Diversitätsprobleme im Expertentum: Die Coronakrise als Kontrastmittel für Schieflagen im Wissenschaftssystem

Führt man sich den Entstehungsprozess der Leopoldina-Stellungnahme vor Augen, den Heike Schmoll in der FAZ inzwischen erläutert hat, fragt man sich, weshalb man sich überhaupt die Mühe einer wissenschaftssoziologischen Analyse gemacht hat, wenn es von Seiten der Autorinnen nur heißt, sie waren selbst erstaunt, dass aus diesem kollaborativen Arbeitsauftrag „ein so vergleichsweise rationaler Text“ ad hoc zustande gekommen ist, selbst wenn er nicht allen internen „Ansprüchen gerecht werden konnte“. Der Politik scheint es so aber ausgereicht zu haben, denn sie ist den Empfehlungen an einer besonders umstrittenen Stelle bekanntlich gefolgt.

Der Blick auf die Autorinnenliste am Ende des Dokuments offenbart zusätzlich, dass die Leopoldina-Stellungnahme mehrheitlich von Männern im Alter von über 60 Jahren verfasst worden ist. Kein Wunder also, dass das Konzept der Fürsorge und der Familie in dieser Stellungnahme nicht mitgedacht ist, wenn Frauen in diesem Gremium kaum vertreten waren (2 von 26!), so einer der größten Kritikpunkte, die prominent auch von Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung im Berliner Tagesspiegel vorgebracht wurde.

Dass die ungleiche Repräsentation von Frauen in wissenschaftlichen Entscheidungszusammenhängen durch diesen Fall in die gesellschaftliche Diskussion gerät, ist wichtig und längst überfällig. Die aktuelle Krise macht viele gesellschaftlichen Schwachstellen sichtbar. Vielleicht braucht es in der Wissenschaft den öffentlichen Druck, um Reproduktions- und Anerkennungsmechanismen endlich entlang von Gleichstellungsstandards zu orientieren. Die Leopoldina ist dabei aber nur ein Fall unter vielen. Zu ihren Mitgliedern, den sogenannten exzellenten Wissenschaftlerinnen, gehören derzeit nur insgesamt 12 Prozent Frauen, bei den neu Zugewählten sind es immerhin 32 Prozent [i]. Ähnliche strukturelle Muster lassen sich auch für jede der anderen Akademien ausmachen. BBAW, acatech, Leopoldina – an ihrer Spitze stehen Männer. Dass dieser Umstand von den Beteiligten in der akademischen Welt auch im Jahr 2020 noch betrieben und/oder hingenommen wird, ist der eigentliche Nachrichtenwert. Hierzu muss man sich bloß auf Schlüsselveranstaltungen der Wissenschaftspolitik begeben wie den jährlich stattfindenden Forschungsgipfel des Stifterverbands für wissenschaftspolitische Entscheiderinnen, um festzustellen, dass eine Podiumsdiskussion zu Innovationen immer noch als Manel 10:0 besetzt werden kann. In welchem anderen Gesellschaftskontext würde eine solche Zusammensetzung überhaupt noch durchgehen?

Aber erst mit der Vorlage einer akademischen Stellungnahme zu den gesellschaftlichen Risiken des coronabedingten Lockdowns werden diese Missstände in der Wissenschaft öffentlich virulent. Denn hier wird jeder Leser_in sofort deutlich, dass es sich bei der Forderung nach mehr Diversität in der Wissenschaft nicht allein um Repräsentationsfragen dreht, sondern dass die systematische Nichtberücksichtigung u.a. von Frauen mit der Vernachlässigung von Inhalten und Perspektiven einhergeht. Dass die Unterrepräsentation von Frauen in wissenschaftlichen Machtpositionen nun aber ausgerechnet im Fall einer einzelnen Stellungnahme zu einem einzigen Passus diskutiert wird, bei dem es um ein sogenanntes typisches Frauenthema, nämlich Care-Arbeit geht, ist jedoch ebenso bezeichnend für die nach wie vor geringe Sensibilität für diese gravierende Schieflage in der Wissenschaft.

