Prekäre Wissensarbeit im akademischen Kapitalismus (Teil 3)

Strukturen, Subjektivitäten und Organisierungsansätze in Mittelbau und Fachgesellschaften

Ein Beitrag in drei Teilen von Peter Ullrich, Berlin

Dies ist die Fortsetzung von Teil 2 vom 13. Mai

 

3.2       Die Initiative „Für Gute Arbeit in der Wissenschaft“ in der Soziologie

Der Ansatz der Initiative, die Soziolog*innen in unterschiedlichsten Positionen umfasst (Promovierende, Postdocs, Juniorprofs, freiberuflich Forschende, außerakademisch Tätige) lässt sich als Versuch der Politisierung und ‚Indienstnahme‘ der Fachgesellschaft beschreiben (Amelung, Edinger, Rogge, u. a. 2015; Amelung, Edinger, Keil, u. a. 2015). Sie ist eines der möglichen Foren für eine Politisierung der Auseinandersetzungen über Beschäftigung in der Wissenschaft, das bisher in dieser Sache nicht in Erscheinung getreten ist. Somit handelt es sich um einen Versuch, eine Arena zu finden, in der angesichts der Abschottung der struktursetzenden Bundes- und Landespolitik Zwischenschritte zur Verbesserung der Lage des Mittelbaus erreicht werden könnten.

Im Rollenverständnis der DGS, das wahrscheinlich besonders stark von der inhaltlichen „Treuhänderschaft“ (Münch 2011, 44 ff.) der Wissenschaft für das jeweilige Fachwissen geprägt ist und sich insofern von Berufsverbänden mit deutlicher professionspraktischen Zielstellungen unterscheidet, gab es bisher wenig Raum für die Beschäftigungsseite der Soziologie. Aus zwei Gründen liegt es jedoch nahe, dass die DGS sich mit dieser Thematik befasst. Zunächst einmal sind alle ihre Mitglieder in allen Statusgruppen von den skizzierten Entwicklungen betroffen, besonders jedoch der die Mehrheit der Mitgliedschaft stellende Mittelbau (was allerdings für verschiedene Fachgesellschaften gilt). Zugleich fallen die beschriebene Situation, ihre strukturellen Hintergründe in der neoliberalen Transformation des Kapitalismus und die Auswirkungen auf die Wissensproduktion auch in den genuinen Bereich ihrer Expertise.

Die Initiative, gegründet von Soziolog*innen aus Berlin, aber später um Mitstreitende in andere Städten des deutschsprachigen Raumes ergänzt, wandte sich zunächst in einem Offenen Brief an die eigene Fachgesellschaft. Darin wird das Grundanliegen wie folgt erklärt:

„Die massiven gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse der letzten Jahrzehnte haben weder vor der Wissenschaft im Allgemeinen noch vor der Soziologie im Besonderen halt gemacht. Deregulierung, Aktivierung und Wettbewerbsorientierung haben hoch problematische Entwicklungen nach sich gezogen, nicht zuletzt eine zunehmende Prekarisierung von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen.

Wir, eine status- und generationenübergreifende Gruppe wissenschaftlicher Mitarbeiter/innen, fordern mit diesem offenen Brief die Deutsche Gesellschaft für Soziologie und ihre Mitglieder auf, sich aktiv und kritisch mit diesen Entwicklungen auseinanderzusetzen und sich zukünftig für gute Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse ebenso einzusetzen wie für die bereits bestehenden wissenschaftlichen und forschungsethischen Standards. Wir fordern dazu auf, einerseits bestehende Handlungsspielräume zu nutzen, und sich andererseits langfristig für die Verbesserung von Beschäftigungsverhältnissen hochschulpolitisch konsequent einzusetzen.

