Jana Rückert-John und Lutz Laschewski
Ernährung ist das bislang jüngste soziologische Thema, welches in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Form einer eigenen Sektion institutionalisiert wurde. Erstaunlich ist dieser Umstand, weil Ernährung in der soziologischen Forschung eine lange Tradition hat. Jedoch sprachen wohl ihre Alltäglichkeit und die vielfältigen Verknüpfungen der Ernährung zu schon etablierten Themen gegen die gesonderte Widmung einer Sektion. Die seit einigen Jahren rasant ansteigende Aufmerksamkeit für das Thema in der Gesellschaft hat diese Annahme aufgelöst: Ernährung ist weder banal noch eine bloße Kulisse zur Illustration anderer Strukturmerkmale der Gesellschaft.
Darum haben sich die Mitglieder der Sektion Land- und Agrarsoziologie für eine thematische Erweiterung ihres Gegenstandsbereichs um den Schwerpunkt der Ernährung ausgesprochen. Dieser Erweiterung haben der Vorstand der DGS und das Konzil im letzten Jahr zugestimmt. Da die Konsolidierung der Sektionen ein wichtiges Anliegen der Entwicklung der DGS ist, kam eine Neugründung nicht in Frage. Warum aber bietet sich ausgerechnet die Land- und Agrarsoziologie für dieses Thema an? Und inwiefern ist Ernährung tatsächlich ein genuines soziologisches Thema und die Erweiterung nicht nur die vorschnelle Reaktion auf eine der üblichen Themenkonjunkturen? Diese Fragen sollen in den nächsten Wochen ein Thema des Soziologie-Blogs sein, der Lust machen soll, die Gesellschaft aus der Perspektive der Ernährung und den Bedingungen ihrer Produktion zu beobachten. Denn weder Ernährung noch Lebensmittelproduktion oder das rurale Leben sind langweilige Themen – im Gegenteil entscheidet sich die Zukunft der Gesellschaft nicht zuletzt hier.
Ernährung als Thema der Soziologie
Ernährung ist seit Beginn der Soziologie ein wiederkehrendes Thema. Nicht zufällig Georg Simmel, der mit vielen seiner anscheinend banalen Alltagsbeobachtungen, die Moderne symptomatisch beschrieb, wies im kurzen populären Aufsatz „Soziologie der Mahlzeit“ von 1910 auf die soziale Funktion des gemeinsamen Essens und Trinkens hin. Bekanntlich beschrieb Norbert Elias 1939 anhand der Tischsitten, der Präsentation des Essens und die Verwendung von Esswerkzeugen den „Prozess der Zivilisation“. Margaret Mead verdeutlichte in ihrer strukturalistischen Analyse der Familienmahlzeit von 1959 deren gemeinschaftsstiftende und zugleich abgrenzende Effekte. Claude Levi-Strauss zeigte in seinem Zyklus „Mythologica“ von 1964 bis 1971, dass die Vorstellung von der Ordnung der Welt auf das engste mit Nahrungsmitteln verknüpft ist. Neben weiteren empirischen Untersuchungen zur Soziologie und Kultur der Ernährung führte Pierre Bourdieu 1982 in seinem Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ aus, wie soziale Differenzierung mit dem Ernährungshandeln als kulturelles Kapital habitualisiert ihren Ausdruck findet. Über die verschiedenen Untersuchungen hinweg wird deutlich, dass Ernährung nicht nur ein Anlass für die Erforschung der Gesellschaft ist, sondern die Gesellschaft beim Essen erst entsteht.
Gleichwohl war das Thema Ernährung in der deutschen Soziologie lange Zeit marginalisiert. Als profanem Alltagsthema konnte es nur wenig soziologische Beachtung finden. Darum vor allem war und ist Ernährung eine Domäne der Naturwissenschaften. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde aber Ernährung durch bemerkenswerte Einzelarbeiten zunehmend wieder in den Blickpunkt soziologischer Arbeiten gezogen. Zu nennen sind hier etwa Arbeiten von Eva Barlösius (2011, 2016), Monika Setzwein (1997, 2004), Otto Bayer et al. (1999) oder Hans-Jürgen Teuteberg (2004).