Dafür reicht der Blick auf die Autorinnenliste der beiden ersten Ad-hoc-Stellungnahmen der Leopoldina, denn sie zeigen ein ganz ähnliches Muster mit 3 Frauen zu 13 Männern unter den Fachexpertinnen für medizinische Fragen – kein Wort dazu von niemandem. Die vier Hauptunterzeichner der jüngsten Stellungnahme der Helmholtz-Initiative, Präsident, Vizepräsidenten, Institutsleiter: nur Leitungspositionen, allesamt Männer. Dass unter den Hochschulleitungen Deutschlands nicht einmal ein Viertel Frauen sind, ist ein weiteres Datum. Bei der Leitung außeruniversitärer Einrichtungen sieht die Lage noch schlechter aus, so ist hier nur jede zehnte Institutsleitungsposition mit einer Frau besetzt. Vollkommen selbstverständlich also, dass wir in den täglichen Pressekonferenzen derzeit nur Männern begegnen, wenn wissenschaftliche Institutionen und ihre Leitungsfiguren gefragt sind.

Medien reproduzieren wissenschaftliche Selektionsmechanismen

Aber auch in den Medien ist das Thema Wissenschaft männlich besetzt, dies offenbart die aktuelle Krise wie unter einem Brennglas. Die wissenschaftszentrierten Podcasts zur Corona-Krise tragen den Namen der Experten. Sie heißen mit Vornamen zwar nicht alle Thomas, aber Alexander (Mitteldeutscher Rundfunk), Christian (NDR), Hendrik (Bayrischer Rundfunk) oder Heinz-Wilhelm (WDR) und eben nicht Marylyn. Die Namensliste ließe sich an Beispiel von TV-Talkshows leicht fortsetzen, doch es reicht an dieser Stelle vielleicht festzuhalten, dass nicht allein die Wissenschaft, sondern auch die Medien an der stetigen Reproduktion eines einseitigen Bildes von Wissenschaft mitwirken, indem (natur-)wissenschaftliche Fragen mehrheitlich männlich konstruiert werden. Angesichts dieses medialen Framings kommt in der gegenwärtigen Lage fast automatisch die Frage auf: Gibt es keine Virologinnen in Deutschland? Natürlich gibt es sie, aber sie werden weit weniger hofiert und sind dadurch weniger sichtbar. Männern wird die Vorderbühne zugedacht, Frauen forschen auf der Hinterbühne. Das betrifft die Soziologie ganz genauso. Für die großen gesellschaftsdiagnostischen Fragen greift der Journalismus gerne auf die üblichen Verdächtigen zurück, die sich bereits als Suhrkamp-Autoren im medialen Diskurs bewährt haben und thematisch flexibel sind. In diesem Portfolio kommen aber weder Frauen noch die Vertreterinnen spezieller Soziologien vor. Dazu würde bspw. die Katastrophensoziologie gehören, die in der akuten Situation vermutlich tiefgreifender Auskunft geben könnte, aber aufgrund ihres schwachen Institutionalisierungsgrads weniger prominent ist. Angesichts der verzerrten medialen Wissenschaftskommunikation wird mithilfe der sozialen Medien derzeit versucht, zumindest der Marginalisierung weiblicher Forscherinnen entgegenzuwirken, vielleicht bewegt sich was.

Die Lehre vom Matilda-Effekt

Doch greift auch hier und heute in dieser Krise besonders sichtbar immer noch der Matilda-Effekt, den die Wissenschaftshistorikerin Margaret W. Rossiter formuliert hat. Der Matilda-Effekt beschreibt die systematische Diskriminierung von Frauen, die Rossiter (1993) entlang historischer Fallanalysen aufgezeigt hat. Ihre Ergebnisse machen deutlich, wie der Beitrag von Wissenschaftlerinnen in der Forschung häufig geleugnet und stattdessen den männlichen Kollegen zugerechnet wurde. Als Antwort auf den Matthäus-Effekt, den der Wissenschaftssoziologe Robert K. Merton als kumulativen Vorteil beschrieben hat (von dem er im Übrigen selbst profitiert hat), leitet sich der Matilda-Effekt von dem zweiten Teil des namensgebenden Zitats aus dem Matthäus-Evangelium ab: „wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden“. Frauen und ihre wissenschaftlichen Leistungen werden systematisch unsichtbar gemacht. Werden Namen nicht erwähnt, bleibt auch die soziale Anerkennung für wissenschaftliche Leistungen aus.

