Die Selbstreflexion des Bloggens dürfte zumindest hier erst einmal ‚durch’ sein, da stimme ich dem letzten Kommentator zu, obwohl noch lange nicht alles Wesentliche hierzu gesagt ist. Nur noch zum Abschluss zwei Bemerkungen, die mir wichtig sind. Die erste ergibt sich aus E-mails eines Bloggers, die ich zu meinem Blog erhalten habe, die zweite versucht, einen Eindruck zu verdichten, den ich bei der Lektüre der Kommentare hatte:
1. Manche haben meine Bemerkungen über flapsige Formulierungen als eine, wenn auch versteckte, Drohung gelesen. Die Übersetzung müsste dann lauten: ‚Wenn Ihr schlecht über mich schreibt, dann bewerte ich, Jo Reichertz, eure Anträge schlecht’. Es tut mir Leid, dass manche meine Bemerkung als Drohung verstanden haben (und in der Tat kann es ‚objektiv‘ eine Lesart sein – was ich allerdings übersehen habe). Hätte ich länger über meine Worte nachgedacht, hätte ich es anders formuliert. In der Sache wollte ich das genaue Gegenteil sagen: Als jemand, der auch mal gerne auf Tagungen flapsig formuliert, habe ich mehrfach erfahren müssen, wie nachtragend Kollegen/innen sein können. Blogs sind in gewisser Hinsicht Äquivalente zu Tagungen. Ich wollte nur das Problem sichtbar machen, dass Worte, da sie soziale Handlungen sind, Folgen haben – damit jeder Blogger, jede Bloggerin weiß, was er/sie tut, wenn er/sie etwas tut. Das war sicherlich ein wenig (zu viel) Patronising. Aber wenn man weiß, was manche mit Äußerungen anstellen, dann kann man auch verantworten, was man geschrieben hat und kann mit den Folgen leben. Dass der Blog ein Medium für folgenlose Äußerungen ist, glaube ich nämlich nicht. Jede Kommunikation hat Folgen.
2. Blogger/innen kommunizieren (so der Eindruck, der bei mir im Laufe der letzten Tage entstanden ist) unabhängig davon, ob sie den Blog als Arbeits- oder als Ausdruckmedium praktisch benutzen, zwei sich einander widersprechende Aussagen. Die erste Aussage lautet ‚Blogäußerungen bedeuten etwas (deshalb sind sie ernst zu nehmen)’ – weshalb Blogger gleich die ganz großen Werte für sich ins Feld führen (Demokratie, Kreativität, Neues) oder sich anspruchsvoller Wortwahl bedienen. Die zweite kommunizierte Aussage lautet jedoch: ‚Blogäußerungen bedeuten nichts (deshalb muss man sie nicht ernst nehmen)’- weshalb reklamiert wird, die Äußerungen seien ‚spontan’ zustande gekommen, nicht so durchdacht, sondern noch unfertig, weshalb man sie nicht auf die Goldwaage legen sollte. Weil beide Aussagen ins Feld geführt werden, gleicht die Kommunikation über das Bloggen leicht dem Hasel-und-Igel-Spiel.
Doch nun wirklich zu den angekündigten Überlegungen zur aktuellen Lage der empirisch arbeitenden Sozialwissenschaft:
Die klassischen Methoden, mit denen die Sozialforschung (qualitative wie quantitative) versucht, sich Wissen über bestimmte Praxisfelder zu verschaffen, sind neben der allgemeinen Reflexion und dem Studium der Fachliteratur vor allem das Interview, die (Feld-)Beobachtung, die audio- oder audiovisuelle Aufzeichnung ablaufender Interaktion und Kommunikation und die Artefaktanalyse. Experimente sind (trotz Garfinkel) weitgehend außer Mode gekommen. Sekundäranalysen findet man fast nur in der quantitativen Sozialforschung – und auch dort nicht oft.
