Die COVID-19-Pandemie führte zu massiven und anhaltenden gesellschaftlichen Umbrüchen. Neben Maßnahmen wie Lockdowns und Kontaktbeschränkungen wurden viele Beschäftigte entweder arbeitslos, auf Kurzarbeit oder in die Heimarbeit geschickt. Angesichts dieser Bedingungen stellt sich die Frage, inwiefern die Pandemie als möglicher Katalysator für Plattformarbeit dient. Denn die Geschäftsmodelle von Plattformunternehmen basieren darauf, verschiedenste Dienstleistungen mit einer hohen örtlichen und zeitlichen Flexibilität und geringen Kontakten zu vermitteln. Die Pandemie scheint prädestiniert dafür, um weitere Voraussetzungen zu schaffen, die diese Charakteristika besonders attraktiv machen.
Unser Beitrag basiert auf einer ersten Welle von Interviews, die wir mit zehn Plattformunternehmen in Deutschland geführt haben. Wir wollen erste Erkenntnisse auf die Frage liefern, wie Plattformunternehmen durch die Pandemie gekommen sind und inwiefern sich ihre Wachstumsperspektiven verändert haben.[1] Dabei unterscheiden wir zwischen ortsabhängiger und ortsunabhängiger Plattformarbeit. Erstere umfasst Dienstleistungen wie bspw. Essenslieferungen, Mobilität, Reinigung oder Betreuung – also Tätigkeiten, die an einem bestimmten Ort ausgeführt werden müssen. Letztere beinhaltet Tätigkeiten, die am Computer ausgeführt werden und damit nicht ortsgebunden sind. Hier muss zwischen unterschiedlichen Aufgabenkomplexitäten unterschieden werden (Gerber 2019; Berg u. a. 2018). Mikroaufgaben bezeichnen einfache und unterstützenden Tätigkeiten, für die es meist kein spezifisches Vorwissen braucht und die in kleine, klar definierte Arbeitseinheiten aufgeteilt. Makroaufgaben sind komplexe Aufgaben, die ein gewisses Maß an Kreativität und spezifischem Vorwissen erfordern.
Mit Blick auf die konkreten Tätigkeiten findet sich im Sample eine Vielfalt an Spezialisierungen. Unter den Fallplattformen für ortsabhängige Tätigkeiten sind Lebensmittellieferungen, Mobilität, Care-Arbeit, Zeitarbeit und Marktforschung vertreten. Unter den Fallplattformen für ortsunabhängige Tätigkeiten sind Crowdtesting und Texting (Mikroaufgaben) sowie professionelles Freelancing (Makroaufgaben) vertreten. Die meisten Fälle gehören mit mehr als fünf bis über zehn Jahren zu bereits etablierten Plattformunternehmen. Lediglich drei Unternehmen sind mit Pandemiebeginn auf den deutschen Markt gekommen.
Unsere Befunde zeigen, dass die Pandemie die untersuchten Unternehmen unterschiedlich getroffen hat. Dabei spielen die Spezialisierungen nach Kund*innen und Tätigkeiten eine Rolle. Eindeutige Gewinnerinnen sind die Lieferdienstplattformen. Die Unternehmen profitieren immens von Lockdowns, Kontaktbeschränkungen und der vermehrten Heimarbeit. Laut Umfragen des Digitalverbands Bitkom ist die Anzahl derer, die sich 2020 Essen online oder per App über eine Plattform bestellen, von etwa 14 Prozent vor der Pandemie auf 22 Prozent gestiegen (Bitkom 2020). Auch Online-Lebensmittelbestellungen stiegen von 16 Prozent vor Corona auf 26 Prozent im Jahr 2021, wobei 8 Prozent der Befragten Online-Supermärkte und 7 Prozent Sofortlieferdienstplattformen nutzten (Bitkom 2021). Die Zahlen zeigen auch: es ist weiter Luft nach oben. Die von uns befragten Unternehmen bauen ihre Standorte und Beschäftigtenzahl massiv und kontinuierlich aus und planen auch nach der Pandemie weiter zu expandieren. Die Interviewpartner gehen davon aus, dass die Pandemie die Nachfrage nach Ihrem Angebot nachhaltig beschleunigt hat. Als größtes Problem stellt sich aus ihrer Sicht die Personalknappheit dar. Man profitiert zwar auch hier davon, dass ehemals in der Gastronomie und im Kulturbetrieb Beschäftigte zumindest zeitweise ihren Erwerb über die Plattformen zu sichern versuchen. Doch die (festangestellten) Fahrer*innen zu halten und weiterhin neue zu gewinnen gestaltet sich als Herausforderung.
