In seinem Buch „Three Billion New Capitalists” entwirft Clyde Prestowitz (Basic Books 2005, S. 252f.) das fiktive Szenario der ersten Lagebesprechung eines frisch vereidigten US-Präsidenten mit den Geheimdiensten. Die Quintessenz der Botschaft, die dem neuen Amtsinhaber übermittelt wird, lautet, dass die USA vor gewaltigen Herausforderungen stünden, aber (teils aufgrund eigener Versäumnisse, teils aufgrund komplexer geopolitischer Verwicklungen) kaum Möglichkeiten hätten, den Lauf der Dinge in ihrem Sinne zu beeinflussen. Das war als Weckruf an die politischen und intellektuellen Eliten des Landes gemeint und stieß erwartungsgemäß auf wenig Resonanz. Drei Jahre später, im September 2008, ging die Lehman Brothers Bank bankrott und stürzte erst die USA, dann rasch auch Europa in die größte Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise seit 1929. Im November, Barack Obama war soeben zum Nachfolger George W. Bushs gewählt worden, veröffentlichte der Rat der US-Geheimdienste einen Bericht, der sich gleichsam als „Willkommensgruß“ an die neue Administration lesen ließ und diese auf die vor ihr liegenden Aufgaben einstimmte. Die außenpolitische Kernaussage des Berichts fasst der folgende Satz prägnant zusammen: „The international system – as constructed following World War II – will be almost unrecognizable by 2025 owing to (…) an historic shift of relative wealth and economic power from West to East“ (National Intelligence Council, Global Trends 2025: A Transformed World, 2008, S. vi). Oder anders gesagt, die Vorherrschaft des Westens geht zuende, und für „uns“ bedeutet das, dass wir uns auf drastisch verringerte Einflussmöglichkeiten, schrumpfende Handlungsspielräume einstellen müssen. Das war keine Fiktion. Viele der düsteren Vorahnungen von Prestowitz waren schneller eingetreten, als er selbst es befürchtet haben mochte.
Monat: Oktober 2012
Schule der Zukunft
In Singapur trifft man auf einen Schultyp, den es auch andernorts gibt, aber vermutlich nicht in der hier beobachteten Konzentration, Größe, Vielfalt, möglicherweise auch Strahl- und Innovationskraft. Gemeint ist eine spezielle, weder national noch regional gebundene Kategorie von „internationalen“ Schulen, die im Begriff ist, Bildungsprozesse von Programmen der Staatsbürgererziehung, mit denen sie historisch eng verkoppelt waren, abzulösen und konsequent zu globalisieren. Ziel ihrer Bemühungen ist die Heranbildung von Bürgerinnen und Bürgern der Welt, von Weltbürgern („global citizens“), nicht oder allenfalls in zweiter Linie Staatsbürgern. Gewiss, keine dieser Schulen wendet sich gegen die Pflege nationaler Identitäten – im Gegenteil, sie ermuntern aktiv zu deren Kultivierung –, aber soweit die bei ihnen erzogenen Schüler solche Identitäten ausbilden, tragen sie nichts zu ihrer Entstehung bei und verdanken diese sich rein außerschulischen Sozialisationsprozessen.
Lerngelegenheiten
Mit dem Durchbruch der globalen Moderne wird auch die Annahme hinfällig, praxisrelevantes Orientierungswissen lasse sich nur im Westen gewinnen bzw. nur dort etablierten Sozialformen ablesen. Zu den Folgen dieses Durchbruchs zählt nämlich auch eine Verlagerung, vor allem aber Multiplikation von Zentren sozialer und technologischer Innovation. Individuelle und kollektive Akteure, die Einfluss auf das globale Wandlungsgeschehen nehmen, lassen sich damit vermehrt in allen Weltgegenden beobachten.
We ain‘t seen nothing yet
In meinem Blog „Durchbruch der globalen Moderne“ hatte ich geschrieben, der Wandel der letzten 20 bis 30 Jahre übertreffe alles in der bisherigen Geschichte der Moderne Dagewesene. Diese Behauptung lässt sich weiter radikalisieren, indem man den Beobachtungszeitraum etwas weiter ausdehnt. Folgt man einem Schema des Althistorikers und Archäologen Ian Morris (Why the West Rules – For Now, Farrar, Straus and Giroux 2010, S. 583), der das Wandlungsgeschehen seit 1700 graphisch in Form einer Entwicklungskurve darstellt und die gegenwärtigen Trends bis ans Ende des laufenden Jahrhunderts fortschreibt, dann ergibt sich ein Bild, wonach die bis dahin praktisch flach verlaufende Kurve 1820 zwar leicht anzusteigen beginnt, aber erst ab 1900 wirklich sichtbare Veränderungstrends anzeigt. Und wenngleich sie sich in den folgenden 100 Jahren kontinuierlich weiter aufwärts bewegt, verläuft sie selbst im 20. Jahrhundert noch annähernd parallel zur horizontalen Achse. Erst am nächsten Wendepunkt, im Jahr 2000, ändert sich das und schießt sie auf einmal steil nach oben.