Das Wissen darüber, auf welche Weise man welche Art von Daten von was erhebt und auswertet, das ist weitgehend in der fachlichen Diskussion in den 1970er Jahren entwickelt worden. Entsprechende Kanonisierungen und Praxisratgeber finden sich in fast allen gängigen Einführungen in die Sozialwissenschaft. Daran hat sich in den letzten Jahren wenig geändert (http://www.uni-due.de/imperia/md/content/kowi/qualitative_sozialforschung_lucius.pdf). Was sich aber geändert hat, das ist die von den Sozialwissenschaftlern untersuchte gesellschaftliche Praxis, auch weil sie ihre Erfahrungen mit der Sozialforschung gemacht und sich auf diese eingestellt hat und es teilweise auch vermag, diese für die eigenen Zielsetzungen zu instrumentalisieren. Die Frage ist deshalb, ob die heutige Sozialforschung noch zu der heutigen gesellschaftlichen Wirklichkeit passt.
Diese Frage und die darin implizit enthaltene These möchte ich hier am Beispiel der Feldbeobachtung, also einer besonders guten Methode der qualitativen Sozialforschung, erläutern. Noch mehr gelten diese Bemerkungen dann, wenn man nicht nur beobachten, sondern auch audio-visuelle Aufzeichnungen machen möchte. Allerdings werde ich auf diesen Bereich hier nicht eingehen.
Grundlage dieser Überlegungen sind meine Erfahrungen, die ich in den letzten 30 Jahren mit Feldforschungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen (Polizei, Fluglinien, Automatenindustrie, Call-Center, Medien, Behörden) gemacht habe bzw. nicht machen konnte – weshalb sich meine Überlegungen vor allem (aber nicht nur) auf die Untersuchung von Organisationen beziehen. In meinen folgenden Blogs werde ich dann versuchen, weitere aktuelle Probleme der vor allem empirisch arbeitenden qualitativen Sozialforschung zu beschreiben.
Ein bestimmtes Praxisfeld als Wissenschaftler/in beobachten zu wollen, das ist die eine Sache – es auch betreten zu können, die andere. Das weiß jeder, der es jemals versucht hat. Das gilt nicht nur, wenn man die Praxis polizeilicher Arbeit teilnehmend beobachten will, sondern auch, wenn man sich für die Praxis journalistischen, politischen, gewerkschaftlichen, schulischen, ärztlichen, pädagogischen etc. und natürlich auch wissenschaftlichen Arbeitens interessiert. Das gilt natürlich auch, wenn man die konkrete Arbeit der Investment- und Kundenbanken beobachten möchte oder die Arbeit des Militärs oder die privater Sicherheitsfirmen. Das gilt also vornehmlich, wenn man die Praxis von staatlichen wie privatwirtschaftlichen Organisationen untersuchen möchte.
Denn die Vertreter dieser Organisationen sind sehr erfindungsreich, sich teilnehmende Beobachter/innen vom Leib zu halten. Sehr viel lieber geben sie lange Interviews, die schon auf den ersten Blick als PR-Aktivitäten zu erkennen sind. Und oft lassen sich Wissenschaftler/innen (ohne es zu bemerken) dazu benutzen, PR für die untersuchte Organisation auf den Markt zu bringen.
Nun war es noch nie ganz leicht, als beobachtender Wissenschaftler/beobachtende Wissenschaftlerin an der Lebenspraxis anderer Menschen für eine gewisse Zeit teilzunehmen. Weshalb sollte man einem Fremden auch Einblicke in das eigene Leben oder das Leben einer Organisation gewähren? Noch sehr viel schwieriger wird die teilnehmende Beobachtung in Feldern, in denen (a) die Handlungspraxis durch die Beobachtung erheblich behindert wird (z.B. Intensivstationen, Polizeiarbeit, Privatleben etc.) oder (b) wenn in den Feldern Normen, Tabus oder Gesetze verletzt werden (z.B. organisiertes Verbrechen, Drogenszene, Unternehmen etc.) oder (c) wenn die Abwesenheit von Beobachtung für die Handlung konstitutiv ist (z.B. Sexualität, Geheimrituale etc.) oder wenn in den Feldern bestimmten Personengruppen (z.B. Andersgläubige, Erwachsene etc.) systematisch ausgeschlossen sind. Weiter verschärft wird das Zugangsproblem, wenn man sich Feldern nähern will, in denen die Feldinsassen über gesellschaftliche Macht verfügen. Es ist wohl kein Zufall, dass die Sozialwissenschaft zwar schon fast alle randständigen Gruppen genauestens und teils mehrfach untersucht hat, von den Zentren gesellschaftlicher Macht (Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Banken, Gewerkschaften, Militär etc.), jedoch so gut wie nichts weiß, da ihr in der Regel ein genauerer Einblick in diese Felder verwehrt wird.