[…] Wir sind der Auffassung, dass Kooperation die grundlegende Bedingung für wissenschaftliches Arbeiten darstellt, nicht aber verschärfte Konkurrenzverhältnisse und berufliche Existenzangst. Ein ausreichendes Maß an Planbarkeit muss im Wissenschaftssystem gegeben sein, um den Zugang und Verbleib für alle engagierten Wissenschaftler/innen sicherzustellen und besonders verletzbaren Personengruppen gute Bedingungen einzuräumen und Benachteiligungen auszuräumen.“

Der Ansatz hatte neben seiner generellen Kritik an der Ökonomisierung der Bildung und dem verschärften Wettbewerbsdruck zwei strategische Stoßrichtungen. Es gelte, erstens, die strukturellen Entwicklungen zu reflektieren und zu kritisieren sowie dazu im Fach einen Diskussionsprozess in Gang zu setzen, der im besten Fall in alle Richtungen wirken soll (in die Politik, in das Fach, in die sozialwissenschaftlichen Institute, die Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen). Zum zweiten wurde auf bestehende Handlungsspielräume innerhalb existenter Strukturen verwiesen. Die Verfasser*innen weisen beispielsweise auf die konkrete Ausgestaltung von Arbeitsverträgen durch Soziolog*innen als Vorgesetzte und deren Möglichkeit, diese unterschiedlich lang zu befristen und (nicht) zu stückeln, hin. Um auf dieser Ebene wenigsten kleine Erfolge hinsichtlich einer besseren Praxis zu erreichen, schlug die Initiative vor, Minimalstandards Guter Arbeit[1] in den Ethikkodex der Fachgesellschaft aufzunehmen (der auch für den BDS, den „Berufsverband Deutscher Soziologinnen und Soziologen“, gilt). Als weitere Forderung, die auch als Weg zum Erreichen der anderen zu verstehen ist, fordert die Initiative eine bessere Repräsentation des akademischen Mittelbaus und auch der studentischen Mitglieder in den DGS-Gremien, um deren Problemsichten auch organisationsstrukturell besser zu verankern.

Nach fast zwei Jahren lässt sich aus Sicht der Initiative vorsichtig ein positives Zwischenfazit der Arbeit ziehen. Den Offenen Brief haben 2.751 Personen unterzeichnet. Er wurde zugleich beispielgebend für Initiativen anderer Fachgesellschaften (s.u.). Mitglieder der Initiative haben das Anliegen u.a. auf der Mitgliederversammlung der DGS, auf einer Sonderveranstaltung beim DGS-Kongress in Trier und bei einer von ihr in Zusammenarbeit mit der DGS und verschiedenen DGS-Sektionen organisierten Tagung zum Thema „Soziologie als Beruf“ vorgestellt. Überall haben sie plebiszitäre Unterstützung erfahren: Beifall, unterstützende Worte und kaum grundlegenden Widerspruch. Die Initiative hat ihre Forderungen und den Fortgang des Diskussionsprozesses in Fachzeitschriften vorgestellt (s.o.), sie wurde vom Fachportal „Soziopolis“ interviewt und zum „Projekt des Monats“ gekürt. Darüber hinaus gab es massenmediale Berichterstattung. Die DGS hat als Reaktion den Ausschuss „Mittelbau in der DGS / Beschäftigungsbedingungen in der Wissenschaft“ eingerichtet (zusammengesetzt aus Vorstandsmitgliedern und Mittelbauvertreter*innen), der über die Forderungen und Umsetzungsmöglichkeiten diskutiert und konkrete Vorschläge erarbeitet hat. Es gibt mittlerweile einen Entwurf für einen erweiterten Ethikkodex, in den u.a. Qualifizierungsvereinbarungen und ausreichende Zeit für Qualifikation aufgenommen wurden. Vor allem aber hat die DGS als Fachgesellschaft nach Vorbereitung im Ausschuss eine Erklärung veröffentlicht, die im Grundtenor der Analyse des Offenen Briefes folgt.

Auch der im Offenen Brief schon deutlich gewordene Konnex zwischen der Beschäftigungsprekarität und der soziologischen Wissensproduktion wird in der Stellungnahme aufgegriffen. Zugleich widmete sich diesem Thema eine vom Ausschuss initiierte Tagung mit dem Titel „Soziologie als Beruf“. Hierbei zeigte sich allerdings, dass es zwar viele Einschätzungen (und Reformvorschläge) zur Hochschulpolitik und zur Beschäftigungsentwicklung gibt, aber Forschung zu deren epistemologischen Folgen, also zu den Auswirkungen der analysierten Transformationen auf das soziologische Wissen fast nicht vorhanden sind.

