Mikroblogging: kurz, schnell und unberechenbar (1/3)

Als ich vor eineinhalb Jahren zu „tweeten“ begann, wusste ich eigentlich nicht wirklich, auf was ich mich da einlasse. Ein Forschungsprojekt zur Arbeit im Web2.0 hatte den Anstoß dazu gegeben, selber im Feld der Social Media primäre Erfahrungen sammeln zu wollen– und da bot es sich an, gleich das neueste Medium auszuprobieren. Erst mit der Zeit lernte ich, damit umzugehen. Inzwischen erlebe ich die Beschäftigung mit Twitter als anregende persönliche und nicht zuletzt auch soziologische Erfahrung, aber gelegentlich kann sie auch anstrengend werden (z.B. wenn man glaubt, die Follower regelmäßig ‚bedienen‘ zu müssen, weil sie einem sonst ‚untreu‘ werden könnten – was passieren kann).

Twitter gilt als Blog, weil dort regelmäßig Nachrichten von Personen oder Organisationen eingestellt werden. Es ist aber eine höchst eigenwillige Kurzform des Blogging, die deshalb zu der inzwischen etablierten Bezeichnung „Mikroblog“ geführt hat. Die ungewöhnliche Logik erklärt sich (wie oft bei den Neuen Medien) aus der Anfangszeit des Mediums: zuerst eine Initiative von Wissenschaftlern, wurde daraus bald ein kommerziell angelegter ‚Dienst‘, durch den User die Möglichkeit bekommen sollten, mit winzigen (vielleicht auch ‚witzigen‘) persönlichen Kurznachrichten („Tweets“ = „Gezwitscher“) aus ihrem Alltag zu berichten. Verbunden mit Geodaten sollten die Follower dann sehen, wo ihre Freunde gerade sind und wie es ihnen geht. Das Medium hat sich dann (wiederum typisch für die Neuen Medien) schnell verselbständigt und wurde von vielen User für ganz andere Zwecke und auf andere Weise genutzt, woraus sich schließlich der große Erfolg von Twitter ergab.

Kurz einige Merkmale von Twitter für diejenigen, die es nicht genau kennen (als Beispiel wie eine Twitterseite aussieht meine eigene „time-line“ = die Abfolge der Tweets):

Twitternachrichten haben maximal 140 Zeichen, was zu dem ständigen Kampf führt, auf so wenig Platz eine sinnvolle Aussage unterzubringen. Diese sprachliche Herausforderung wird gelegentlich auch als eine Form von Poesie genutzt und sogar im etablierten Feuilleton gewürdigt (neulich hörte ich, offline, die Lesung einer Twitterpoetin …). Man kann jedoch in den Tweets Links zu Webseiten unterbringen (meist in verkürzter Form, wofür es wiederum URL-Shortener-Dienste gibt), wodurch die Informationsbreite zunimmt. Seit einiger Zeit gibt es zudem die Möglichkeit, Bilder anzuhängen, die seit Neuestem sogar in der Time-Line angezeigt werden. Häufig wird Twitter nicht von Computern aus benutzt, sondern über Smartphone-Apps, so dass man aus jeder Lebenslage twittern kann. Es kann inzwischen auf Tagungen passieren, dass Zuhörer Kommentare zu den Vorträgen twittern, die hinter dem Rücken des bedauernswerten Referenten auf die Rückwand des Saals projiziert werden („Laaangweilig !!“, „Blödsinn!“).

Die Tweets werden bevorzugt von den eigenen „followern“ (vergleichbar den „Friends“ auf Facebook) gelesen, was man aber nur erfährt, wenn sie reagieren (worauf man wartet …). Aber auch jeder andere User im www, der sich auf die Adresse eines „Tweeters“ einloggt oder über Google darauf stößt, kann die Tweets mitlesen (wovon man nichts mitbekommt …). Man kann seinen Account schützen, indem man Follower nur nach Anmeldung zulässt (so macht das z.B. Howard S. Becker, dessen Account ich im Moment aber nicht mehr finde, siehe ersatzweise seine nette Homepage).