Dass im Wettbewerb um wissenschaftliche Beachtung auch die Massenmedien eine entscheidende Rolle spielen, führt die Coronakrise sehr anschaulich vor Augen. Einzelne Wissenschaftler werden von den Medien und zum Teil mit Unterstützung einer professionellen PR-Maschinerie regelrecht zu medialen Experten mit Gesicht aufgebaut, andere finden allenfalls am Rande öffentliche Erwähnung. Diese mediale Selektivität wirkt sich selbstverständlich auch auf die öffentliche Wahrnehmung von Wissenschaft aus. Ein Beispiel, vielleicht nicht das beste, aber immerhin das anschaulichste, ist eine von der BILD-Zeitung kürzlich lancierte Umfrage zur Glaubwürdigkeit von Corona-Experten. Zur Wahl standen sieben Expertinnen. Das Ergebnis verweist die einzigen beiden Frauen in der Auswahl beide mit drei Prozent auf den letzten Platz des Rankings. Es sind Prof. Dr. Marylyn Addo, Leiterin der Sektion Infektiologie am UKE Hamburg und Prof. Dr. Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Dass eine nicht-repräsentative Umfrage, besser gesagt, ein Klick auf einen der Namen von irgendjemandem weniger mit der Zurechnung von Glaubwürdigkeit als mit der Bekanntheit der Person zu tun hat, ist offenkundig, genauso wie ein solches Clickbaiting keinen journalistischen Zweck erfüllt.

Jedes veröffentlichte Ranking aber suggeriert qualitative Unterschiede in der Sache, obwohl die Umfrageergebnisse lediglich auf ein Sichtbarkeitsgefälle zurückführbar sind, das die Medien selbst produzieren. So entstehen kumulative Vorteile für die einen, kumulative Nachteile für die anderen. Umso erstaunlicher ist, dass dieser Umstand sogar selbstreflexiv in der Ergebnisdarstellung von der Bild-Redaktion hervorgehoben wird: „Übrigens: Das Ergebnis dieser Umfrage sagt nichts über Glaubwürdigkeit oder Kompetenz der Experten aus. Vielmehr zeigt sie, wie bekannt und präsent die jeweilig Forscher sind.“ Im Falle einer analogen Umfrage zur Glaubwürdigkeit von Politikerinnen wäre ein solcher Hinweis sicher nicht erfolgt. Es spiegelt sich in der Notiz wohl eher ein Autoritätsglaube gegenüber der Wissenschaft.

Drosten, Kekulé, Streeck – wir alle haben wahrscheinlich sofort das entsprechende Bild vor Augen und eine Stimme im Ohr, schließlich bespielt jeder von ihnen nach dem Vorbild Drosten inzwischen seinen eigenen Podcast. Kein Wunder also, dass sie es sind, die die ersten drei Plätze im Experten-Ranking der Bild belegen. Immerhin hat die Redaktion selbst Wissenschaftler_innen ohne eigenen Podcast oder positionsbedingter täglicher Pressekonferenz in ihre Auswahl aufgenommen, da sie direkt zum Corona-Virus forschen. Gerade deshalb scheint es aber umso erstaunlicher, dass ihre Expertise scheinbar von Wissenschaftsseite nicht genügend nachgefragt ist oder honoriert wird, wenn man feststellen muss, dass ihre Namen umgekehrt weder in dem benannten NRW Expertenrat, der Leopoldina oder der Helmholtz-Initiative auftauchen (obgleich Brinkmann selbst an einem Helmholtz-Institut forscht).