Auch das Wahlprozedere der Fachgesellschaft soll überarbeitet werden. Bei den letzten Wahlen zum Konzil wurden ad hoc auch drei Mittelbauvertreter*innen nominiert. Diese konnten sich allerdings nicht durchsetzen, was wenig überrascht, da sie weniger bekannt sind und nicht explizit als Mittelbauvertreter*innen erkennbar waren. Doch genau das ist Ziel der Initiative: eine feste Quote für den Mittelbau in den Gremien und eine Kenntlichmachung der Statusgruppe, aus der man kommt und für deren Interessen oder Problemsichten man antritt, in den Wahlunterlagen.

Man sollte sich jedoch von dieser (fragilen) Erfolgsbilanz nicht täuschen lassen. Die öffentliche Unterstützung konnte nicht ganz überdecken, dass es durchaus auch Widerstände gab und gibt, die sich eher informell artikulierten. Teile der Professor*innenschaft würden wohl lieber am Honoratiorenmodell einer Fachgesellschaft festhalten. Auch war die Zusammenarbeit und v.a. das Zusammenkommen auf Augenhöhe nicht immer ganz unkompliziert. Und während, wie als Grundproblem eingangs beschrieben, in der generellen Problemdiagnose hinsichtlich der Beschäftigungssituation des Mittelbaus durchaus eine gewisse Einmütigkeit besteht, ist insbesondere der Aspekt individueller Verantwortung hoch umstritten. Sich mit konkreten Optionsbeschneidungen persönlich in die Pflicht nehmen zu lassen, behagt wohl einigen Professor*innen nicht. Doch genau das ist einer der Hebel im Ansatz der Initiative. Denn die konkrete Erfahrung gesteigerter Verlässlichkeit ist die Basis für Forderungen nach mehr und v.a. für die Ausbreitung des Glaubens an die Realisierbarkeit von mehr in einem insgesamt wohl eher antiutopischen Feld. Das Ziel, Anspruchsniveaus zu erhöhen, wird über erlebte Einlösung von Ansprüchen erreicht.

In Zukunft muss sich auch noch beweisen, welche programmatischen Effekte oder sogar konkreten Steuerungswirkungen die umgesetzten Schritte zeitigen. Weder Wahlreform noch Ethikkodexerweiterung (die man sich durchaus noch weitgehender hätte vorstellen können) sind bisher umgesetzt. Sollte die Umsetzung erfolgen, ergeben sich Folgeprobleme. Dies betrifft zum einen den Ethikkodex. Entwickelt der überarbeitete Ethikkodex eine Bindekraft? Werden Verstöße überhaupt angezeigt oder siegen die informellen Abhängigkeiten in der Wissenschaft über diesen formellen Weg? Nimmt sich die Ethikkommission konkreter Verstöße an? Kann sie sie wirkungsvoll sanktionieren? Der zweite Problemkomplex betrifft die angestrebte Gremienmitarbeit durch den Mittelbau in der Fachgesellschaft. Die Prekarität der Beschäftigung ist eingangs schon als gremienfeindlich analysiert worden; dies gilt selbstverständlich auch für die Gremien der Fachgesellschaften. Die Möglichkeiten über längere Zeiträume verlässlich zu planen und eine verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen, sind begrenzt. Allein die Entwicklung des Aktivenstamms innerhalb der Initiative zeigt die aus der mobilen Prekarität resultierenden Fährnisse. Teile ihrer Mitgliedschaft sind arbeitslos geworden, haben die universitäre Forschung an den Nagel gehängt, sind in eine andere Stadt oder ins Ausland gezogen, sind berufen worden oder haben Phasen extremer Prekarität oder Arbeitsbelastung durchgemacht, die kontinuierliches Engagement behinderten. Für diese Problematiken gibt es Lösungen, die im weiteren Reformprozess Eingang in die Institutionalisierungsprozesse finden müssen.