Feldforschung ist nun (entgegen der Intuition, Organisationen hätten sich in den letzten Jahrzehnten gegenüber der Gesellschaft geöffnet) in den letzten Jahrzehnten nicht leichter geworden – eher schwieriger. Dies vor allem deshalb, weil die Organisationen, die man als Wissenschaftler/in teilnehmend beobachten will, sich immer öfter einer Beobachtung verweigern. Dass (mittlerweile so viele) Organisationen sich sträuben, sich über einen längeren Zeitraum bei der täglichen Arbeit zuschauen zu lassen, hat sicherlich auch etwas mit der Fülle von Feldstudien zu tun, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden – also mit dem Erfolg der qualitativen Methoden in den Sozialwissenschaften.
Denn nicht immer waren die untersuchten Organisationen mit der Beobachtung selbst und/oder mit den Ergebnissen teilnehmender Beobachtung besonders glücklich. Manche fühlten sich (zu Recht oder zu Unrecht) falsch verstanden und dargestellt. Aber immer galt und gilt: Wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse bleiben nicht (mehr) im universitären Kontext, sondern werden von Freund wie Feind in den gesellschaftlichen Diskurs eingespeist und dort für politische Auseinandersetzung oder Verteilungskämpfe genutzt – weshalb in der Regel Forschung heute Folgen für das Untersuchungsfeld hat. Und da diese Folgen nicht immer im Interesse der Untersuchten sind und auch nicht sein können, schließen sich die Untersuchungsfelder zunehmend ab – wenn auch freundlich. Nur manchmal erhält man, wenn die freundlichen Hinweise nicht fruchten, Schreiben von Anwaltskanzleien, die eine Veröffentlichung von Untersuchungsergebnissen unter Androhung von hohen Geldstrafen unterbinden wollen – was mir in meiner Forschungspraxis zweimal passiert ist.
Aber der Hauptgrund für die massive Zurückhaltung von Organisationen ist aus meiner Sicht ein anderer: Es ist die Allpräsenz der Pressestellen und damit einhergehend die Allpräsenz der Public Relations, die den Feldforschern/innen die Zugangsarbeit so schwer macht. Noch in den 1970er und 1980er Jahren gab es in vielen Organisationen eine ganz klare und oft auch offizielle Missbilligung von wissenschaftlichen Feldstudien – man wollte nicht, dass Wissenschaftler bestimmte Felder betreten. Aber mit etwas Geschick, konnte man manchmal mutige Unternehmer oder Behördenleiter davon überzeugen, dass eine wissenschaftliche Untersuchung ihres Praxisfeldes auch für sie von Vorteil ist.
Heute, in Zeiten der allgegenwärtigen freundlichen Pressestellen, gibt es keine offizielle Missbilligung mehr, sondern freundliche Schließungen. So hört man am Telefon oder liest man in der E-Mail oder in dem prachtvoll gestaltetem Schreiben (alles in sehr freundlichem Ton) die offizielle Leitlinie: „Wir als Pressestelle von XY sind offen für eine demokratische Öffentlichkeit und somit auch für die Wissenschaft. Beide können uns gerne beobachten.“ Offiziell oder anders: Auf der Vorderbühne ist es also leichter geworden. Sobald es allerdings ernst wird, also sobald der Feldaufenthalt allerdings konkret umgesetzt werden soll und man über den Beginn spricht, zeigt sich dann regelmäßig, dass „zum größten Bedauern“ bestimmte rechtliche Regelungen oder Akteure (besonders beliebt: Datenschutz, Betriebsrat, Versicherungsschutz) einer Feldbeobachtung entgegenstehen.