Dem gegenüber stehen Mobilitätsanbieter, die zunächst starke Einbrüche hinnehmen mussten. Der untersuchte Fall konnte diese zumindest teilweise damit auffangen, indem sie Fahrangebote für sog. systemrelevante Beschäftigte einrichtete. Diese Erfahrungen der Anpassungsmöglichkeiten und Flexibilität des eigenen Modells führen dazu, dass momentan an weiteren Einsatzmöglichkeiten gearbeitet würde.
Als dritte Kategorie im Sample lassen sich vor allem Plattformen identifizieren, die weder stark in Mitleidenschaft gezogen wurden noch eine nennenswerte Beschleunigung ihres Wachstums erfahren habe. Diese lassen sich vor allem anhand ihrer Anpassungsfähigkeit charakterisieren. Zwar gab es bei vielen Plattformen für sowohl ortsabhängige als auch ortsunabhängige Tätigkeiten durchaus Einbrüche bei Kund*innen. Bei den ortsabhängigen Plattformen wurden bspw. Tätigkeitsbereiche wie Kinderbetreuung, Tagesjobs in der Gastronomie oder Überprüfung von Produktplatzierungen deutlich seltener nachgefragt. Bei den ortsunabhängigen Plattformen brachen bspw. Kund*innen aus der Reise- oder Automobilindustrie weg. Diese Einbrüche konnten laut der Unternehmen jedoch schnell kompensiert werden durch erhöhte Nachfrage in anderen Bereichen sowie Erschließung neuer Kund*innen. Bei ortsabhängigen Plattformen erhöhte sich im Zuge der Pandemie bspw. die Nachfrage nach Haushaltsdiensten oder gar Tagesjobs in Testzentren. Bei ortsunabhängigen Plattformen erhöhten sich v.a. im Bereich des E-Commerce, der wiederrum ebenfalls durch die Pandemie befördert wurde. Eine Fallplattform wechselte sogar von ortsabhängiger zu vermehrt ortsunabhängiger Plattformarbeit.
Die Befunde zeigen, dass sich die starke Expansion vorrangig auf den Bereich der Lieferdienste begrenzt. . In der Mehrzahl der Fälle kam es durchaus zu kurzfristigen Einbußen, jedoch ohne eine ernsthafte Gefährdung des Geschäfts oder längerfristiger Wachstumsambitionen darzustellen. Vielmehr unterstreicht die Pandemie die hohe Resilienz des Plattformmodells. Auf Basis der Interviews identifizieren wir hierfür folgende Faktoren.
Erstens, zeigt die Pandemieerfahrung die enorme Flexibilität und Skalierbarkeit der Geschäftsmodelle. Die Unternehmen konnten relativ schnell und ohne größere Kosten oder organisatorische Aufwände ihr Geschäft kurzzeitig runter und später wieder hochfahren. Zudem konnten sie Einbrüche in einigen Tätigkeits- und Kund*innenbereichen ausgleichen durch Erschließung neuer Bereiche. Das spiegelt auch eine gewisse Gegenstandsneutralität mancher Plattformunternehmen wider. Als Intermediäre können Sie ihre Koordinationsfunktion relativ leicht auf neue Geschäfts- und Tätigkeitsfelder ausweiten und so ihr Angebotsportfolio flexibel erweitern.
Zweitens, bilden die Grundlage für die hohe Flexibilität und Skalierbarkeit die geringen Fixkosten des Plattformmodells. Diese resultieren zum einen daraus, dass Plattformen organisatorisch primär aus digitalen Infrastrukturen anstatt Fabriken oder Bürogebäuden bestehen. Vielen Interviewpartner*innen zufolge konnte die Umstellung auf neue Kund*innen und Tätigkeitsbereiche problemlos gelingen aufgrund der flexiblen technologischen Infrastruktur. Mit Ausnahme der untersuchten Lieferdienste, die für die Ausrüstung ihrer festangestellten Fahrer*innen sowie für Hubs und Verteilerzentren aufkommen, haben die Fälle aus dem Sample (neben den Personalkosten für zumeist wenig Festangestellten im Verwaltungs- und Personalbereich) vorrangig IT-Ausgaben. Diese lassen sich je nach Marktlage hoch- oder runterskalieren, so dass sehr dynamische Kostenanpassungen möglich sind.