Denkbar ist beispielsweise, Rotations- oder Nachrückermodelle für Ämter zu finden und so Arbeit und Engagement breiter zu verteilen. Für Vorstandstätigkeiten könnte man über Vorstandsmitglieder ohne gesonderten bzw. mit einem kleineren Zuständigkeitsbereich nachdenken, wenn durch solidarische und kollektive Entscheidungsstrukturen sichergestellt wird, dass diese nicht zu Vorständen zweiter Klasse werden. Denkbar ist auch, dass für Sitzungen o.ä. Aufwandsentschädigungen geleistet werden. Dies muss keine Regelleistung sein, sondern kann bedarfsorientiert entschieden werden. Es wäre auch keine Entwertung des Ehrenamts, sondern die Reflexion der sehr unterschiedlichen materiellen Voraussetzungen Ehrenämter wahrnehmen zu können (wobei diese Art ‚Ehrenamt‘ ohnehin sehr starken beruflichen Charakter hat und nicht nur Aufwand ist, sondern auch Quelle symbolischer Gratifikationen ist).

3.3       Impulse und Initiativen über die Soziologie hinaus

Einer der größten Erfolge der Initiative neben oder wegen der medialen und fachinternen Resonanz ist sicherlich, dass ihr Beispiel in mehreren anderen Fachgesellschaften aufgegriffen wurde. Mittlerweile gibt es mehrere vergleichbare Initiativen, die sich teilweise explizit am Beispiel der Soziolog*innen orientieren.

Aus der Deutschen Vereinigung für politische Wissenschaft (DVPW), die schon länger in Sachen Mittelbau aktiv ist, gab es einen ähnlichen Offenen Brief unter explizitem Bezug auf die DGS-Initiative. In der Petition, die für ein Wissenschaftsthema beeindruckende 14.000 Unterstützer*innen fand, wird für bessere Beschäftigungsbedingungen und planbare Perspektiven der Beschäftigten geworben. Adressat des Briefes ist vor allem die Politik, doch die Politikwissenschaftler*innen nehmen auch die Hochschulen und die Professor*innenschaft in die Pflicht und betonen deren Gestaltungsmöglichkeiten.

Diese beiden Handlungsebenen werden auch in einer Initiative von Erziehungswissenschaftler*innen fokussiert, die zunächst weniger Resonanz erfuhr (etwa 600 Unterzeichnende der Petition), aber auch in der Erziehungswissenschaft zur Etablierung der Debatte beitrug. Auf dem Kongress der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) gab es in der Folge ein Vernetzungstreffen von und für „WissenschaftlerInnen in Qualifikationsphasen“. Parallel zu der Petition entstanden Pläne für einen Workshop auf dem DGfE-Kongress – nachträglich zu einem prominent platzierten Symposium aufgewertet – zum Thema „Kein Raum, keine Zeit? Aktuelle Politiken des akademischen Mittelbaus als Bezugspunkt erziehungswissenschaftlicher Reflexionen“. Netzwerktreffen wie Symposion waren gut besucht. Doch mit ihren Erwartungen an die Fachgesellschaft waren die DGfE-Qualifikand*innen nicht so erfolgreich. Ihre nur assoziierte Mitgliedschaft (bis zum Erringen des Doktortitels) bspw. bleibt weiter erhalten. Allerdings wurde auf Initiative der Qualifikand*innen eine Kommission zur Befassung mit den Beschäftigungsbedingungen und zur Erarbeitung eines Leitbilds für Gute Arbeit ins Leben gerufen.

In der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) hat sich eine zur DGS gleichnamige Initiative („Für Gute Arbeit in der Wissenschaft“) gebildet, „deren Ziel es ist, innerhalb der GfM […] eine Diskussion über die herrschenden Arbeitsbedingungen befristet angestellter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anzustoßen“ und sich politisch bei Bundes- und Landesregierungen für Verbesserungen für die Beschäftigten einzusetzen. Die Mitgliederversammlung der GfM hat eine von der Initiative entworfene Resolution verabschiedet, die u.a. einen massiven Ausbau von Laufbahnstellen und Dauerstellen für Daueraufgaben fordert. Die aus der Initiative hervorgegangene Kommission beim Vorstand führt 2016 in allen GfM-Gliederungen einen Diskussionsprozess, dessen Ziel die Verankerung eines Kodex für gute Arbeit an medienwissenschaftlichen Instituten ist.

