Lerngelegenheiten

Mit dem Durchbruch der globalen Moderne wird auch die Annahme hinfällig, praxisrelevantes Orientierungswissen lasse sich nur im Westen gewinnen bzw. nur dort etablierten Sozialformen ablesen. Zu den Folgen dieses Durchbruchs zählt nämlich auch eine Verlagerung, vor allem aber Multiplikation von Zentren sozialer und technologischer Innovation. Individuelle und kollektive Akteure, die Einfluss auf das globale Wandlungsgeschehen nehmen, lassen sich damit vermehrt in allen Weltgegenden beobachten.

In Europa ist es üblich, sich bei der Suche nach Anregungen für Reformen oder dem Vergleich der Performanz sozialer Arrangements vor allem bei den Nachbarn und ggf. noch in Nordamerika umzusehen. Diese Beschränkung wird heute zunehmend zu einer Erkenntnisblockade, die an sich möglichen Wissensgewinnen im Wege steht und zugleich einer Überschätzung eigener Stärken Vorschub leistet. Vor allem der spektakuläre Aufstieg Ostasiens hat nicht nur neue Entwicklungsmodelle hervorgebracht, die teils in Konkurrenz zu denen des Westens stehen, sondern vermittels der klugen Adaption westlicher Vorbilder auch Lösungsansätze generiert, die nun für diese selbst instruktiv sein könnten.

Wie informiert man sich über Entwicklungen, deren Kenntnis lohnenswert ist, die aber weitgehend außerhalb des eigenen Gesichtskreises ablaufen? Als Vorbild dafür könnten öffentliche oder regierungsnahe Einrichtungen in Singapur und anderen Ländern Ostasiens dienen, die laufend die Welt nach „best practices“ scannen, von denen man sich, unter der Annahme, dass regelungsbedürftige Materien vielerorts ähnliche Probleme aufwerfen und dass es wenig Sinn macht, das Rad ständig neu erfinden zu wollen, Anregungen für eigene Politikfindungsprozesse verspricht. Die Perfektionierung dieser Art des Lernens war und ist eine wichtige Determinante des Modernisierungserfolgs dieser Länder.

Das klingt nach Technokratie und ist es auch, aber es wäre unklug, es bei diesem Urteil zu belassen und sich dann indigniert abzuwenden. Wie der Begriff der Bürokratie hat auch derjenige der Technokratie in Ostasien einen positiveren Beiklang als hierzulande. Assoziiert wird damit zunächst nur etwas, das in weiten Teilen Asiens, aber auch z.B. (Süd-)Europas, alles andere als selbverständlich ist, nämlich eine öffentliche Verwaltung, deren Personal nach Qualifikationsgesichtspunkten ausgewählt wird statt nach Maßgabe der Verfügung über Sozialkapital und deren Entscheidungen an Sachkriterien orientiert sind statt an den persönlichen Bereicherungsinteressen von Amtsinhabern. Die beiden Begriffe stehen, anders gesagt, für das Gegenteil von Vetternwirtschaft, Korruption und Inkompetenz. Um das wertzuschätzen, braucht man keine mehrhundertjährige Tradition bürokratischer Herrschaft samt einer sie rationalisierenden Kultur (Stichwort Konfuzianismus), obwohl auch das helfen mag, sondern lediglich praktische Anschauung des Unterschieds, den eine „meritokratische“, zumindest ansatzweise gemeinwohlorientierte und auch funktionierede Verwaltung machen kann. Aus dem südasiatischen Raum stammende Kollegen und Studenten an der National University of Singapore bestätigen das immer wieder aufs Neue. [Nach einer von der indischen Regierung in Auftrag gegebenen Untersuchung, über die der Economist berichtete, waren Mitte des letzten Jahrzehnts vier Fünftel der Mitarbeiter des indischen öffentlichen Dienstes nicht in Lage, die Aufgaben, die nominell in ihre Zuständigkeit fielen, fachgerecht zu erledigen. Und von denen, die es können, erscheinen viele schlicht nicht zur Arbeit: Berichte über den Absentismus von Lehrern im öffentlichen Schul- und Ärzten im öffentlichen Gesundheitswesen sind Legion. Singapur dagegen hat nach einem verbreiteten Urteil eine vorzügliche öffentliche Verwaltung, die unzweifelhaft in der Lage ist, intelligente Politiken nicht nur zu formulieren, sondern auch umzusetzen. Rhetorik und Programmatik sind überall ein Stück weit von der Praxis/Realität „entkoppelt“, aber nicht überall gleich weit]

