Von Benjamin Köhler
Medienentwicklung (als technischer Wandel) und Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen (als kultureller Wandel) bedingen sich immer wechselseitig (vgl. Ogburn 1957, Gillwald 2000), wobei neue soziale Praktiken und Techniken einen langen Weg des Aushandelns und Ausprobierens gehen (vgl. Jäckel 2005; Rammert 2007). Techniken und Medien werden dabei von Menschen entworfen, routinisiert und langfristig so in die alltäglichen Praktiken verinnerlicht, dass sie zum festen Teil des Menschseins werden und einerseits Umbrüche provozieren, andererseits, etablierte Praktiken und Institutionen aufrechterhalten können. Die Pioniergeneration hat immer zu Beginn der Nutzung neuer Medien die Chance, vorübergehende Gegenöffentlichkeiten zu schaffen und gegenwärtige Herrschaftsstrukturen zu irritieren oder sogar fundamental in Frage zu stellen (vgl. Wimmer 2008; Winter 2010). In meinem zweiten Beitrag möchte ich mich eher mediensoziologisch mit dem Wandel von Medien im Spannungsfeld zwischen Subversion und Reproduktion beschäftigen und dabei den Buchdruck, das Fernsehen und das Social Web in den Vordergrund rücken.
Buchdruck und Fernsehen
Mit Beginn des Buchdrucks im 15. Jahrhundert in Mitteleuropa und den damit verbundenen Vervielfältigungsmöglichkeiten kamen vor allem Flugblätter als neue mobile Medien auf, die schnell und einfach verbreitet und von einer kritischen Generation von Reformator_innen und Protestant_innen politisch gegen die Kirchenmacht genutzt werden konnten. Zu den Auswirkungen dieses gesellschaftlichen Wandels ist die Reformation im 16. Jahrhundert ebenso wie der 30-jährige Krieg (1618 bis 1648) zu zählen. Gegenmaßnahmen, wie das Wormser Edikt 1521, welches eine Zensur der Luther-Übersetzung des Neuen Testaments durchsetzte, oder die rechtliche Einführung des Impressums 1530 können als Reaktion zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung verstanden werden (vgl. McLuhan 1962, Faulstich 2004). Die Lese- und Schreibpraktiken führten in den nächsten Jahrhunderten zur Entwicklung eines Zeitungswesens und von Verlagen sowie den dazugehörigen Berufen, die den Weg in eine Wissens- und Informationsgesellschaft ebneten. Mit dem Buchdruck wurden aber auch die unterschiedlichen Mundarten niedergeschrieben und im schriftlichen Gebrauch zunehmend sprachliche Regeln verfestigt, die im Zuge der Nationalisierung im 19. und 20. Jahrhundert letztendlich zur Etablierung einer Nationalsprache führten, die wichtig für die Organisation der jeweiligen nationalen Institutionen war (vgl. Hobsbawm 1991: 64).
Im Zuge dieser nationalen Bewegungen, beispielsweise nach dem Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn, war es Hobsbawm (1991: 167) zufolge neben der Presse vor allem der Film und der Funk, über die anfangs national-konstruierte Symbole zur Erschütterung der bestehenden Ordnung kommuniziert wurden. Das Beispiel des nationalsozialistischen „Volksempfänger“-Radios hingegen zeigt besonders deutlich, wie Nachrichten und öffentliche Reden Nazi-Deutschlands in die deutschen Wohnzimmer kamen und die nationalsozialistische Ordnung, den „Volksgeist“ und „Opferwillen“, aufrechterhalten sollten. Das Fernsehen, dass Elemente von Film und Funk vereinigte, setzte sich seit den 1950er Jahren in Deutschland als neues Massenmedium einer Wachstums- und Konsumgesellschaft durch, in der der Schauende sich von Nachrichten und Filmen der (westlichen) Welt berieseln lässt. Jedoch wurde es durch den länderübergreifenden Konsum des Fernsehens auch möglich, eine breite kulturelle Teilhabe unabhängig von räumlich-zeitlichen Grenzen zu ermöglichen. Ein Beispiel ist der Konsum westlicher Fernseh- und Filmprodukte in der DDR, der aufzeigt, wie durch kulturelle Teilhabe westlicher Kultur- und Konsumpraktiken die eigene sozialistisch Ordnungsstruktur ins Wanken gebracht werden kann.
Deutlich werden sollte, dass die Etablierung neuer Medien Ordnungen angreifen oder festigen können. Dabei sollte jedoch auch festgehalten werden, dass Medien immer auf einander aufbauen, mit einander verschmelzen oder sich ergänzen. Während abends beispielsweise gerne ferngesehen wird, verschob sich das Radiohören oder das Zeitungslesen in den Tag (vgl. Meyen 2007). Und auch nach vielen technischen Innovationen im Musikkonsum erfreute sich gerade der Plattenspieler in den letzten Jahren seiner Renaissance.