In der Germanistik fungiert die Zeitschrift undercurrents einerseits als Forum für die textförmige Auseinandersetzung mit den Beschäftigungsverhältnissen als Teil der Produktionsbedingungen von Wissenschaft. Mit einem monatlichen „Jour Fixe zu prekären Arbeitsverhältnissen in der Literaturwissenschaft“ schafft man andererseits auch einen Raum für Diskussion und Aktion. Auch diese Initiative plant Interventionen in die Fachgesellschaft.

Um einen Eindruck von dem weiteren Feld zu vermitteln, in dem sich derzeit Bewegung gegen die Prekarität in der Wissens- und Bildungsarbeit entfaltet, sollen weitere exemplarische Akteure und ihr Aktivitätsspektrum abschließend zumindest noch kurz Erwähnung finden. Schon seit 2012 organisieren sich Honorarlehrkräfte in der Bundeskonferenz der Sprachlehrbeauftragten (BKSL), die u.a. darauf aufmerksam macht, dass Lehrbeauftragte, obwohl sie einen großen Teil des universitären Fremdsprachenunterrichts sicherstellen, deutlich schlechter gestellt sind als ihre hauptamtlichen Kolleg*innen, die inhaltlich die gleiche Arbeit leisten. Mit gewerkschaftlicher Unterstützung organisierte die BKSL 2014 einen bundesweiten Aktionstag und 2015 eine Aktionswoche der Lehrbeauftragten. An vielen Hochschulen bilden sich derzeit auch wieder neue Mittelbauinitiativen, die auf Ebene ihrer Einrichtung streiten. Auf Facebook gibt es erfolgreiche Gruppen wie „25 % akademische Juniorpositionen, die sich für die Erweiterung des Karriere-Flaschenhalses engagieren. Es gibt auch Initiativen von Privatdozent*innen, die mit Lobbying bei Bildungspolitiker*innen auf ihre Lage aufmerksam machen. Eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen fordert im „Marbacher Manifest, bei den aktuellen wissenschaftspolitischen Weichenstellungen, Quotierungen gegen die Geschlechterungleichheiten. Konferenzen und Workshops mit Titeln wie „ReClaim University“, „Akademischer Frühling“ oder – eine besonders prägnante Zuspitzung – „Die Verschrottung des Nachwuchses und die Zukunft der Wissenschaft bringen immer wieder Interessierte und Wütende zusammen und konstituieren aktivistische Netzwerke. V.a. aber gab es weitere fachungebundenen Petitionen, besonders erwähnenswert die breite Aufmerksamkeit erzielende Petition an die Bildungsministerin „Perspektive statt Befristung.

4         Wer und was genau ist hier eigentlich prekär?

Manchen der bis hierher getätigten und bewusst zugespitzten Darstellungen insbesondere in der Problemdiagnose könnte man Gleichmacherei vorwerfen. Denn selbstverständlich stellen sich die Bedingungen nicht für alle gleich dar. Fast schon eine Binsenweisheit ist die Geschlechtlichkeit dieser Verhältnisse. Die Unterrepräsentanz von Frauen in allen Bereich der oberen Hierarchien wird beim gegenwärtigen Stand der Geschlechterbeziehungen durch die menschen- und insbesondere familienunfreundliche Beschäftigungssituation sicher nicht verbessert. Hinsichtlich der Fächer sieht Rogge vor allem Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen in der Spezialisierungsfalle (Rogge 2015, 695), während manche Natur- und Ingenieurwissenschaftler*innen wegen des für sie günstigeren Arbeitsmarktes auch während der Promotion volle Stellen bekommen und auch als Postdocs noch größere außeruniversitäre Beschäftigungsoptionen haben. Diese Diversität und der Mangel von Kommunikationsräumen können sich zusätzlich zu den Statusgruppendifferenzen als Solidarisierungshemmnis erweisen.