Wie dem auch sei, ohne ein Mindestmaß an Expertise kommt moderne Politik schlicht nicht aus, denn auch (gewählte) Berufspolitiker sind außerstande, sich in allen Fragen, über deren Lösung sie qua Amtsautorität zu befinden haben, ein kompetentes Urteil zu bilden. In den meisten Fällen obliegt die tatsächliche Entscheidungsgewalt deshalb der Ministerialbürokratie, deren Entwürfe sie lediglich ratifizieren und ggf. leicht modifizieren. Insofern käme es am Ende wohl eher auf die Qualität von Politiken, auf ihre soziale Inklusivität, Sachgerechtigkeit usw. an als auf die Modi ihrer Genese – zumal auch die Entwürfe von Technokraten, soweit sie in die Öffentlichkeit gelangen, einer kritisch-diskursiven Prüfung unterzogen werden können und von einer Bevölkerung, die über die entsprechenden kognitiven Kompetenzen verfügt, auch tatsächlich immer mehr unterzogen werden. [Dieselbe Einschätzung gilt für die politischen Interventionen von Intellektuellen und „zivilgesellschaftlichen“ Akteuren, die gleichfalls inputs für Diskurse liefern, nur andere] Außerdem heißt von anderen zu lernen nicht, deren Praxis einfach zu kopieren und 1:1 zu implementieren. Sondern es heißt, sich irritieren zu lassen, offen zu sein für Alternativen zum Vertrauten (auch wenn man sich am Ende doch lieber daran hält), statt sogleich mit Abwehrreflexen zu reagieren, weil die Alternativen von den „falschen“ Kräften entwickelt, an den „falschen“ Orten praktiziert werden usw. Der Lohn für solche Offenheit besteht u.a. in der Erweiterung des Möglichkeitshorizonts gesellschaftspolitischer Gestaltung. Man sieht konkret, dass und wie es auch anders gehen könnte.

Wer an Lerngelegenheiten dieser Art interessiert ist, tut heute gut daran, den gesamten Globus ins Visier zu nehmen. John Meyer und andere Neoinstitutionalisten haben immer wieder betont, die meisten Anlässe für intentional herbeigeführten oder angestrebten Wandel seien exogen induziert und die meisten erfolgreich vollzogenen Wandlungsprozesse das Ergebnis mimetischer Anpassung an bzw. des Aufgreifens von Impulsen aus der Umwelt der betreffenden Akteure. Aber was für viele Fälle – man denke nur an Wirtschaftsunternehmen – selbstverständlich ist, löst verbreitet Unbehagen aus, wenn es auf andere Bereiche oder gar auf nationalstaatlich konzipierte Gebilde („Gesellschaften“) bezogen wird, weil das verbreitet Ängste vor Überfremdung und Identitätsverlust weckt (als ob die nationale „Ehre“ davon abhinge, dass die institutionellen Strukturmuster oder Politiken eines Gemeinwesens autochton entstanden sind – und das unter heutigen Bedingungen angesichts nie dagewesener Beobachtungs- und Vergleichsmöglichkeiten!). Das gilt zumal für außerwestliche Kulturkreise, denn obzwar auch die Entwicklung „des“ Westens nie eine rein endogene Angelegenheit war, kann wenig Zweifel daran bestehen, dass die „Weltmodelle“ und die sozial wie technologisch bedeutsamsten, d.h. global folgenreichsten Entwicklungen und Innovationen der letzten zwei bis drei Jahrhunderte überwiegend „dem“ Westen entstammten. Das ändert sich jetzt. In the twenty-first century, citizens of the United States and Europe will consider themselves fortunate if they produce maybe one of every four or five major inventions“, so eine auf die life sciences bezogene Einschätzung von Don Tapscott und Anthony Williams (zitiert bei Tomasz Mroczkowski, New Players in Life Science Innovation, FT Press 2011, S.1). Das gilt auch für andere Felder – und wird aller Wahrscheinlichkeit nach mit wachsender Häufigkeit für immer mehr Felder gelten.