Diese neue ‚freundliche Schließung’ der Organisationen ergibt sich ganz wesentlich daraus, dass (fast alle) Organisationen im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen und dass die Unternehmen und Organisationen aus verständlichen Gründen Public Relations, also Öffentlichkeitsarbeit betreiben – was heißt: Sie arbeiten im Sinne einer überzeugenden Corporarte Identity bewusst und gezielt an ihrem Bild in der Öffentlichkeit. Denn Public Relations bestehen nun nicht nur darin, der Öffentlichkeit auf möglichst vielen Kanälen zu kommunizieren, was man gerade tut, sondern dass man dieses auch gut tut. Wichtig dabei ist: Die Botschaft soll stimmig sein, niemand soll etwas anderes kommunizieren, alle sollen das Gleiche sagen.
Das ist aus Sicht der PR auch vollkommen in Ordnung. Denn es gehört zur ‚Natur’ der PR, alle Informationen über das eigene Haus, die von innen nach außen gehen, daraufhin zu kontrollieren, ob sie für das öffentliche Bild des Unternehmens/der Institution gut oder schlecht sind. Alle Informationen laufen durch diesen Filter. Wenn Wissenschaftler/innen kommen und sich mittels teilnehmender Beobachtung Wissen über das Unternehmen/die Institution erarbeiten, dann gelangt dieses Wissen via wissenschaftlicher Publikation (aus Sicht der PR-Abteilung) unkontrolliert nach außen, also ohne durch den PR-Filter zu laufen. Das ist für jeden PR-Mann eine mittelschwere Katastrophe, die es auf jeden Fall zu verhindern gilt. Da die Unternehmensleitung ein ähnliches Interesse verfolgt wie die PR, bleiben die Beobachter/innen draußen vor der Tür. Die Kunst der PR-Leute besteht nun darin, die Abweisung zu kommunizieren, ohne allerdings beim Beobachter den Eindruck zu erwecken, man wolle sich einer Beobachtung verschließen – denn alleine eine Absage an die Forschung könnte zu einer ungünstigen PR führen. Das schafft ein sehr gutes Klima für eine doppelbödige Kommunikation.
Und damit blieben viele Bereiche gesellschaftlichen Lebens unbekannte Orte . Und zwar vor allem die Bereiche, die für eine soziologische Aufklärung relevant sind – will man Gesellschaft, also auch politisches, wirtschaftliches, ökonomisches, mediales etc. Handeln verstehen und erklären. Ausgeleuchtet werden dann vor allem die gesellschaftlichen Praktiken, die öffentlich vollzogen werden (z.B. Kirchentage, Events etc.), oder die, von denen die Akteure möchten, dass sie öffentlich werden. Nicht nur die Medien, sondern auch die Wissenschaft werden heute gerne für die ‚eigenen’ Zwecke genutzt. Auf diese Weise zeichnet die Gesamtheit sozialwissenschaftlicher Studien ein recht verzerrtes Bild der Gesellschaft, das nicht die beobachteten Akteure, aber viele Soziologen und Soziologinnen für die Wirklichkeit halten.
Hinzu kommt, und das macht die Sache nicht einfacher, dass man in der Sozialforschung immer öfter erst gar nicht eine Beobachtung anstrebt, sondern sich mit Interviews zufrieden gibt – und die dort erzählten Selbstinterpretationen der Befragten mit der Praxis der Befragten verwechselt.
Was in einer solchen Situation zu tun ist, weiß ich nicht wirklich. Ein Mehr an verdeckter Forschung ist auch aus ethischen Gründen nicht die Alternative. Was kann sonst getan werden? Auf jeden Fall sollte man aber bei jeder Forschung in Rechnung stellen (und auch gesondert reflektieren), dass nicht nur die Wissenschaftler/innen mit der Forschungsarbeit strategische Ziele verfolgen.
Wenn Sie darauf hinweisen, dass Organisationen heute der wissenschaftlichen Beobachtung keinen Blick mehr auf die eigene Hinterbühne gewähren, sprechen Sie damit ein gravierendes Problem an. Ich hatte in meinem letzten Kommentar zu einem Beitrag von Armin Nassehi auch die forschungspraktische Bedeutung der Organisationen für ein besseres Verständnis der Rückkopplungsprozesse zwischen den Ebenen Interaktion (Mikro), Organisation (Meso) und Gesellschaft (Makro) betont. Durch Ihren Beitrag ist mir klar geworden, dass ich da als Mitarbeiter in einer nichtwissenschaftlichen Organisation möglicherweise von einer privilegierten Position aus geschrieben habe, da ich Einblicke in organisatorische Abläufe habe, die einem wissenschaftlichen Beobachter größtenteils verwehrt bleiben. Tendenziell hieße das ja, dass soziologische Forschung über die Bereiche, die für soziologische Aufklärung relevant sind, gar nicht mehr möglich ist.
