Märkte sind von Macht durchdrungen, und Marktakteure spielen untereinander Machtspiele um Marktmacht. Die Politik setzt die Spielregeln für den Markt und reguliert diesen (hoffentlich) – denn die anderen Marktakteure versuchen die Politik so zu beeinflussen, dass die Marktregeln zu ihren Gunsten verändert werden.
Der bereits beschriebene Neo-Institutionalismus fasst diese Machtspiele von der Seite des Marktes und kann v.a. die Machtspiele innerhalb eines Marktes erklären. Die direkten Versuche von Marktakteuren, die Politik zu beeinflussen, lassen sich besonders gut mit der Politische Ökonomie (Hall/Soskice 2001 Strange 1996, Streeck 1997, Crouch/Streeck 2000, Scharpf 1999) theoretisch fassen. Vertreter dieses Ansatzes betonen zunächst (ähnlich wie der Neo-Institutionalismus), dass verschiedene Möglichkeiten existieren, Wettbewerbsverhältnisse politisch auszugestalten, untersuchen aber auch, wie diese institutionellen Arrangements genau aussehen. Ähnlich wie es verschiedene Geschlechter- und Wohlfahrtsregime gibt, existieren auch verschiedene Varianten des Kapitalismus.
Gleichzeitig versuchen Marktteilnehmer – vor allem Unternehmen und Verbraucherverbände – über Lobbypolitik, Politiker und Verwaltungsbeamte in ihrem Sinne zu beeinflussen. Letztere wiederum sind auf den Rat ersterer angewiesen, um das Marktgeschehen überhaupt noch zu verstehen (Eising/Kohler-Koch 2003, Héritier 1997, Lahusen/Jauß 2001). Auf unterschiedlichen Märkten setzen sich auch unterschiedliche Akteure durch. Bisweilen verschieben sich dabei die Machtverhältnisse zwischen den einzelnen Akteuren. Weiterhin verkompliziert wird die Lage dadurch, dass sich sowohl Märkte, als auch politische Prozesse im Verlauf der vergangenen 200 Jahre von lokalen über regionale und nationale auf europäische und internationale Institutionen verlagert haben. Sehr stark umstritten ist dabei, ob der Nationalstaat im Laufe der Globalisierung seine Fähigkeit verloren hat, die Wirtschaft zu steuern, oder ob an Stelle der alten Steuerungsinstrumente neue getreten sind (Baur 2001), etwa europäische Regulationsregime, transnationale Politiknetzwerke oder die verstärkte Kooperation mit nichtstaatlichen Akteuren. So verweisen Studien zu den Politikfeldern Arbeits-, Verbraucher- und Umweltschutz darauf, dass europäische Politik durchaus Regulierungsstandards hervorbringen kann, deren Sicherheitsniveau oberhalb der bisherigen nationalen Regelungen liegt (Héritier et al. 1994).
Der Versuch der politischen Einflussnahme variiert dabei von Markt zu Markt. Der Lebensmittelmarkt ist einer der von Lobbyisten am stärksten bearbeiteten Märkte. Das Ausmaß der Einflussnahme variiert dabei innerhalb der Akteursgruppen, also z.B. von Unternehmen zu Unternehmen, sowie sondern auch zwischen verschiedenen Akteursgruppen. Die Industrie nimmt aber in diesem Fall stärker Einfluss als die Verbraucher, und insbesondere die Milchbauern haben historisch eine starke Lobby, die in Deutschland und in der EU hohe Agrarsubventionen durchsetzt und durchgesetzt hat. Im Fall der Milch bedeutet dies, dass die EU garantiert, dass sie für eine bestimme Milchmenge – die Milchquote – Mindestpreise garantiert. Diese Milchquote wird zwar jedes Jahr reduziert, ist aber seit Jahrzehnten zu groß, weshalb mehr produziert wird, als innerhalb der EU konsumiert wird – dies eine der Hauptursachen für das Machtungleichgewicht zwischen Bauern/Molkereien gegenüber dem Handel (d.h. in diesem Fall ging die Lobbyarbeit nach hinten los.)
In den letzten Jahrzehnten lässt sich außerdem beobachten, dass Unternehmen gegenüber der Politik durch geschickte Lobbyarbeit ihren Handlungsspielraum immer stärker erweitert haben – am deutlichsten wird das aktuell am Finanzmarkt und am Wassermarkt. Unterlag ein Verband auf einer Handlungsebene (Deutschland), versucht er seine Interessen einfach auf höherer Ebene durchzusetzen (Europa) und frühere Beschlüsse auszuhebeln. Wurde beispielsweise auf nationaler Ebene ein Verbraucherschutzgesetz erlassen, kann die europäische Kommission dieses wieder aufheben.
Was mich immer wieder verblüfft, ist das mangelnde Bewusstsein von Politikern dafür, wie problematisch Lobbyisten und „neutrale“ Experten für politische Prozesse sind und wie sehr sie die Demokratie unterhöhlen. So wurden bei der Planung für Stuttgart 21 Vertreter der Deutschen Bahn als Experten eingeladen, und wenn es um Arzneiregulierung geht, lädt das Gesundheitsministerium einen Vertreter der Pharmaindustrie ein, um mit ihm darüber zu diskutieren. Seit wann ist das Unternehmen, das unmittelbar von bestimmten Regulierungen profitiert, neutral?