Social Web: Vom Arabischen Frühling über den Gangnam Style bis hin zu Wikileaks und Prism
Mit den neuen sozialen Medien ist nun jedoch die zunehmende Vernetzung zwischen Suchmaschinen (z.B. Google), sozialen Netzwerken (z.B. Facebook), Weblogs, Kurznachrichtendiensten (z.B. Twitter) und Multimedia-Sharing-Programmen (z.B. Youtube) gemeint, die oft als Social Web oder Web 2.0 beschrieben werden. Beim Bloggen oder Posten übermitteln die sozialen Medien wechselseitig Informationen vom Sender zum Empfänger und schaffen eine neue kommunikative Praxis des „many-to-many“ statt bisher „one-to-many“ (vgl. Pelka/ Kaletka 2010). Dabei rücken Formen und Verwaltungen der digitalen Identität und der Beziehungsarbeit in den Vordergrund (vgl. Schmidt 2009). Vor allem wird die Grenze zwischen Empfänger und Sender aufgelöst, sodass es sich meist um „user-generated contents“ handelt und neue Formen der Partizipation entstehen. Die Interaktivität der Medien wird mit der Mobilität von Smartphones unabhängig von zeitlichen und lokalen Beschränkungen und produziert beschleunigte Kommunikationen, in denen Inhalte sekundenschnell global verbreitet werden. Dies bietet die Gelegenheit bisher gültige mediale Machtbeziehungen aufzulösen und Gegenöffentlichkeiten zu etablieren (vgl. Jäckel 2005, Wimmer 2008). Zur Erinnerung, schon in den 1990er Jahren sorgten Newsgroups, Mailing-Listen und Webseiten für Furore, als diese den Zapatistas in Mexiko internationale Aufmerksamkeit einbrachten (vgl. Olesen 2005).
Während der politischen Unruhen im Iran 2009, während des Arabischen Frühlings 2011 oder aktuell in der Türkei nutzten Regierungskritiker_innen im Kampf gegen Unterdrückung ebenfalls das Social Web, um sich dort global zu vernetzen, gegen die lokal vorherrschende Medienzensur und gegen die Deutungshoheit weltweit anzuposten oder in Blogs zu diskutieren, wozu meist Facebook, twitter und mobile Smartphones genutzt wurden. Das digital erstellte und auf YouTube hochgeladene Musikvideo „Gangnam Style“ des südkoreanischen Sängers Psy zeigt auch als unpolitisches Beispiel wie sekundenschnell globale Teilhabe erreicht werden kann, die zu milliardenfachen Views führte und es somit auch in den Öffentlichkeiten der herkömmlichen Medien schaffte.
Mit den Möglichkeiten des Social Web wird aber auch deutlich, dass die neuen Nutzungsweisen immer im Aushandlungsprozess sind und neue Kommunikationsräume noch keinen (rechtlichen) Rahmen besitzen. So werden Freiräume sowohl von Geheimdiensten zur totalitären Überwachung (Prism-Operation) in orwellscher Vorausahnung als auch von Datenschutz-Bewegungen wie Wikileaks genutzt die dieses Wissen ebenso veröffentlichen können. Es lässt sich vermuten, dass sich mit einer zunehmenden Institutionalisierung und Professionalisierung auch rechtliche Handlungsorientierungen und Ordnungen mehr und mehr durchsetzen. Vor allem stellen private Informationen, beispielsweise viele Tera- und Petabytes an Daten aus digitalen Bildern, Online Banking, Sucheinträgen, eMails, SMS, Telefongesprächen, Videos, Blogeinträgen oder Posts in sozialen Netzwerken, den berühmten Schlüssel zur Macht da, den es gilt zu beherrschen, zumindest zu regeln. Aber auch das Wissen als Know-How, also als Medienwissen, ist wichtig für die Nutzung der neuen Medien, ohne dieses sonst Menschen von den neuen Öffentlichkeiten ausgeschlossen würden. Sicher ist, dass auch das Social Web bestehende Medien nicht auflöst, sondern nur neu kombiniert, mit diesen verschmilzt oder zu anderen Nutzungen drängt. So können Presse- und Druckformate sowie TV- und Radiosendungen weiterhin neben der herkömmlichen Nutzung vielfach auch online konsumiert werden, nur bieten dann Blogs, Ratgeberforen, (Video-)Chats, soziale Netzwerke und Kurznachrichtendienste darüber hinaus die Möglichkeit, in neuen Öffentlichkeiten zu kommentieren, zu diskutieren, zu ergänzen oder zu kritisieren.