Was kann man dagegen tun? Im Bild von Goffmans Bühnen-Metapher bleibend würde ich folgenden Vorschlag machen: Wer heute einen Blick auf die Hinterbühne von Organisationen werfen möchte, muss den Personaleingang nehmen. Soll heißen, dass Soziologen heute nicht mehr nur forschend und theoretisierend tätig werden und ihre Karriereoptionen ausschließlich an einer Universität sehen können. Sie sollten die Rolle des Wissenschaftlers verlassen und praktisch als Mitglieder in außerwissenschaftlichen Organisationen – aber nicht nur in irgendwelchen gemeinnützigen Vereinen oder NGOs – tätig werden. Wie Handwerker früher nach der Lehre auf die Walz gingen um die Welt zu sehen und Erfahrungen zu sammeln, so müssten Soziologen heute nach dem Studium raus in die Welt außerhalb der Wissenschaft und verschiedene Weltsichten kennen lernen. Statt forschend gleichsam nur daneben zu stehen und zu zuschauen, sollten sie aktiv teilnehmen. Dies könnte zum einen verhindern, dass Soziologen leichtfertig den Selbstbeschreibungen der Beforschten aufsitzen. Zum anderen hätten sie auch die Möglichkeit gesellschaftliche Veränderungen aktiv mitzugestalten indem sie Organisationen Alternativen vorschlagen könnten, die aus Sicht der Organisation auch als solche erscheinen. Mein Eindruck ist, dass sich das Tätigkeitsprofil von Soziologen zu sehr auf eine Zuschauerrolle verengt hat, wodurch die Gefahr gestiegen ist, dass Sozialforscher zu leichtfertig die Selbstbeschreibungen der Beforschten übernehmen ohne diese kritisch zu hinterfragen.
Wenn sich Organisationen durch wissenschaftliche Beobachter nicht mehr in die Karten schauen lassen wollen, dann beschreiben Sie damit eine Folge dessen, was ich als Kampf um die Deutungshoheit des Selbst bezeichne. Wobei mit Selbst sowohl die Selbstreferenz sozialer als auch psychischer Systeme gemeint sein kann. So wie Öffentlichkeit – u. a. auch durch das Internet – heute strukturiert ist, kann (Fremd-)Beobachtbarkeit eine Gefahr für das Image des Beobachteten sein. An dieser Problemstellung setzt dann PR und Öffentlichkeitsarbeit an. Wenn Organisationen befürchten müssen durch eine wissenschaftliche Studie in der Öffentlichkeit schlecht dazustehen, werden sie aus verständlichen Gründen einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit im eigenen Hause nicht zustimmen. Ein Weg wäre, dass die Forscher versuchen diese Bedenken zu zerstreuen und die Relevanz bzw. den Nutzen der eigenen Studie für die untersuchte Organisation deutlich zu machen. Ein anderer Weg wäre der Vorschlag es über den Personaleingang zu versuchen. Gerade wenn Organisationen keinen Wert mehr auf einen externen wissenschaftlichen Blick legen, wird kein Weg an dieser Alternative vorbei führen. Ein weiterer Grund für diesen Weg könnte sein, dass inzwischen auch jede Organisation, die es sich leisten kann, interne Abteilungen für Controlling, Evaluation und Forschung eingerichtet haben. Dadurch befindet man sich als Forscher heute in der unkomfortablen Lage, dass man die Relevanz des durch eine angedachte Studie erzeugten Wissens schon deswegen nicht mehr begründen kann, weil man der jeweiligen Organisation damit nichts Neues mehr mitteilt. Die wissen teilweise schon viel besser über die eigenen Probleme und mögliche Lösungen Bescheid als es das wissenschaftlich erzeugte Wissen eines externen Beobachters noch in Aussicht stellen könnte. Hier lägen dann auch die möglichen Tätigkeitsfelder für Sozialforscher außerhalb der Wissenschaft. Das schließt nicht aus, dass man zu einem späteren Zeitpunkt wieder in den Universitätsbetrieb zurückkehren könnte. Entscheidend dafür wäre aber der vorher gelungene Perspektivenwechsel über den Weg einer Arbeit außerhalb der Wissenschaft. Das könnte die grobe Richtung sein, in die es gehen müsste, wenn man dem Problem Herr werden möchte.