Den Lobbyisten ist nichts vorzuwerfen – sie tun genau das, was sie tun sollen (sie sind schließlich Vertreter von Firmen). Aber was bei Beratung durch so unbefangene Personen wohl herauskommt …
Literatur
Baur, Nina (2001): Soziologische und ökonomische Theorien der Erwerbsarbeit. Frankfurt a. M./New York: Campus
Crouch, Colin/Streeck, Wolfgang (Hrsg.) (2000): Political Economy of Modern Capitalism. London et al.: Sage
Eising, Rainer/Kohler-Koch, Beate (2003): Interessendurchsetzung im EU-Mehrebenensystem. Baden-Baden: Nomos
Hall, Peter A./Soskice, David (Hrsg.) (2001): Varieties of Capitalism. New York: Oxford University Press
Héritier, Adrienne (1997): Policy-Making by Subterfuge. In: Journal of European Public 4 (2). 171-189
Héritier, Adrienne/Mingers, Susanne/Knill, Christoph/Becka, Martina (1994): Die Veränderung von Staatlichkeit in Europa. Opladen: Westdeutscher Verlag
Lahusen, Christian/Jauß, Claudia (2001): Lobbying als Beruf. Baden-Baden: Nomos
Scharpf, Fritz W. (1999): Regieren in Europa. Frankfurt a. M./New York: Campus
Strange, Susan (1996): The Retreat of the State. Cambridge: Cambridge University Press
Streeck, Wolfgang (1997): German Capitalism. In: New Political Economy 2 (2). 237-256
Das Problem an diesem unsäglichen Thema ist doch, dass sich Politiker von „neutralen“ Lobbyisten als Vertreter der „Volksmeinung“ beraten lassen. Das Leistungsschutzrecht etwa ist sicherlich aus meinem Interesse heraus verabschiedet worden. Und wenn ich mich wieder damit auseinandersetze, schwillt mir die Galle an und mir fehlen zunehmend die Worte.
Sicherlich ist ihnen nichts vorzuwerfen, aber an sich haben Unternehmensinteressen nichts in der Politik zu suchen. Zu mindestens nicht vor dem Hintergrund Entscheidungen für das Volk zu treffen. Das ist nämlich nicht der Fall.
Lieber Patrick,
das ist genau das Problem – in den 1980ern hatte man noch in Deutschland ein sehr starkes Bewusstsein, dass Interessengruppen potenziell demokratieverzerrend sind und man wenigstens – wenn man sie schon hört – verschiedene Perspektiven hören sollte (also nicht nur Unternehmen). Irgendwann zwischen 1990 und heute hat sich dann der Gedanke eingeschlichen, dass Unternehmen „neutrale“ Berater sein könnten. Ich habe den Eindruck, dass der Dammbruch während der Regierungszeit Schröder geschah, als selbst der „Genosse der Bosse“ als Sozialdemokrat (also klassischer Vertreter der Arbeiter) sich offen von Firmenvertretern beraten ließ, aber der Prozess selbst verlief schleichend.
Herzliche Grüße,
Nina Baur
Das kann doch aber nicht im Sinne des Fortbestehens eines Landes sein. Aus globalisiert-ökonomischer Sicht ist es mir einleuchtend, dass Unternehmen direkt über die Stellschraube „Politik“ die Weichen für bestimmte Prozesse legen wollen. Umgekehrt müsste es aus demokratisch-zivilisierter Welt eigentlich möglich sein, sein Unbehagen und Kritik über diesen Zustand zum Ausdruck bringen zu können. Nur leider ist mir eine solche Möglichkeit nicht geläufig. (Sicher, es bleiben Demonstrationen und Unterschriftensammlungen, doch wo das hinführt, zeigt Stuttgart 21, ganz zu schweigen von Bürgerinitiativen für den Ausbau einer dritten Start-/Landebahn in München oder diversen Windparkanlagen in der Nordsee. Auch hier unterliegt man dem politischen Einfluss bestimmte Konzerne.)
Spinnt man diesen Gedanken weiter, so verstehe ich beispielsweise nicht mehr, warum es einen (politischen) Posten wie ‚Verbraucherschutzministerium‘ gibt, wenn sogleich von diesem Amt kein Schutz und schon gar nicht für die Verbraucher ausgeht. Man fordert Gutmenschen, die auf ihre Umwelt acht geben und liefert ihnen (in Zusammenhang mit unserem werten Umweltministerium) Strom, der sich zu 60-70 Prozent aus Kohleverbrennung zusammensetzt – zeigt ihnen aber zeitgleich Werbespots von riesigen Offshore-Windparks oder Unterwasserturbinen (die es nebenbei bemerkt in Deutschland gar nicht gibt!).
Wo es anfängt, weiß ich leider nicht. Nur so viel sei mit Sicherheit gesagt, es geht bei weitem über das hinaus, was sinnvoll und gut ist. Nur scheint es in der Politik eben angenehmer zu sein, sich chauffieren und zum Essen ausführen zu lassen, statt selbst den Wagen in Berlin in eine der wenigen Parkbuchten zu lenken und Tage zuvor einen Tisch zu reservieren, wie es der unbescholtene Bürger auch tun muss.
Herzlichen Dank. Wollte mich an diesem wunderschönen Morgen eigentlich nicht direkt wieder aufregen. Nun denn,
schöne Grüße,
Patrick