Mit der besonderen Situation der Geistes- und Sozialwissenschaften hängt eine weitere Problemdimension zusammen: ganz sicherlich bedroht ist im „akademischen Kapitalismus“ die Kritik (Demirović 2015), die ihren Ort eher in diesen Fächern hat. Wenn alles sich der messbaren Zweckorientierung unterwirft, ist Muße nicht vorgesehen, ist zwangloser Austausch nur Ablenkung. Wenn Ausbildung die Bildung komplett verdrängt, wird Verwertbarkeit zum Mantra. Das bedeutet nicht, dass im Hochschulsystem kritische (im emphatischen Sinne) Forschung keinen Platz mehr hätte. Der flexibilisierte Kapitalismus war bislang in der Lage noch jede Subkultur zu kommodifizieren (vgl. Fisahn 2009); auch radikale Kritik verkauft Bücher und muss entsprechend eher mit Vereinnahmung als mit Verfolgung rechnen. Es reicht ihre Verbannung in Nischen und ihr Verpuffen in Irrelevanz.

Es geht also tatsächlich noch um mehr als nur das Leiden an Beschäftigungsbedingungen. Doch die Frage nach der Möglichkeit von Kritik und der Art und Weise des Umgangs der Hochschule als Institution mit ihren Mitgliedern sind eng miteinander verwoben. Damit sich hier etwas grundlegend ändern kann, sind Anstrengungen nötig, die weit über die Möglichkeiten der dargestellten Initiativen hinausgehen. Diese zeigen aber Ansätze auf. Sie liegen in der Organisierung gruppenübergreifender Solidarität, in der Politisierung neuer Arenen für diese Auseinandersetzung, in der Erhöhung des Organisierungsgrades und damit der Konfliktfähigkeit der Beschäftigten und in der Wiederanhebung ihrer Anspruchsniveaus. Ihnen stehen Strukturmerkmale entgegen, die von personaler Abhängigkeit, verschärftem Wettbewerb, Subjektivierung, Vereinzelung und Wissenschaftsfeindlichkeit geprägt sind. Allerdings zeigen die bisherigen Kämpfe und Debatten, dass zumindest kleine Handlungsspielräume und konkrete Konzepte für das Hier und Jetzt auch unter diesen Rahmenbedingungen bestehen. Dazu gehören neben den analysierten Fachgesellschaftsprozessen Selbstverpflichtungen von Universitäten für Beschäftigungsstandards oder lokale Enthierarchisierungs-Initiativen, Institute vom Lehrstuhlprinzip weg hin zu einer weniger feudalen Departmentstruktur zu entwickeln. Sie alle sind eine Voraussetzung, um letztlich deutlich mehr zu erreichen und dieses v.a. zunächst wieder denkbar erscheinen zu lassen.

Vorschläge für Hashtags zum Weiterdiskutieren auf Twitter und Facebook: #SozBlog #GuteArbeit #GAidW #PrekäreWissenschaft

 

Peter Ullrich, Dr. phil. Dr. rer. med., Soziologe/Kulturwissenschaftler, ist Ko-Leiter des Bereichs „Soziale Bewegungen, Technik, Konflikte“ am Zentrum Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Protest- und Bewegungsforschung, Antisemitismusforschung, Polizeiforschung und Surveillance Studies. Er engagiert sich u.a. in der Initiative „Für Gute Arbeit in der Wissenschaft“. Web: http://textrecycling.wordpress.com, Kontakt: ullrich@ztg.tu-berlin.de

 

[1]

Zu den leicht direkt umsetzbaren Anliegen zählt beispielsweise die Bindung von Arbeitsverträgen an die Projektlaufzeit bei Drittmittelstellen oder an die tatsächlich benötigte Zeit für die Promotion/Habilitation bei Qualifikationsstellen, die Bevorzugung voller Stellen und der Verzicht auf Lehraufträge, insbesondere unbezahlte, zur Sicherstellung regulärer Lehre. Im Bereich der Qualifikation, die eng mit der Stellensituation zusammenhängt, gehört dazu die Sicherstellung von Betreuung und die Gewährung von ausreichend Zeit für die Qualifikation (bspw. durch eine verbindliche und realistische Betreuungsvereinbarung).