In den letzten Jahren nahm die Bedeutung der Ernährung als Debattenthema in westlichen Wohlstandsstaaten jedoch deutlich zu. Denn es ist nun nicht mehr der Hunger anderswo, über den verhandelt wird. Der Ernährungswohlstand und gar der Nahrungsüberfluss haben nämlich tiefgreifende Folgewirkungen für Gesundheit und Umwelt. Ernährung wird damit wieder höchst relevant für die Möglichkeit von Gesellschaft. Das führte für die deutsche Debatte trotz aller Kochshows vor allem dazu, dass Ernährung nur als Problem thematisiert wird und dabei den Spaß am Essen fast vergisst. Daran zeigt sich aber, dass vor dem Hintergrund des Überflusses Ernährung zunehmend reflexiv und damit verfügbar für Fragen etwa der Identität und des Lebensstils wird. Diese Entwicklung spiegelt sich aktuell auch in einer Zunahme von Ernährungstrends wider, die sich als Strategien der Selbstoptimierung und identitären Selbstbeschreibung verstehen lassen.
Diese Bedeutungszunahme findet in den Sozialwissenschaften ihren Ausdruck in der Zunahme soziologischer und kulturwissenschaftlicher Publikationen sowie Forschungsprojekten und in verschiedenen Formen der Institutionalisierung wie Netzwerken oder Arbeitskreisen, die häufig außerhalb von Universitäten und Hochschulen angesiedelt sind. Aber auch seitens der naturwissenschaftlichen Ernährungsforschung werden zaghafte Versuche interdisziplinärer Kooperationen unternommen. Denn auch die naturwissenschaftliche Ernährungsforschung kann sich nicht der alten soziologischen Einsicht verschließen, dass Essen immer auch ein soziales Phänomen ist.
Integration der Ernährungssoziologie in die Sektion Land- und Agrarsoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
In der Soziologie hatte sich über viele Jahre eine „merkwürdige“ Arbeitsteilung hinsichtlich der Ernährung etabliert: Die Soziologie des Konsums befasste sich dabei mit der Konsumption von Lebensmitteln, die Land- und Agrarsoziologie widmete sich der Produktion von Lebensmitteln (Tovey 1997). Dieser Arbeitsteilung findet sich zum Beispiel in der European Sociological Association (ESA) wieder, in der Ernährung ein Thema im Rahmen des Research Networks „Sociology of Consumption“ ist.
Seit 1990 aber wird versucht, die konzeptionelle Trennung von Konsum und Produktion zu überwinden. Stattdessen werden die Beziehungen und Wechselverhältnisse zwischen „Ernährung“, „Agrarproduktion“ und „ländlichem Raum“ herausgearbeitet (Buttel 2001, Carolan 2012). Thematisiert werden dabei „Food Commodity Chains“, Alternative Food-Netzwerke, ökologischer Landbau und globale Ernährungsregime. Eine wissenschaftliche Heimat für derartige Forschungsthemen in Europa ist unter anderem die European Society for Rural Sociology (ESRS). In der von ihr herausgegebenen Zeitschrift „Sociologia Ruralis“ finden sind in den letzten zwei Jahrzehnten zu diesen Themen circa 120 wissenschaftliche Publikationen. Neben ihrer internationalen Dachorganisation (IRSA) hat sich auch innerhalb der International Sociological Assoziation (ISA) ein Research Network „Agriculture and Food“ etabliert, in dem beide Perspektiven gleichermaßen Beachtung finden.
Darum erschien die Sektion „Land- und Agrarsoziologie“ der DGS geradezu prädestiniert dafür, sich ebenfalls dem Themen Ernährung zu widmen. Die Verknüpfung der Ernährung mit der Soziologie des Landlebens erst weist auf die bislang immer noch praktizierte Trennung des Ernährungs- und Agrarbereichs hin. Sie ist sowohl im akademischen Bereich vorzufinden als auch in der Ausdifferenzierung eigenständiger Politikfelder. Indem etwa ernährungssoziologische Themen und Fragestellungen und das Landleben unter der Perspektive der „Food Chain“ integriert werden, kann auch der Ernährungskonsum in seine lokalen und globalen Verweisungszusammenhänge gestellt werden. Daran anknüpfend können Ernährungspraktiken als soziale Phänomene auch in ihren Eigenlogiken thematisiert werden.