Handelt es sich dabei eigentlich um ein deutsches Problem oder haben Sozialforscher in anderen Ländern auch damit zu kämpfen?
In Ihrem Kommentar weisen Sie darauf hin, dass man als Soziologe/in auch den Personaleingang nutzen könne, also für eine längere Zeit in Organisationen richtig und ernsthaft als Angestellter arbeiten und dort sein Geld verdienen solle. Das hätte allerdings eine Neugestaltung des Berufs- und Ausbildungswegs von Soziologen/innen zur Folge – weshalb ich nicht glaube, dass diese gute Idee Wirklichkeit werden wird. Ich weiß auch nicht wirklich, ob der ‚Soziologe auf der Walz’ eine tragfähige Lösung für das Zugangsproblem bei Organisationen ist. Zutreffend ist aber Ihre Beobachtung, dass sich das Tätigkeitsprofil von Soziologen/innen zunehmend auf die Zuschauertätigkeit verengt hat.
Wesentlich ist auch Ihr Hinweis, dass Wissenschaftler auf der Suche nach Feldzugängen nur noch sehr begrenzt damit argumentieren können, dass eine wissenschaftliche Studie auch zur produktiven Selbstaufklärung und damit auch zur Effektivitätssteigerung der Organisation genutzt werden kann, sie also unentgeltlich relevantes Wissens auch für die Organisation zur Verfügung stellen können. Denn in der Tat verfügen Großorganisationen meist über eigene (wissenschaftliche) Abteilungen für Selbstbeobachtung und Selbstaufklärung. Man benötigt also scheinbar keine Aufklärung von außen mehr. Bei Feldzugangsverhandlungen dann von Seiten der Wissenschaft zu argumentieren, dass die organisationseigenen Beobachtungsabteilungen dazu neigen, die PR-Vorgaben in wissenschaftlich gesetzte Worte umzuformulieren (und damit wertlos zu sein), hilft den Bittstellern aus der Wissenschaft meist nicht weiter, sondern vergräzt die Organisationsverantwortlichen eher. Das, was die Wissenschaft im Austausch für die Feldbeobachtungen zu bieten hat (nämlich die wissenschaftliche Untersuchung der Organisation), verliert also an Wert, was den Zugang zu diesen Feldern weiter erschwert.
Dass die Idee sich als Sozialwissenschaftler auch mal als Angestellter auszuprobieren nicht auf sehr viel Gegenliebe stoßen wird, hatte ich schon vermutet. Ich bin etwas verwundert, dass es nur so wenig Widerspruch gab. Die Idee dahinter war das Oszillieren zwischen Selbstreferenz (Wahrheit) und Fremdreferenz (Umwelt) anders zu gestalten und dass wissenschaftliche Beobachtung allein dafür nicht mehr ausreicht und durch einen Mitgliedschaftswechsel ergänzt werden könnte. Mich würde interessieren was für und gegen diese grundlegende Neugestaltung des Ausbildungs- und Berufswegs von Soziologen spricht. Wenn die Lage wirklich so aussichtslos ist, wie Sie sie beschreiben, ist es vielleicht an der Zeit auch mal unkonventionelle Wege zu diskutieren.
Ihre Idee, dass Sozialwissenschaftler/innen für ihre Studien den Personaleingang nehmen, finde ich sehr interessant, aber nicht einfach zu realisieren. Das hab ich schon gesagt. Schwierig ist aus meiner Sicht auch, dass man nicht so einfach später über eine Organisation publizieren darf. Nicht nur aus ethischen Gründen, sondern auch und vor allem aus rechtlichen. Wenn man als Wissenschaftler eine Unterlassungsaufforderung von einer Rechtsanwaltgemeinschaft erhält, kann einem schnell schummrig werden.
