zeit heftig gestritten wurde (und teilweise immer noch gestritten wird), stellt sich nun die Frage, wieso sozial benachteiligte Personen, die theoretisch Zugang zu ARTs haben, diesen praktisch nicht oder nur eingeschränkt nutzen.

Die Ergebnisse der Studie zeichnen ein komplexes Bild: es wurden 19 Patient/innen mit HIV/Aids interviewt, die ihre medizinische Behandlung unterbrochen hatten und anschließend mit schweren Symptomen stationär behandelt werden mussten. In den Lebenswelten dieser Menschen stellt HIV nur eins von mehreren existentiellen Problemen dar, und wenn beispielsweise im Kontext von Armut nicht genug zu Essen da ist, können Medikamente nicht mit Essen eingenommen werden, wenn die Anfahrt zur Klinik ein Problem darstellt, verzögern sich Klinikbesuche, und wenn das medizinische Personal den Patient/innen vorwurfsvoll und aggressiv begegnet, wird nach einer unfreiwilligen Unterbrechung der nächste Klinikbesuch ggf. weiter hinausgeschoben, u.s.w.. Die Erzählungen der Patient/innen wurden mit Erzählungen des klinischen Personals trianguliert. Und auch wenn diese Ergebnisse, die das Handeln der Akteure im Kontext sozioökonomischer Strukturen, institutioneller Rahmungen und kultureller Deutungsmuster rekonstruieren, nicht komplett neu sind, so hat mich doch die sorgfältige Erhebung und Analyse der Daten in dem spezifischen Kontext des Townships Kayelitsha beeindruckt – und zwar nicht nur im Hinblick auf den Erkenntnisgewinn, sondern auch im Hinblick auf einen potentiellen Anwendungsnutzen. Die Erinnerung daran, dass jede medizinische Versorgung in einen sozialen und gesellschaftlichen Kontext eingebettet ist, scheint gerade jetzt in Südafrika sehr angebracht, wo angesichts der hohen Zahlen von Betroffenen zu einseitiges Gewicht auf rein biomedizinische Lösungsansätze gelegt wird. So die Einschätzung eines südafrikanischen HIV-Forschers:

„We run the risk of becoming ignorant of the frailty of the patients‘ situation and the importance of social structures.“ (Pierre Brouard)

Grundsätzlich war für mich interessant zu erleben, welch zentrale Bedeutung HIV/Aids im Kontext von Südafrika hat. Auch in sog. „Niedrig-Prävalenzländern“ wie Deutschland stellt HIV/Aids ein relevantes Thema für Public Health und für sozialwissenschaftliche Forschung dar, aber der Kontext in Südafrika ist definitiv noch einmal eine ganz andere Nummer.

Ich habe auf der Konferenz unter anderem Ergebnisse aus einem diskursanalytischen Projekt (Kategorien im Wandel) vorgestellt, auf das ich in meinem nächsten Blogeintrag eingehen werden – darin wird es auch um die „race“- Kategorien gehen, die in Südafrika verwendet werden.

Eingang zum Stellenbosch Institute of Advcanced Studies
Eingang zum Stellenbosch Institute of Advcanced Studies

11 Gedanken zu „Internationale, qualitative HIV-Forschung“

  1. Vielen Dank für diesen sehr interessanten Beitrag, liebe Frau von Unger! Sollte die Studie von Stern et al. schon verlinkbar sein, würde ich mich sehr über einen Hinweis freuen – ich vermute aber, dann hätten Sie den Link bereits gesetzt.

  2. Ja, ich habe schon geguckt – denn nach der letzten ASSHH-Konferenz wurden die PPT-Folien veröffentlicht – aber noch stehen die Präsentationen nicht online…

  3. Kleine, qualitative Interviewstudien wie diese haben in der Regel nicht den Anspruch „generalisierbare“ im Sinne von „repräsentative“ Ergebnisse hervorzubringen. Es geht statt dessen darum, den Einzelfall, hier: den lokalen Kontext der Versorgung im Township Kayelitsha besser zu verstehen. Die Ergebnisse spiegeln jedoch das wieder, was wir auch aus ähnlichen Studien in anderen Regionen Afrikas kennen.

    1. Vielen Dank für Ihre Antwort!

      Ich hätte zwei anschließende Fragen:

      1. Wie wurde die Stichprobe ausgewählt? Gibt es dafür standardisierte Verfahren?
      2. Denken Sie, dass es möglich oder wünschenswert ist, Politikempfehlungen aus solchen Studien abzuleiten?

      (Ich meine die Fragen ernst. Ich bin kein qualitativer Forscher und stehe qualitativen Methoden eher skeptisch gegenüber, aber mich würde Ihre Perspektive sehr interessieren.)

      1. Lieber Leser,
        vielen Dank für Ihr Interesse.

        Die erste Frage kann ich Ihnen leider nur teilweise beantworten, da die methodischen Aspekte der Studie auf der Konferenz nur in aller Kürze vorgestellt wurden. Grundsätzlich gibt es in der qualitativen Forschung verschiedene Logiken, nach denen Datenquellen ausgesucht werden bzw. nach dem empirisches Material erhoben wird. Das „theoretische Sampling“ aus der Grounded Theory stellt beispielsweise eine relativ bekannte Strategie dar, über die auch sehr viel publiziert ist.

        Zu Ihrer 2. Frage: Ja, ich denke, dass Studien wie diese für die Entwicklung von Politikempfehlungen hilfreich sein können, auch wenn sie sicher nicht die alleinige Grundlage darstellen. Zivilgesellschaftliche Akteure wie „Treatment Action Campaign“ entwickeln bspw. in Südafrika Forderungen an die Politik und ziehen dabei i.d.R. verschiedene Wissensbestände (inkl. qualitative und quantitative Studien) zu Rate.