Ein Beispiel ist die Entwicklung städtischer Ballungsräume. Gefragt, was ihn nach New York City ziehe, antwortete ein mir bekannter Politikwissenschaftler, der in den 1990er Jahren dorthin wechselte, die Stadt sei nun einmal die Kapitale der Welt. New York als Welthauptstadt? Ja, schon. Aber das war gestern. Und Paris, London? Vorgestern. Als aussichtsreichster Kandidat für diesen Titel im 21. Jahrhundert wird weithin Shanghai gehandelt. Shanghai? Mit „Gottes“ Hilfe, so US Senator Kenneth Werry 1940 mit typisch amerikanischer Zuversicht, „we will lift Shanghai up and up, ever up, until it is just like Kansas City” (zitiert bei David Halberstam, The Coldest Winter, Macmillan 2008, S. 223). Nach gerade einmal 20 Jahren atemberaubender Entwicklung ist die Stadt mittlerweile eine der wichtigsten Handels- und Wirtschaftsmetropolen nicht nur Chinas, sondern der Welt, und wer ihre grandiose Skyline mit der des heutigen Kansas City vergleicht, wird sich verwundert die Augen reiben und fragen, wie Kansas City jemals als Vorbild für Shanghai gelten konnte. Aber vor 70 Jahren hatte die Vision des Senators etwas durchaus Verheißungsvolles. Not any more. Heute ist Shanghai selbst in vielerlei Hinsicht Modell, und Konkurrenz erwächst der Stadt vor allem aus anderen Teilen Asiens, das gegenwärtig den größten Urbanisierungsschub aller Zeiten durchlebt. Wer sich für die Zukunft der Städte, des urbanen Lebens und für auf der Höhe der Zeit befindliche städtische Infrastrukturen interessiert, wird den Blick vermehrt nach Osten wenden müssen.

Ein anderes Beispiel ist die Kultur im weitesten Sinne. Zeiten großer sozio-ökonomischer Umbrüche sind oft auch Zeiten großer künstlerischer Produktivität und Kreativität. Nirgends waren die Umbrüche in den letzten 30 bis 40 Jahren radikaler, tiefgreifender, umfassender als in (insbesondere Ost-)Asien, nirgends hat sich so viel so schnell geändert wie hier. So überrascht es nicht, dass auch asiatische Architektur, Filme, Kunst, Literatur, Musik global vermehrt Beachtung finden. Auch auf kulturellem Gebiet scheinen die Zeiten ungebrochener westlicher Dominanz sich also dem Ende zuzuneigen – in der Populärkultur nicht weniger als in der Hochkultur.

Ich selbst habe auf sozialpolitischem Gebiet diverse Anregungen aufgenommen, die ich der vergleichenden Analyse europäischer und ostasiatischer Systeme sozialer Sicherheitsgewähr verdanke. Darauf will ich hier nicht näher eingehen. Über eine Erfahrung, die ich beim Versuch der „Weitergabe“ von Gelerntem gemacht habe, möchte ich dennoch kurz berichten, weil das dahinter stehende Einstellungssyndrom typisch ist für eine Haltung, die mir in Europa oft begegnet, aber wenig hilfreich scheint: In einem Gutachten zu einem Aufsatz, der vorschlägt, bestimmte als Schwachpunkte des deutschen Gesundheitswesens ausgemachte Aspekte zu korrigieren und sich bei den fälligen Umbauarbeiten u.a. auch vom singapurianischen System inspirieren zu lassen, wendet sich der Gutachter/die Gutachterin vehement gegen das Ansinnen, „die gewünschten Effekte gerade durch eine Orientierung am System von Singapur erreichen“ zu sollen statt mittels „einer Modifikation des in Deutschland vorhandenen Pfades“. Vom wohlerprobten deutschen Pfad abweichen und womöglich etwas  anderes ausprobieren? Das bitte nicht! [Ich erinnere mich noch gut, dass bis in die 1990er Jahre unter einschlägigen Beobachtern hierzulande praktisch Konsens darüber bestand, das deutsche Gesundheitssystem sei das Beste der Welt. Erst das Aufkommen von Globalvergleichen zur Performanz solcher Systeme begann diese Sicht allmählich etwas zu relativieren]

Selbstverständlich kann man nach gründlicher Abwägung der Stärken und Schwächen verschiedener Modelle zu dem Schluss kommen, das „eigene“ sei immer noch das beste. Aber das spricht doch nicht dagegen, sich zumindest gedanklich auf Alternativen einzulassen, die Ansatzpunkte für Verbesserungsbestrebungen bieten, auch wenn die entsprechenden Ideen Fällen abgewonnen sind, die sich dem Alltagsverstand nicht unbedingt aufdrängen mögen. Oder etwa doch?