 

Literatur (Teil 3)

Amelung, Nina, Eva-Christina Edinger, Maria Keil, Jan-Christoph Rogge, Moritz Sommer, Peter Ullrich, und Tina Weber. 2015. „Die Fachgesellschaften politisieren und mobilisieren! Ein Beispiel aus der Soziologie“. Forschungsjournal Soziale Bewegungen 28 (3): 101–5.

Amelung, Nina, Eva-Christina Edinger, Jan-Christoph Rogge, Peter Ullrich, und Tina Weber. 2015. „Für gute Arbeit in der Wissenschaft“. Herausgegeben von Sylke Nissen, Karin Lange, und Georg Vobruba. Soziologie 44 (2): 226–30.

Demirović, Alex. 2015. Wissenschaft oder Dummheit? Über die Zerstörung der Rationalität in den Bildungsinstitutionen. Hamburg: VSA-Verlag.

Fisahn, Andreas. 2009. „Überwachung und Repression. Logiken der Herrschaftssicherung“. In Kontrollverluste. Interventionen gegen Überwachung, herausgegeben von Leipziger Kamera, 40–54. Münster: Unrast-Verlag.

Münch, Richard. 2011. Akademischer Kapitalismus. Zur politischen Ökonomie der Hochschulreform. Edition Suhrkamp 2633. Berlin: Suhrkamp.

Rogge, Jan-Christoph. 2015. „The winner takes it all? Die Zukunftsperspektiven des wissenschaftlichen Mittelbaus auf dem akademischen Quasi-Markt“. KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 67 (4): 685–707.

Autor: Initiative "Für Gute Arbeit in der Wissenschaft"

Im Sommer 2014 haben sich Soziologinnen und Soziologen zusammengefunden, um sich für “Gute Arbeit in der Wissenschaft” zu engagieren. Es entstand ein Offener Brief an die DGS, in dem die Fachgesellschaft aufgefordert wurde, sich mit den Beschäftigungsbedingungen im eigenen Fach auseinander- und für gewisse Mindeststandards guter Arbeit einzusetzen sowie diese in ihren Ethikkodex aufzunehmen. Ein weiteres zentrales Anliegen der Initiative ist es, die Mitbestimmung des Mittelbaus in den Gremien der DGS zu stärken. Die Anliegen der Initiative werden derzeit in der DGS verhandelt, im Rahmen des nächsten DGS-Kongresses organisiert die Initiative die erste Mittelbauversammlung der DGS. Website der Initiative

4 Gedanken zu „Prekäre Wissensarbeit im akademischen Kapitalismus (Teil 3)“

  1. „[…] Wir sind der Auffassung, dass Kooperation die grundlegende Bedingung für wissenschaftliches Arbeiten darstellt, nicht aber verschärfte Konkurrenzverhältnisse und berufliche Existenzangst. Ein ausreichendes Maß an Planbarkeit muss im Wissenschaftssystem gegeben sein, um den Zugang und Verbleib für alle engagierten Wissenschaftler/innen sicherzustellen und besonders verletzbaren Personengruppen gute Bedingungen einzuräumen und Benachteiligungen auszuräumen.“

    Diese Forderung erscheint in jedem sozialen und Arbeits-Kontext sinnvoll. Dann aber ist Wissenschaft aus sich selber heraus bereits definitorisch untrennbar mit Nicht-Planbarkeit und mit schärfster Konkurrenz verbunden. Wie löst man diesen Konflikt?

    Die naheliegende Antwort, dass eben nicht jede Wissenschaft gleich schon Spitzenforschung sein muss, empfinde ich als unbefriedigend, weil sie auf lange Sicht zu einer Nivellierung in den Wissenschaften führt. Diese Nivellierung ist bereits seit einiger Zeit zu beobachten. Wir wollen also das Nicht-Planbare planen! Und einen Bereich, der sich grundständig aus einem „besser als der bekannte State of the Art“ definiert, ohne Konkurrenz betreiben. Kann das klappen?