  4. Liebe Hella, sehr spannend ist dein Bericht aus Südafrika! Insbesondere wird die Schnittstelle der Kategorien von „race“ und Ethnizität, soziale Herkunft, Geschlecht, sexuelle Identitäten sowie Krankheit und Behinderung verdeutlicht. Die Intersektionalitätsforschung weist darauf hin, dass es nicht um eine reine Kumulation dieser Merkmale geht, wenn multiple Identitätskonstruktionen in verschiedenen Lebenslagen untersucht werden sollen. Der Beitrag verdeutlicht, wie sehr in diesem Kontext Armut im Mittelpunkt der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung um Krankheiten wie HIV/Aids stehen muss. Die Biomedikalisierung und die Grenzen der Therapieangebote werfen globale ethische Fragen auf, gleichzeitig immer auch eine individuelle Auseinandersetzung mit der Krankheit und die Folgen der Stigmatisierung und des behindert werdens. Habt ihr im Projekt „Kategorien im Wandel“—gerade im Hinblick auf die Zentralität von Fragen der Hautfarbe und des Migrationshintergrunds in Ländern wie Südafrika, Grossbritannien oder die USA—schon Erkenntnisse darüber gesammelt, inwieweit HIV/Aids zum „master status“ wird und wie sich die Schnittstelle Ethnizität / Krankheit verschiebt?

    1. Lieber Justin,
      vielen Dank für Deinen Kommentar. Was Du über die Verschränkungen und Verflechtungen von verschiedenen Dimensionen von Ungleichheit und Identität schreibst, ist vollkommen richtig.
      In dem „Kategorien im Wandel“-Projekt beschäftigen wir uns allerdings weniger mit den Lebenswelten und Identitäten von Menschen mit HIV/Aids, sondern mit den Kategorien, die in der Gesundheitsbericherstattung verwendet werden. Und da finden wir im Hinblick auf HIV viele spannende Verknüpfungen von Migration, Ethnizität, Sexualität und Gender (z.B. die Tendenz zu Gleichsetzung von Herkunft aus afrikanischen Ländern mit heterosexueller Übertragung und Identität).
      PS Übrigens habe ich auf der Konferenz auch Jill Hannass-Hancock (http://www.heard.org.za/staff/jill-hannass-hancock) wieder getroffen, die ja zu HIV und disability in South Africa arbeitet…

  5. Sehr geehrte Frau Professor von Unger,

    vielen Dank für Ihre Ausführungen und Ihren Mut, Ihre Arbeit außerhalb der emotional-ideologischen Komfortzone „Universität“ im direkten, interaktiven Kontakt mit der Öffentlichkeit zu präsentieren.

    Welches Verständnis von „Wissenschaft“ vertreten Sie?

    Welche erkenntnistheoretisch-ontologische Qualität hat die von Ihnen skizzierte „qualitative Forschung“, zum Beispiel die soziologisch populäre sog. „grounded theory“?

    Wie konzipieren Sie das Verhältnis der subjektiven Antworten von Befragten in einer bestimmten emotional-ideologisch strukturierten Situation zum objektiven Verhalten/Handeln der Befragten außerhalb dieser Situation?

    Welche soziale Strukturen werden auf welcher ontologisch-logischen Ebene berücksichtigt? Wie wird ihre Entstehung, Veränderung und ihre Wirkung konzipiert?

    Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang und generell in der qualitativen Forschung „das Unbewusste“, die a-rationale Basis menschlichen Verhaltens?

    Ihr Selbstbewusstsein, mit der Sie Ihre Thesen vortragen, ist psychologisch bewundernswert, Frau Professor von Unger!

    Sie haben den Absturz der Soziologie offensichtlich wohl besoldet (mit Steuergeldern finanzierte Ausflüge nach Südafrika inbegriffen) mit Pensionsansprüchen in einer weiterhin angenehmen emotional-ideologischen Komfortzone, wie der bisherige kollegiale Austausch zeigt, überlebt!

    Was hat Ihr Kollege, Prof. Gerhard Wagner, übersehen, wenn er schreibt:

    „Das (dass keine aktuellen Publikationen zum aktuellen Stand der Forschung soziologischer Wissenschaftstheorie zu finden sind, G.A.S.) ist kein Zufall, denn im Unterschied zu anderen Einzelwissenschaften findet man in diesem Fach noch nicht einmal annähernd eine facheinheitliche Konzeption von Gegenstand und Methode, die man referierend vorstellen könnte. Was man findet, sind viele widersprüchliche Positionen (Braun, 2008), die überblicksartig vorzustellen müßig wäre. Man würde damit nur einen Missstand dokumentieren, der offenbar für den Missstand des ganzen Fachs verantwortlich ist. ‚Es gibt in diesem Fach derzeit keinen Stand der Erkenntnis‘, lautet die ÖFFENTLICHKEITSWIRKSAME (Hervorhebung G. A. S.) Kritik anlässlich des Jubiläumskongresses, den die Deutsche Gesellschaft für Soziologie zur Feier ihres 100-jährigen Bestehens 2010 in Frankfurt am Main ausgerichtet hatte (Kaube 2010).
    Als wollten sie dieses VERNICHTENDE URTEIL ( Hervorhebung G.A.S.) bestätigen, ließen kurz darauf Fachvertreter in einer Befragung durchblicken, dass es tatsächlich keinen ‚Konsens über das Grundwissen der Disziplin‘ gibt, was sich in erster Linie mit einer ‚fehlenden gemeinsamen wissenschaftstheoretischen Vororientierung im Fach‘ erklären lässt (Braun & Ganser 2011:171) Da die Soziologie offenbar wie ein Computer abgestürzt ist,…“ (Wagner 2012:1)?

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