Mit der Integration der Ernährungssoziologie wird der Tatsache Rechnung getragen, dass die Agrarentwicklung nicht mehr ohne eine Perspektive auf sich wandelnde Konsum- und Ernährungsmuster betrachtet werden kann. Ländliche Entwicklungsstrategien und Kontroversen in ländlichen Regionen, nämlich Auseinandersetzungen um Agro-Food Systeme, Tierethik, Lebensstile und Ernährungsweisen und nicht zuletzt alternative Wirtschaftsformen und Ressourcennutzungen ländlicher Regionen, lassen sich erst vor diesem Hintergrund in Gänze verstehen. Dafür wurden auf zahlreichen Tagungen in den letzten 15 Jahren Impulse gesetzt, die sich nun langsam in Strukturen verstetigen.
Es bleibt aber noch viel zu tun, da die Land- und Agrarsoziologie in Deutschland gegenwärtig nur noch an den zwei universitären Standorten, nämlich Göttingen und Hohenheim, als Fachgebiet institutionalisiert ist. Nur wenn es gelingt das Themenspektrum zielgerichtet auf eine umfassendere Perspektive mit dem Fokus auf Ernährung zu erweitern, kann die Zukunft dieses Themenbereiches gesichert werden. Nur so kann Interesse geweckt werden für ein Thema, das umfassend eine wesentliche Bedingung von Gesellschaft beobachtet und diese metaphorisch und tatsächlich formt: Ernährung.
Literatur:
Barlösius, Eva, 2011: Soziologie des Essens: Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. 2. Auflage. Juventa Verlag, Weinheim und München.
Barlösius, Eva, 2016: Soziologie des Essens: Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. 3. Auflage. Beltz, Juventa Verlag, Weinheim und München.
Bayer, Otto; Kutsch, Thomas; Ohly, Hans Peter, 1999: Ernährung und Gesellschaft. Forschungsstand und Problembereiche. Springer VS, Wiesbaden.
Bourdieu, Pierre, 1982: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main.
Buttel, Frederick H., 2001: Some Reflections on Late Twentieth Century Agrarian Political Economy. In: Sociologia Ruralis, Jg. 41, H. 2, S. 165-181.
Carolan, Michael S., 2012: The Sociology of Food and Agriculture. Routledge, London and New York.
Elias, Norbert, 1939 [2010]: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft: Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main.
Levi-Strauss, Claude, 1964 [2000]: Mythologica I: Das Rohe und das Gekochte. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main.
Levi-Strauss, Claude, 1966 [1997]: Mythologica II: Vom Honig zur Asche. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main.
Levi-Strauss, Claude, 1968 [1997]: Mythologica III: Der Ursprung der Tischsitten. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main.
Levi-Strauss, Claude, 1971 [1976]: Mythologica IV: Der nackte Mensch. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main.
Tovey, Hilary, 1997: Food, Environmentalism and Rural Sociology: On the Organic Farming Movement in Ireland. In: Sociologia Ruralis, Jg. 37, H. 1, S. 21-37.
Mead, Margaret, 2008: Deciphering a meal. In: Counihan, C.; Van Esterik, P. Food and Culture. A Reader Routledge, New York and London, S. 36-54.
Setzwein, Monika, 1997: Zur Soziologie des Essens. Tabu. Verbot. Meidung. Springer VS, Wiesbaden.
Setzwein, Monika, 2004: Ernährung — Körper — Geschlecht. Zur sozialen Konstruktion von Geschlecht im kulinarischen Kontext. Springer VS, Wiesbaden.
Simmel, Georg, 1910: Soziologie der Mahlzeit. In: Der Zeitgeist. Beiblatt zum Berliner Tageblatt Nr. 41, 10. Oktober 1910, S. 1–7. Online: http://socio.ch/sim/mahl10.htm, Stand: 12. Juli 2016
Teuteberg, Hans-Jürgen (Hrsg.), 2004: Die Revolution am Esstisch. Neue Studien zur Nahrungskultur im 19. / 20. Jahrhundert. Franz Steiner Verlag, Stuttgart.
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