Ambivalenz von Medien
Es lässt sich also festhalten, dass neue Medienpraktinen am Beginn ihrer Entstehung durch ihre alternativen Nutzungsweisen als zukunftsoffen gelten können und das Potenzial haben, bestehende Ordnungsmuster und Praktiken zu wandeln und vorübergehende Gegenöffentlichkeiten zu etablieren. Nach Prozessen des Ausprobierens und Aushandelns etablieren sich jedoch Nutzungspraktiken, die dann auch eine zunehmende Professionalisierung und Institutionalisierung nach sich ziehen und somit weniger frei und mehr strukturiert sind. Somit können Medien anfangs einen recht subversiven Charakter aufweisen bevor diese später die jeweilige soziale Ordnung nur reproduzieren. Nach dieser kurzen Einführung zum Wandel von Medienpraktiken habe ich wieder einige Fragen und möchte dabei die Möglichkeit nutzen, vor allem die bloggenden Soziologen selbst in den Vordergrund zu stellen:
Wo liegt der Turn zwischen Subersion und Reproduktion? Ist die Phase der freien Nutzung des Internets angesichts Überwachungstechniken und gezieltem Einfluss auf die Nutzer_innen schon vorbei oder bietet das Social Web aufgrund der Vielzahl an Neukombinationen und Vernetzungsmöglichkeiten im Gegensatz zu bisherigen Medien immer wieder subversives Potenzial? Was macht das Social Web mit unserer Privatsphäre? Was bleibt für uns Soziologieinteressierte – will die Soziologie durch das Social Web eine breitere Öffentlichkeit erreichen oder soll nur der innere soziologische Diskurs geschärft und verknüpft werden? Können durchs Bloggen akademische Grenzen überwunden werden? Was sollte soziologisches Bloggen überhaupt sein?
Literaturverzeichnis
Degele, Nina (2000): Informiertes Wissen. Eine Wissensoziologie der computerisierten Gesellschaft. Frankfurt am Main.
Faulstich, Werner (2004): GrundwissenMedien. Paderborn.
Habermas, Jürgen (1968): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuwied.
Hobsbawm, Eric J. (1991): Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt/Main.
Jäckel, Michael (2005): Medien und Macht. In: ders. (Hrsg.): Mediensoziologie. Grundfragen und Forschungsfelder. Wiesbaden: S. 295-318.
McLuhan, Herbert Marshall (1962): The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographie Man. Toronto.
Meyen, Michael (2007): http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/fileadmin/Fachtagung/Meyen.pdf
Olesen, Thomas (2005): International Zapatismo: The construction of Solidarity in the Age of Globalisation. London.
Ogburn, William (1969): Die Theorie der kulturellen Phasenverschiebung. In: ders./Duncan, Otis D. (Hrsg.): Kultur und sozialer Wandel. Ausgewählte Schriften. Neuwied am Rhein. S. 134-145.
Pelka, Bastian; Kaletka, Chriszoph (2010): Web 2.0 zwischen technischer und sozialer Innovation: Anschluss an die medientheoretische Debatte. In. Howaldt, Jürgen, Jacobsen, Heike: Soziale Innovation – Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma. Wiesbaden. S. 143-164.
Rammert, Werner (2007): Technik – Handeln – Wissen. Zu einer pragmatistischen Technik- und Sozialtheorie. Wiesbaden.
Schmidt, Jan (2009): Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Konsequenzen des Web 2.0, Konstanz.
Wimmer, Jeffrey (2008): Gegenöffentlichkeit 2.0: Formen, Nutzung und Wirkung kritischer Öffentlichkeiten im Social Web. In: Zerfaß, Ansgar/Welker, Martin/Schmidt, Jan (Hrsg.): Kommunikation, Partizipation und Wirkungen im Social Web. Bd. 2: Strategien und Anwendungen: Perspektiven für Wirtschaft, Politik, Publizistik. Köln: Herbert von Halem, S.210-230.
Winter, Rainer (2010): Widerstand im Netz. Zur Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit durch netzbasierte Kommunikation. Bielefeld.
Zum Autor:
Benjamin Köhler, B.A. in Soziologie, studiert Europäische Kulturgeschichte an der Europa-Universität Frankfurt/Oder und ist Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung. Seine Interessenschwerpunkte sind: Vergleichende Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Kultur- und Wissenssoziologie, Stadt- und Regionalentwicklung.
Sehr interessant zu lesen, wie das alles so von statten gegangen ist und angefangen hat.
Beim Lesen der Gastbeiträge muss ich oft schmunzeln – ich habe auch mehrere Jahre in Büchern gelesen, der Umgang mit Social Media kann dazu eine ganz eigene Geschichte erzählen.