Professionalisierungsbedarf des Wissenschaftsjournalismus

Dass wissenschaftliche Reputation und mediale Prominenz nicht unbedingt zusammenfallen müssen, habe ich bereits in einem vorherigen Blogpost betont. Aber es gibt eben umgekehrt auch eine sich selbst verstärkende Tendenz der Konstruktion von Expertentum oder wissenschaftlicher ‚Exzellenz‘, die von keiner Seite mehr auf ihre sozialstrukturellen Verzerrungen hin reflektiert wird. So orientiert sich der professionelle Wissenschaftsjournalismus an der wissenschaftlichen Reputationsordnung und reproduziert damit laufend alle bestehenden sozialen Ungleichheiten mit. Zur Daumenregel bei der Auswahl neuer Expertinnen, auch jenseits von Amt und Position, gehört seitens des Wissenschaftsjournalismus die Berücksichtigung des individuellen Publikationsportfolios, die Namen von Zeitschriften, die Beachtung von Zitationsstatistiken und zitationsbasierten Indikatoren. Man erkennt daran im Übrigen, wie sehr der professionelle Wissenschaftsjournalismus an den Naturwissenschaften, speziell der medizinischen Forschung orientiert ist. Für die Philosophie oder auch Soziologie ist ein Zitationsschwellenwert von 100 sicher kein unbedingt geeigneter Indikator, zumal Zitationsstatistiken auf Zeitschriftenartikel hin entwickelt und nicht in gleichem Maße auf Bücher anzuwenden sind. Dass aber nicht nur in Bezug auf exponierte Positionen (Universitätsleitungen, Institutsleitungen), sondern selbst in Zitationsstatistiken geschlechtsbezogene soziale Ungleichheiten zum Tragen kommen (Stichwort Gender Citation Gap) wird im Wissenschaftsjournalismus nicht mitreflektiert. Man glaubt an die Objektivität von Zahlen. Man vertraut der wissenschaftlichen Reputationsordnung fast blind.

Vielfach wird darüber hinaus auch die aus der Wissenschaft bekannte Homosozialität in der Interaktion zwischen Journalisten und Wissenschaftler weiter fortgeführt. Gerade für Wissenschaftsjournalisten sind gute Kontakte zu renommierten bzw. machtvollen Experten ein entscheidender Wettbewerbsvorteil. Man kennt sich, man kann sich wechselseitig aufeinander verlassen und so sind es häufig die immer gleichen Experten, die in den Massenmedien erscheinen. Das alles kennen wir auch aus anderen journalistischen Feldern. Bei aller Selbstreflexivität des Wissenschaftsjournalismus und zahlreichen ausgezeichneten Recherchen – für Machtfragen ist er hierzulande nahezu blind. Investigativer Wissenschaftsjournalismus, sofern er unter den bekannten prekären Bedingungen existiert, beschränkt sich dann auf den Nachweis von wissenschaftlichen Fehlern oder ökonomischen Interessenskonflikten. Fehler im System werden entweder nicht gesehen oder ausgeblendet [ii].

Männliche Expertendämmerung

Wenn Jana Hensel in der ZEIT einen Beitrag unter dem doppeldeutigen Titel „Die Krise der Männer“ veröffentlicht, um auf die Gefahr eines konservativen Rückschlags der Gleichberechtigung in Krisenzeiten hinzuweisen, müsste die Lektüre selbst in der Medienbranche eigentlich ein regelrechtes Erweckungserlebnis herbeiführen. Ihre Beispiele sind so bezeichnet, weil sie die „männliche Expertendämmerung“, die von den Medien orchestriert wird, in ihrer Absurdität nur allzu deutlich machen.

Die öffentliche Wahrnehmung scheint jedoch eine andere, wirft man einen Blick auf die 717 (!) Kommentare (Stand: sieben Tage nach Erscheinen des Artikels). Wieviel Hate-Speech der Autorin in diesen Kommentaren entgegenschlägt, ist unfassbar. Für Hensel nichts Neues, war sie doch diejenige, die auf Twitter vor einem Monat nur kurz die rhetorische Frage stellte:

Was sie daraufhin erntete, war ein veritabler Shitstorm, wie sie in ihrem Artikel kurz erwähnt. Journalisten und Journalistinnen im Speziellen müssen heute bekanntlich vieles aushalten, Feminismus bleibt gefährlich.