Durch die Möglichkeit des „Retweet“, d.h. des Weiterleitens an die Follower des jeweiligen Lesers, können sich Schneeballeffekte ergeben. Diesen Ablauf kann man forcieren, indem man zentrale Begriffe mit einem Hashtag (#) versieht, was bei thematischen Recherchen durch andere Tweeter dazu führt, dass sie die Tweets gesendet bekommen. Auf diese Weise kann man an den oft sehr weitreichenden allgemeinen Twitter-Debatten teilnehmen … und auf große Resonanz hoffen. Wie eine solche Dynamik aussehen kann, zeigt ansatzweise ein Video zur Entwicklung der Twitterkommunikation sofort nach dem Erbeben in Japan, eine Animation zur Entwicklung von Twitterreaktionen nach dem News-of-the-World-Skandal in GB aus dem Guardian und nach einem Schneechaos ebenfalls in GB.

Es besteht außerdem die Möglichkeit, anderen Tweetern Nachrichten direkt zukommen zu lassen, womit sich eine Art Email- oder SMS-Verkehr über Twitter ergibt. Zusatzdienste von externen Anbietern, die die Nutzung von Twitter erleichtern sollen (Echofon, Tweetdeck usw.) , machen das beschränkte Medium zunehmend besser handhabbar – z.B. für PR-Profis großer Organisationen, die inzwischen (mit unterschiedlichem Erfolg) fast durchwegs Twitter als Kanal zu nutzen versuchen. Damit ist schon angedeutet, dass Twitter weithin der rein privaten Nutzung entwachsenen ist, was spätestens seit der Verwendung von Twitter bei den Umbrüchen in Nordafrika oder als Medium von Dissidenten in totalitären Regimen in der allgemeinen Öffentlichkeit registriert wird . Immer häufiger berichten nicht nur regionale Blogger, sondern auch Korrespondenten großer Traditionsmedien direkt über Twitter aus Krisenregionen oder von aktuellen Ereignissen (u.a. Pulitzerpreisträger Nick Kristof, NYT, der z.B. auf dem Weg nach Kairo seine Follower fragte, worauf er besonders achten solle, dann auf dem Tahrir-Platz über Twitter nach Informanten suchte und kontinuierlich in Echtzeit mit Tweets berichtete).

Dass Twitter, ähnlich wie Facebook, in diesem Jahr einen schier unglaublichen Aufschwung erlebt hat, hat sich herumgesprochen. Trotzdem lohnt es, sich ein paar Zahlen auf der Zunge zergehen zu lassen:

100 Millionen aktive Nutzer (und doppelt so viele registrierte Nutzer), wovon die meisten Twitter in der Regel nur lesen. 50 Millionen loggen sich täglich ein und es werden jeden Tag ca. 230 Millionen Tweets gepostet (+110% seit Januar). Stärker aktive Nutzer gibt es zwar „nur“ 21 Millionen, und wie bei allen Social Media generiert nur ein sehr kleiner Anteil der User die große Masse des „Traffic“ (s.a. „Social Networks Statistiken Deutschland“)

Wie bei Blogs generell gibt es auch bei Twitter inzwischen eine starke Ausdifferenzierung der Nutzungsformen: bevorzugt nach wie vor für den privaten Bereich, aber immer häufiger auch als förmliches Kommunikationsmedium für fast jeden öffentlichen Bereich: Wirtschaft, Politik, etablierte Massenmedien, alle Arten gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen (Selbst der Papst „twittert“ mit seinem neuen iPad). Auch wenn Twitter als Social Media gilt, wird der Dienst primär als One-Way-Informationsmöglichkeit verwendet, jedoch immer mit der (gewollten oder nur unausweichlichen) Möglichkeit der Reaktion der Follower. Als Institution sollte man darauf tunlichst angemessen antworten (wenn man nicht riskieren will, einem kommunikativen Tsunami ausgesetzt zu werden), was, wie unsere eigenen Forschungen zeigen,  viele Organisationen aber immer noch nicht recht begriffen haben (wie das beimVatikan ist, weiß ich nicht; die Tweets des neuen Pressesprechers der Bundesregierung werden nach wie vor heftig kommentiert, siehe dazu auch hier).