Zum anderen resultieren die geringen Fixkosten und somit hohe Flexibilität und Anpassungsfähigkeit auch aus der Rolle als Arbeitsvermittler*in. Bis auf Ausnahme der Liefer- und (in unserem Fall) Mobilitätsdienste ziehen sich die Unternehmen in unserem Sample auf die Koordinierung von Kund*innen und Plattformarbeiter*innen zurück. Auftragseinbußen oder Veränderung von Anforderungsprofilen durch Kund*innenwechsel werden somit einseitig von den Plattformarbeiter*innen getragen. Auch die Einhaltung der Hygienerichtlinien bei ortsgebundenen Tätigkeiten wurde größtenteils an Kund*innen und Plattformarbeiter*innen ausgelagert.
Insgesamt unterstreicht die Pandemieerfahrung die hohe Reaktions- und Anpassungsfähigkeit von Plattformunternehmen und Plattformarbeit. Nicht alle Bereiche von Plattformarbeit profitieren so stark wie die Lieferdienste. Einige erlebten kurzzeitig Einbußen, in wenigen Fällen führte die Pandemie zu einer längerfristigen Veränderung des Geschäftsfokus. Jenseits der divergierenden Pandemiebetroffenheit sehen die meisten unserer Plattformfälle Corona dennoch als Chance für sich. Denn die Pandemie habe gesellschaftliche Veränderungen beschleunigt, die ihr Modell der Hyperflexibilität und -Individualität bedienen kann. Auf der Kund*innenseite profitieren Plattformunternehmen von einem wachsenden E-Commerce, der stärkeren Nutzung von Apps im Konsumverhalten und Öffnung von Unternehmen für digitale Heimarbeit. Auch mit Blick auf die Mobilisierung und Konsolidierung einer stabilen und gar wachsenden Plattformarbeiter*innenschaft, die bislang ein zentrales bottleneck für die Expansion darstellt, könnten Plattformunternehmen von der Pandemie profitieren. Dabei hoffen sie nicht (nur) darauf, Ausweg aus (kurzfristigen) Notlagen und Arbeitsmarktkrisen zu sein. Sie wollen auch längerfristig von der steigenden Offenheit für flexibles, z.T. mobiles Arbeiten bei Beschäftigten profitieren.
Literatur
Berg, Janine; Furrer, Marianne; Harmon, Ellie; Ranin Uma & Silberman, M. Six (2018): Digital labour platforms and the future of work. Towards Decent Work in the Online World. Rapport de l’OIT. Genua: International Labour Organization.
Bitkom (2020): Pizza, Sushi und Co.: Jeder Zweite bestellt seit Corona öfter online Essen nach Hause. Unter: https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Pizza-Sushi-und-Co-Jeder-Zweite-bestellt-seit-Corona-oefter-online-Essen-nach-Hause
Bitkom (2021): Corona bewirkt dauerhafte Veränderung beim Kauf von Lebensmitteln. Unter: https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Corona-bewirkt-dauerhafte-Veraenderung-beim-Kauf-von-Lebensmitteln.
Gerber, Christine (2019): Alte Herrschaft in digitalen Gewändern? Der Arbeitsprozess auf Crowdwork-Plattformen. In: Nuss, Sabine & Butollo, Florian. Marx und die Roboter: vernetzte Produktion, Künstliche Intelligenz und lebendige Arbeit, 256–75. Berlin: Karl Dietz Verlag.
Autor*innennotizen:
Christine Gerber ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe „Globalisierung, Arbeit und Produktion“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Forschungsschwerpunkte: Arbeits- und Industriesoziologie, Veränderung von Arbeitskontrolle, Digitalisierung der Arbeitswelt, Plattformökonomie
David Wandjo ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe „Globalisierung, Arbeit und Produktion“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Forschungsschwerpunkte: Arbeits- und Industriesoziologie, Digitalisierung der Arbeitswelt, Technik & Innovationssoziologie
[1] Die Daten wurden für das Forschungsprojekt „Automatisierung, Digitalisierung und Virtualisierung der Arbeitswelt in Folge der COVID-19-Krise“ erhoben, das vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert wird. In dem Projekt untersuchen wir, wie sich die ökonomischen und sozialen Disruptionen in Folge der COVID-19 Pandemie kurz- und mittelfristig auf die Digitalisierung der Arbeitswelt auswirken. Die Projektgruppe besteht aus Prof. Martin Krzywdzinski, Dr. Florian Butollo und Dr. Jana Flemming und wird unterstützt durch Lorena Herzog und Nina Delicat.