Kritik an der fehlenden Repräsentation von Frauen in der Leopoldina-AG

Für die breite Öffentlichkeit scheint aber die Leopoldina-Stellungnahme nun einen augenöffnenden Effekt in Fragen der Diversität im Nexus von Wissenschaft und Politik zu haben. Die viral gewordene Kritik an der AG-Zusammensetzung 24:2 (Männer zu Frauen) veranlasst sogar manch freien Journalisten dies als wissenschaftspolitisches Problem zu markieren. Dabei geht es in der hauptsächlich bei Twitter formulierten Kritik nicht um eine Bekämpfung der systemischen Ursachen oder Effekte für Wissenschaft oder Politik, sondern vielmehr um den speziellen Fall der konkreten Empfehlung der Leopoldina-Arbeitsgruppe zur Exit-Strategie, Schulen stufenweise zu öffnen und Kitas bis zu den Sommerferien geschlossen zu halten. Alten weißen Männern, aus deren Feder diese Empfehlung mehrheitlich stammt, wird somit per se die Kompetenz abgesprochen, die Sorgen und Nöte von Familien im Zuge des Shutdowns gleichsam mitzureflektieren. Und in der Tat, darauf hatte ich ja bereits hingewiesen, ist eine solche Option für A und nicht für B oder C an dieser Stelle nicht argumentativ begründet, weder lebensweltlich, noch und das halte ich für problematischer, auch nicht wissenschaftlich. So erscheint eine solche Empfehlung in jeder Hinsicht realitätsfern.

Ihr sozialwissenschaftliches Manko betrifft jedoch nicht allein die Frage der Kinderbetreuung, sondern im Prinzip die gesamte, schnell zusammengeschusterte Stellungnahme, deren inhaltliche Leerstellen nur weitaus weniger offensichtlich sind, aber selbst in der Frage der Wirtschafts- und Finanzpolitik und deren Konsequenzen ebenso gendersensible Aspekte betrifft. Dass die Folgen der Krise sozial ungleich verteilt sind, sollte jedem Gesellschaftswissenschaftler klar sein. Dafür muss er weder Frau noch Geschlechtersoziologe sein. Aus der sozialen Positionierung erwächst nicht automatisch die entsprechende wissenschaftliche Expertise, wie einige Reaktionen das zu suggerieren scheinen, und umgekehrt entstehen wissenschaftliche Standpunkte auch nicht vollkommen unabhängig von sozialen Positionierungen, wie Paula-Irene Villa nochmal in Ihrem Kommentar klarstellt und vor einem „positionalen Fundamentalismus“ warnt. Wissenschaftlich und gesellschaftspolitisch irritiert gleichermaßen, wie man in einer solchen Stellungnahme die bereits vorliegenden zahlreichen Befunde aus der Geschlechtersoziologie nahezu ignorieren kann, wenn es dabei um die Abfederung der gesellschaftlichen Folgekosten gehen soll.

Die Kritik fehlender Diversität dieser wissenschaftlichen Arbeitsgruppe aber allein an diesem speziellen Passus der Schulöffnung (vs. Kitaschließung) aufzuhängen, greift nicht nur zu kurz, sondern ist auch in gewisser Weise fatal, denn dadurch werden traditionelle Geschlechterrollen indirekt nur noch weiter zementiert. So muss man selbst die an der Leopoldina-Stellungnahme entbrannte Kritik an der ungleichen Repräsentation von Frauen als Ausdruck dessen lesen, was Hansel als konservativen Rückschlag der Gleichberechtigung in Krisenzeiten beschrieben hat.

Der Aufstand der Frauen

Weil man soziologisch sicher sagen kann, dass die Folgen der Corona-Krise sozial ungleich verteilt sind und Frauen schon jetzt die Hauptlast tragen müssen, steht ihrem Protest nur der Weg nach vorne bereit. In dem Zusammenhang muss man den Kommentar zur Leopoldina-Stellungnahme lesen, vielmehr ein offener Brief kurz vor der Regierungsentscheidung über mögliche Lockerungen. Dieser enthält das Plädoyer, nicht die jüngsten Kinder pauschal im Lockdown verharren zu lassen, sondern auch für sie differenzierte Betreuungslösungen zu erarbeiten, um insbesondere Frauen zu entlasten. Wichtiger Einwand zum richtigen Zeitpunkt oder wie Armin Nassehi, externes Mitglied eben jener Arbeitsgruppe, auf einen ähnlich argumentierenden Beitrag einer der Unterzeichnerinnen im Tagesspiegel antwortet:

Absender dieser Stellungnahme zur Stellungnahme ist wiederum die Wissenschaft, genauer die weibliche Seite der Wissenschaft, denn sie wurde von 43 Professorinnen unterschrieben. Wiarda, der einen wissenschaftspolitischen Blog betreibt, titelte: „Die Mahnung der 43“ und weiter heißt es im Untertitel „Erhört wurden sie nicht – oder doch ein bisschen?“. Die eigentliche Tragik jener Intervention liegt jedoch ganz woanders – und sie verweist wiederum auf das zuvor benannte Gleichstellungsproblem in der Wissenschaft.

So wichtig eine politische Einlassung in dieser Sache auch ist, sie sollte eigentlich auch ohne Autoritätsnachweis qua Professorentitel auskommen müssen. Der Einwand hätte ebenso von den 43 einflussreichsten Frauen Deutschlands oder den 43 einflussreichsten Männern mitunterschrieben werden können, von den Grünen, der GEW, der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen oder 1.000.000 Eltern. Dass Männer in diesem Problemkontext auch als Betroffene empirisch vorkommen können, wird qua Autorschaft gewissermaßen negiert – ein Repräsentationsproblem, nur mit umgekehrten Vorzeichen, eine Reaktion auf das Vorgehen der Leopoldina. Als wissenschaftliches Statement bei einer geplanten schrittweisen Öffnung der Bildungseinrichtungen nun gerade nicht die Kitas als letztes zu öffnen, findet es Eingang in den öffentlichen Diskurs, doch es ist primär eine für notwendig erachtete politische Intervention, da die Hauptlast für den Wegfall der institutionellen Betreuung die Frauen tragen und gerade bei den jungen Kindern der Betreuungsaufwand am höchsten liegt.

Die Tragik aber ist: Dem Anspruch auf Gleichstellung in der Wissenschaft leistet eine solche Intervention einen Bärendienst. Die implizit vermittelte Botschaft dieser Einlassung lautet: Wer Frauen in der Wissenschaft beruft, muss damit rechnen, dass sie ihre Position nicht ausfüllen, weil sie sich um die Kinder kümmern müssen und falls sie zum Forschen kommen, dann nur über solche ‚Frauenthemen‘. Wenn derartige Gleichsetzungen und Zuständigkeiten markiert werden, ist es weniger verwunderlich, dass man noch heute als Frau in Berufungsverfahren mit Fragen irritiert werden muss wie „Sie haben ja ein Kind. Haben Sie denn auch zu Hause einen Mann, der Ihnen den Rücken freihält?“ Die sozialen Abgründe der Wissenschaft sind tief, einige davon geraten wie so vieles andere auch in der Krise ans Tageslicht. Mitunter legen Wissenschaftler selbst den Blick frei auf die gelebte Rollenverteilung:

Bei aller gebotenen Kritik an der fehlenden Diversität der Leopolidina-Arbeitsgruppe suggeriert deren kritische Kommentierung von ausschließlich weiblichen Professorinnen, dass Frauen in der Wissenschaft sich quasi naturwüchsig, exklusiv und fast ausschließlich mit weiblich besetzen Themen wie Care-Work beschäftigen. Indirekt wird damit die Tatsache einer immer noch häufig anzutreffenden einzigen Alibifrau in den Vorständen wissenschaftlicher Institutionen eher legitimiert als aufgebrochen – denn schließlich hat die Wissenschaft ja auch noch viele andere Themen darüber hinaus abzudecken, die dann eben von Männern zu übernehmen sind.

Dabei sind die Hinterbühnen der Wissenschaft (und entscheidender Gremien) normalerweise dem öffentlichen Blick entzogen. Häufig hört man, dass Gleichstellungsfragen hierzulande doch inzwischen längst geklärt seien, schließlich habe man eine Bundeskanzlerin und eine Forschungsministerin. Dass die Politik und ausgerechnet die CDU zum Teil progressiver in der Anwendung von Gleichstellungsstandards ist als die Wissenschaft, deren machtvollstes Gremium, die Deutsche Forschungsgemeinschaft erst in diesem Jahr mit der Medizinerin Becker die erste Frau an ihre Spitze gewählt hat, steht auf einem anderen Blatt. Doch im Großen wie im Kleinen, in der alten und jungen Generation, unter Männern wie auch Frauen herrscht weiterhin der Irrglaube an die Meritokratie der Wissenschaft vor, in der das Geschlecht keine Rolle spielt, wenn es um Reputationsbildung und Karrieren geht. Es ist der gleiche Autoritätsglaube, der Journalistinnen und Politikerinnen dazu verleitet, akademische Titel mit substanziellen Inhalten zu verwechseln. 