Zum Schluss noch einige Anmerkungen zur Nutzung von Twitter in der Wissenschaft, speziell in der Soziologie:

Wie Blogs generell wird auch Twitter zunehmend als Informationskanal in fast allen Disziplinen genutzt – häufig im internationalen Raum, eher zögerlich in Deutschland. Viele der im letzten Post genannten soziologischen Blogger twittern zusätzlich, oft um ihre neuen Blogposts anzukündigen, immer häufiger aber auch, um damit auf eigenständige Weise öffentlich aktiv zu werden. Das kann schlicht die Verbreitung von Informationen über die eigene Arbeit (Publikationen, Tagungen, Vorträge, Pressemitteilungen, Stellenausschreibungen usw.) sein, aber auch die Platzierung von Kommentaren zu gesellschaftlichen resp. politischen Entwicklungen aus persönlicher oder wissenschaftlicher Sicht oder das Posten von Nachrichten/Informationen aus der Perspektive des eigenen Fachs. Letzteres habe ich mir zum Ziel gesetzt, auch um die Wahrnehmung der Soziologie in der Öffentlichkeit zu verbessern (ob das geling,  mag jeder für sich beurteilen).

Hier einige (bewusst unterschiedliche) Beispiele (siehe für eine umfangreiche Sammlung von Adressen meine Twitterliste „Soziologie/Sociology“). Man beachte, dass, anders als bei den ‚großen‘ Blogs, viele Tweeter nach wie vor anonym oder mit verschleierter Identität auftreten:

Als ich als deutscher Soziologe mit dem Tweeten begann, hatte ich den Eindruck, fast der Einzige zu sein – aber vielleicht hatte ich auch den einen oder die andere nur nicht gefunden. Hier einige (von nach wie vor nicht sehr vielen) soziologische Tweeter in Deutschland mit sehr unterschiedlichem Aktivitätsgrad (hi!):

Ein soziologisch interessierter Tweeter kann also, wenn die abonnierten Tweeter gut gewählt sind, nicht nur als Sender auftreten, sondern im Gegenzug gezielt vielfältige Informationen finden, die man ohne Twitter nicht oder zumindest nicht so schnell erhalten hätte.

Als Beispiel kann eine soeben (kam wirklich just in dieser Minute) verbreitete „Presidential Address“ von Paul Krugman zur aktuellen Finanzkrise an die Ökonomie als wissenschaftliches Fach dienen – mit einer für die Soziologie nicht uninteressanten Feststellung (die sogleich eine Debatte unter soziologischen Tweetern auslöste, z.B. mit einem Post von Global Sociology Blog). Hier mein eigener Tweet (als Beispiel dafür, wie die Weitergabe einer solchen Information aussehen kann – den Text von Krugman findet man über den Link):

Krugman on „The Profession and the Crisis“ >> „need some kind of sociologist to solve our .. problems“ http://t.co/Blg6d2c via @marcela_ny:

Selbst wenn man Vorbehalte gegen sich auf diese Weise öffentlich betätigende (mehr oder weniger im engeren Sinne) wissenschaftliche Promis haben mag, ist es in meinen Augen doch spannend zu lesen, was dort über Twitter verbreitet wird. Neben dem erwähnten Paul Krugman lese ich meist mit Gewinn die Tweets mit vielfältigen Kommentaren und/oder Infos von folgenden Personen (sortiert  nach Zahl der Follower – dazu im zweiten Teil mehr):

  • @NaomiAKlein (globalisierungskritische Autorin und Aktivistin, 74027 Follower)
  • @RBReich (Arbeitsminister Regierung Clinton, 41225 Follower)
  • @Dtapscott (bekannter Autor zu Themen der “Wikinomics”, 28806 Follower)
  • @Joestiglitz (Nobelpreisträger Ökonomie, 18169 Follower)
  • @Richard_Florida (Urheber der These der „Creative Class“, 133561 Follower)
  • @JeremyRifkin (bekannter Autor, z.B. von „Acces“, 3333 Follower)