  2. Nun, so lange kein Kommunismus ausbricht (oder immerhin ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt wird), besteht da möglicherweise ein Konflikt zwischen der Wahrheitssuche und der Lohnarbeit. Allerdings sehe ich den wiederum nur teilweise.
    Vieles in der Wissenschaft ist außerhalb der „Spitzenforschung“. Lehre muss solide und gut sein, aber nicht dauerhaft exzellent und im Überbietungswettbewerb. Gleiches gilt für angewandte Forschung, Beratung, Prüfung, Begutachtung, Herausgeber*innen und -Redaktionstätigkeiten usw. usw.. Die Breite wissenschaftlicher Tätigkeiten umfasst eben, wie Peter Streckeisen schon bemerkte, sehr viel handwerkliche Tätigkeit – als Basis gelegentlich dann mglw. auftauchender genialer Ideenproduktion.

  3. Als Mittelbau’ler ist mir eine Quote im Konzil nicht plausibel. Um es zugespitzt zu formulieren: Was soll eigentlich eine Mittelbaulerin im Konzil für mich erreichen? Warum soll sie das eigentlich innerhalb der Fachgesellschaft durchsetzen müssen? Es liest sich streckenweise so, als seien – zumindest einige – Professorinnen ein Feindbild und als könnten nur Mittelbaulerinnen ‚wirklich‘ für unsere Belange eintreten. Und was sollen eigentlich die Belange des Mittelbau sein, darüber hinaus dass jede gerne eine sichere Stellen hätte? Eine entfristete, ältere Post-Doc hat zudem mitunter ganz andere Interessen als ein frischer Absolvent an seiner ersten Stelle.

    Um es umzudrehen: Wem nützt eigentlich der Konzilsplatz mehr – dem angeblich vertretenem Mittelbau oder dem dadurch gewählten Konzilsmitglied? Kann man es nicht auch der Profilierung eh schon aufsteigender Post-Docs von renomierten Lehrstühlen dienen die damit ein weiteres Zertifikat auf dem Weg zur Berufung einzusammeln?

    Und um das dann weiterzuspinnen – wird damit nicht weiter der Druck auf den Mittelbau erhöht, der schon vor der Berufung unzählige Projektgelder einwerben, international in Journals publizieren undundund und jetzt auch noch Konzilsbewerbungen gewinnen und Konzilsarbeit leisten soll? Wird damit fernab dessen was im Konzil überhaupt möglich ist nicht auch der Wettbewerb im Mittelbau verschärft, der sich vll. verpflichtet fühlt sich für das Konzil aufzustellen?

    Sorry, das ist alles salopp formuliert und betrifft weniger den Beitrag für sich oder die sicher trifftigen Probleme von uns aus dem Mittelbau. Aber wenn es heißt, dass die Mittelbau-Kandidaten u.a. nicht gewählt wurden, weil sie als solche nicht erkennbar waren oder dass nur Professorinnen gegen eine Konzilsquote wären – dann würde ich dem gern entgegenstellen, dass mir die Kandidaten bekannt waren, auch als Mittelbaukandidaten, ich sie aber dennoch nicht gewählt habe, wegen der angesprochenen Fragen. Und eine Mittelbaukonzilsquote mir als jemand aus dem Mittelbau immer noch nicht plausibel ist. Dass heisst nicht dass eine Mittelbauinitiative nicht unterstützenswert ist – es stellt aber die Frage ob die Forderungen der Initiative die bestmöglichen Mittel sind.

  4. Liebe(r) Anonymous,

    die Idee ist ganz einfach: aus demokratischen Gründen ist es gut, wenn diejenigen repräsentiert sind, die eine Gesellschaft (hier: die DGS) ausmachen. Natürlich ist nicht garantiert, dass Mittelbauler*innen die Interessen des (heterogenen) Mittelbaus vertreten, aber sie sind wohl noch am ehesten in der Lage, dessen Nöte zu erkennen, zu artikulieren, zu vertreten.
    Das gilt im Übrigen auch für andere Gruppen, die bisher noch recht wenig vertreten sind, bspw. Studierende.
    Außerdem geht es uns darum, Bewusstsein für kollektives Handeln zu stärken, um dem Karrierismus (der für die meisten ohnehin nicht in Erfüllung geht) etwas entgegenzusetzen.
    Viele Grüße, die GAidW

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