Journalistische Kritik an der Wissenschaft

Aber auch innerhalb der Medien scheint die aktuelle Krise auf den ersten Blick als Kontrastmittel zu fungieren, um die Meinungen von Experten kritischer als sonst zu hinterfragen. Vor wenigen Tagen erschien ein Beitrag in der FAZ, in der sich ihr ehemaliger Herausgeber Werner D’Inka über die Kritik an den Medien durch sogenannte Experten echauffiert. Und in der Tat, wenn man die Kritiken einzelner Medienforscher hier dezidiert vorgeführt bekommt, mag man ihrem Autor in Teilen gerne rechtgeben – pauschale Urteile wie „Systemversagen des Journalismus“ (Eurich) sind nicht haltbar. Doch bei dieser losen Aufzählung an Positionen der (mehrheitlich emeritierten) Professoren kommt erneut die Rückfrage auf:

Gibt es unter M e d i e n f o r s c h e r n eigentlich auch Frauen oder ist das ein männlicher Ausbildungsberuf?

Ausgewiesene Medien- und Journalismusforscherinnen gibt es selbstverständlich, doch offenbar wurden sie nicht als Gastautorinnen von FAZ & Co. geladen, zumindest ihre Analysen von D’Inka nicht explizit erwähnt.

Doch die hier wirkenden Selektionsmechanismen sind sogar noch komplizierter, als auf den ersten Blick vermutet. Markus Pössel machte mich drauf aufmerksam, dass der Artikel von D’Inka diese Sammlung an akademischer Medienkritik vermutlich auf einen nicht explizit genanntes Dossier von Stephan Russ-Mohl gestützt hat, der hier wiederum eine lose Menge an Gastbeiträgen, Blogeinträgen und Interviews aus der Medienforschung per Crowdsourcing listet und verlinkt hat.

Jetzt mit Blick auf das Original erscheint nun ironischerweise selbst eine Pauschalkritik wie die des „Systemversagens des Journalismus“ fast als berechtigt, wenn uns D’Inka als Leser_in glaubhaft machen will, dass diese Kritik von einem echten Medienforscher stamme, den er als emeritierten Professor der TU Dortmund vorstellt. Dieser Herr Eurich aber scheint sich nun nach seiner Emeritierung ganz seiner Tätigkeit als Kontemplationslehrer und dem „Erkennen des umfassenden Weltzusammenhangs“ auf einem eigenen Blog zu widmen, dem auch das Zitat entnommen ist.

Hier wird also entgegen jeder journalistischen Leitlinie ein Pappkamerad aufgebaut, um die Medienschelte pauschal an die Medienforschung zurückzuspielen. Noch gravierender fällt aber die negative Auswahl von D’Inka ins Gewicht, denn anstelle kritische Reflexionen nur abzuwehren, böten einige der Analysen durchaus Gelegenheit zu einer wertvollen journalistischen Selbstreflexion in der aktuellen Krisenkommunikation. Hervorzuheben ist hier insbesondere eine in dem Dossier gelistete Analyse von Daria Gordeeva – ohne Professorentitel, aber mit interessanten empirischen Ergebnissen. Ihre Inhaltsanalyse der Corona-Berichterstattung führt zu der These, dass die Kriegs- und Feindrhetorik der von ihr untersuchten Medien uns – wie in einem richtigen Krieg – in die „schützenden Arme der Exekutive“ treibe.