Nicht zuletzt ist zu erwähnen, dass es seit Neuestem im angelsächsischen Raum eine Diskussion gibt, wie man die Social Media und darin auch Twitter an den Hochschulen für die Lehre einsetzen kann. Ein ambivalent zu bewertendes Thema, ich weiß. Hier ein aktueller Artikel des Guardian dazu auch als Beispiel dafür, wie man Twitter als Lieferanten regelmäßiger News und Artikel aus der Weltpresse nutzen kann (den Beitrag habe ich in genau jetzt, während ich das schreibe, gefunden und gleich über das Twittertool „Echofon“ weitergegeben). Ich habe mich von der Diskussion anregen lassen und werde im Wintersemester ausprobieren, ob ich über Twitter auf schnellem Weg Informationen zu Veranstaltungen an meine Studierenden weitergeben kann (und diese eine Möglichkeit haben, zu reagieren). Mal sehen – vielleicht berichte ich darüber.

Überlegungen dazu, was man aus einer Beschäftigung mit Twitter soziologisch lernen kann, folgen im zweiten Teil dieses Posts.

In diesem Sinne … bis nächste Woche. CU

PS
1) User von Smartphones, die soziologische News immer sofort erhalten möchten, könnten sich für das soeben eingerichtete Sociology Spotlight (Video) interessieren: die meines Wissens erste soziologische App für iPhone & iPad (kam natürlich über Twitter).
2) Wer es etwas konventioneller (aber immer noch Web2.0-förmig) mag, sollte sich den ebenfalls brandneuen Dienst sociologywire anschauen: ein soziologischer Blog im Zeitungsstil (wurde auch neulich per Twitter verbreitet).
(Nachtrag)
Etliche der twitterlinks funktionierten nicht (es wurden vom Programm automatisch Zeichen eingefügt – ich weiss auch nicht warum) – sorry. Ich habe die links korrigiert und hoffe, dass sie jetzt gehen.
(Nachtrag 24.10.11 – 14.30)
Könnte interessieren (kam gerade über Twitter):
Dröge, E., Maghferat, P., Puschmann, C., Verbina, J., & Weller, K. (in press/2011). Konferenz-Tweets. Ein Ansatz zur Analyse der Twitter-Kommunikation bei wissenschaftlichen Konferenzen. Proceedings of the 12th International Symposium for Information Science (pp. n.n.). Boizenburg: Verlag Werner Hülsbusch. download
(Nachtrag 1.12.)
kam gerade über twitter: Studie zur wissenschaftlichen Twitternutzung, mit Liste – und Ranking … – aller deutschen wissenschaftlichen Tweeter http://is.gd/q3t1mw

2 Gedanken zu „Mikroblogging: kurz, schnell und unberechenbar (1/3)“

  1. Herzlichen Dank für den erfrischenden Post (auf den ich im Übrigen via Twitter gestoßen bin ;) …

    Wahrscheinlich bin ich jetzt „haarspalterisch“, aber zwei Anmerkungen habe ich:
    1. Mit „Friends“ (Facebook) ist ein Follower m.E. nur bedingt vergleichbar, da bei Facebook auf Gegenseitigkeit beruhend (außer die neue Abo-Möglichkeit).
    2. Ohne weiteres DMen geht – genau aus diesem Grunde – auch nicht. Denn es ist nur möglich eine DM zu verschicken an jemenden, der einem auch folgt.

    Und eine Frage hätte ich auch noch (aber vielleicht wird diese ja schon beantwortet, wenn ich die Posts weiter nach oben lesen…): Ist der Twitter-Account für die Studierenden als Zusatz-Account, oder ist der Plan die Hinweise über @GGuenter_Voss (und evtl. einem entsprechenden #) angedacht?

    Herzliche Grüße aus dem Twitterverse!

    @mons7

Kommentare sind geschlossen.