Inhaltliche Relevanzbestimmungen in die eine oder andere Richtung wurden in dieser Abrechnung offenbar missachtet. D‘Inkas Verteidigung der journalistischen Selektivität von Experten (!) gegen die verbreitete Kritik an den immer gleichen Gesichtern, liest sich somit eher wie eine politische Positionsbestimmung, wenn er sagt, „es sei in der Virologie eben wie in der Medienwissenschaft, auch da gibt es Vertreter, die mehr zu sagen haben, das Gehör verdient, als andere.“ Die Bewertungsmaßstäbe dessen bleiben leider unreflektiert.

Dieses vorläufig letzte Beispiel illustriert einmal mehr, dass eine Beachtung von Diversität und Geschlechtergerechtigkeit nicht etwa gegen Qualität, sondern für Qualitätsgewinne in der Wissenschaft wie im Journalismus oder der Politik spricht. Wenn schon in professionellen Kontexten offenbar immer noch kein ausreichendes Bewusstsein für diesen Aspekt vorhanden ist, wäre genau jetzt eine passende Gelegenheit für einen Aufstand des Publikums im Schein der ‚männlichen Expertendämmerung‘. Oder wie Jagoda Marinic betont, jetzt ist die Zeit für Protest, um Gleichstellung öffentlich einzufordern, damit die Folgenkosten der Krise nicht am Ende einseitig verteilt werden. Die Wissenschaft und die Soziologie im Besonderen können auf mögliche Pfade hinweisen, doch es ist die Gesellschaft, die sie beschreiten muss.

 

Update 30. April 2020

Ein Satz des bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder, der sich derzeit als Kanzlerkandidat handeln lässt, geistert wie ein Mantra durch den öffentlichen Diskurs: „In der Krise wird oft nach dem Vater gefragt.“ Genau dieses Gefühl scheinen Politik, Medien und Wissenschaft gleichermaßen zu verspüren, wenn man sich nur umschaut, wer sich aktuell als Krisenbewältiger öffentlich geriert und selbst ohne bestimmtes Amt oder Funktion noch besondere Beachtung findet. Aber Moment, ist es nicht viel ergiebiger nach der Mutter in der Krise zu rufen, im Wissen darum, dass sie sich kümmern wird? Im Forbes-Magazin erschien just ein Artikel über die Länder der Welt, in denen die Corona-Krisenbewältigung am besten funktioniert und was eint sie? Richtig, eine Frau an der Spitze.

Eine lose Erinnerung flackert in diesem Zusammenhang auf, und zwar an meine allererste Hausarbeit im Rahmen meines Soziologiestudiums an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Dort war zu dem Zeitpunkt die bundesweit erste und einzige Katastrophenforschungsstelle angesiedelt, gegründet 1987 von Lars Clausen und später geleitet von Wolf R. Dombrowsky. Bei Dombrowsky schrieb ich dann meine erste soziologische Arbeit, die den Titel trug: „Geschlechtsspezifische Unterschiede im Verhalten bei Naturkatastrophen“. Gegenstand war eine Metaanalyse verschiedener empirischer Fallstudien zu Krisensituationen wie der Hungerkatastrophe im Sahel oder Wirbelstürmen in Bangladesch. Meine Schlussbemerkung hat im Zusammenhang mit Söders Aussage nun fast anekdotischen Wert und sie lautete:

„Normalerweise besteht das Klischee, das größtenteils durch Katastrophenfilme aufrechtgehalten wird, daß der Mann die Stärke und den Helden personifiziert. Frauen und Kinder werden innerhalb einer Katastrophensituation zuerst gerettet. Doch dieses Muster läßt sich den diskutierten Beispielen nicht entnehmen. Vielmehr ergreifen Männer eher die Flucht oder bemühen sich lieber ihr eigenes Leben zu retten.“

First lessons learned aus dem Soziologiestudium: Empirie gegen Klischees zu setzen. Mehr Soziologie würde auch dem öffentlichen Diskurs mitunter nicht schaden.


[i] Der Hinweis auf das Dokument hinter den Zahlen stammt von Magdalena Beljan.

[ii] Um nur ein prägnantes Beispiel an dieser Stelle herauszugreifen, lohnt der Blick auf „Die Stunde der Virologen“.

Ein Gedanke zu „Diversitätsprobleme im Expertentum: Die Coronakrise als Kontrastmittel für Schieflagen im Wissenschaftssystem“

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