Im rechtlichen/ethischen sehe ich tatsächlich das Hauptproblem und ich meine wie einer meiner Vorkommentatoren, dass dieses Thema interessant ist und vertieft werden könnte. Über ein 2-monatiges Praktikum ist ein Feldzugang oft hervorragend zu erlangen. Jedoch die Publikation birgt zahlreiche Schwierigkeiten.
Und generell, zum Status der Organisationsforschung, man sollte sich vielleicht den Satz einrahmen, der bereits für viele Disziplinen gilt und akzeptiert ist: „all the simple things have been done“! Man kann nach wie vor vieles erforschen, dieses ist jedoch schwieriger zu erschließen (ergo müssen mehr Mittel, mehr Personal in einzelne Projekte investiert werden). Davor scheut die Soziologie oft etwas zurück, fürchte ich.
Ja, Datenschutz und Ethik sehe ich auch als Schranken. Ich hatte gehofft, dass Sie als Forschender und Lehrender noch Schranken sehen, die einer Änderung des Berufsbilds „Soziologe“ entgegensteht. Da ich der BDS-Zeitschrift einen Themenvorschlag machen möchte, würden mich die Meinungen von Wissenschaftsinsidern dazu interessieren (ggfs. auch nicht öffentlich).
Zu 1.: Da ich auf den Einwurf der „flapsigen Formulierung“ eingegangen bin, möchte ich es auch noch einmal korrigierend kommentieren. Es ging mir nicht darum, dass es als Drohung verstanden werden kann, sondern dass es, selbst wenn es wohlwollend gemeint ist, bei Nachwuchswissenschaftlern zu einer Selbstzensur des Schreibens und möglicherweise auch des Denkens kommen kann. Eben weil jede Kommunikation Folgen hat! Deshalb erscheint es mir sinnvoller eitlen Berufssoziologen entgegenzuhalten, dass Inhalte mehr zählen als die Form. Und sollte es tatsächlich keine flapsige Formulierung sein, sondern flapsige Analyse, dann kann man sich ja auch völlig zu Recht, des mangelnden Inhaltes verwehren.
Zu 2.: Mir scheint bei der Bewertung des Bloggens wird immer noch von einem wenig angemessenem Bild ausgegangen. Man sollte wohl nicht die „Selbstinterpretationen“ der Blogger „mit der Praxis der“ Blogger verwechseln. DAS Bloggen gibt es ebenso wenig, wie es die Religion oder die Deutschen gibt. Aber es gibt unzählige Blogger mit verschiedensten Inhalten und Formen des Bloggens. Ob nun Wolfgang Schmidbauer http://www.wolfgang-schmidbauer.de/themen/artikel/ oder http://www.everydaysociologyblog.com/ oder http://kriegsursachen.blogspot.de/ . Neben kurzen Gedanken, die beim Leser jeweils eigene Assoziationen bewirken (jede Kommunikation hat Folgen!), über eingehende Analysen, die ansonsten vermutlich nirgends veröffentlicht würden und wie so häufig für den Mülleimer produziert wären, bieten Blogs alles was der jeweilige Autor möchte. Und es ist hochgradig demokratisch, dass die interessierten Leser selbst entscheiden, was und von wem sie etwas lesen wollen. Peer-review bedeutet zu einem nicht geringen Grad auch immer Produktion von Mainstream-Inhalten.
Und wem die Qualität des Geschriebenen nicht gefällt, kann den jeweiligen Blog auch mit seiner Missachtung strafen.
Und was als Analyse zum Bloggen behauptet wird, gilt gleichsam für Zeitschriften und Bücher (zumal in der Soziologie): „weshalb [sie] gleich die ganz großen Werte für sich ins Feld führen (Demokratie, Kreativität, Neues) oder sich anspruchsvoller Wortwahl bedienen.“
Ist die Anzahl von Zeitungen und Zeitschriften, die nicht im Staatsbesitz sind, nicht auch Anzeiger für den Grad der Differenzierung, Funktionsteilung und gleichsam auch Demokratisierung einer Gesellschaft? Hat nicht die Möglichkeit Bücher zu produzieren, einen erheblichen Demokratisierungsschub in der Geschichte begründet? Nehmen nicht wenige Soziologen für sich in Anspruch, nur weil sie ihren zehnten Artikel im Jahr in einer peer-reviewd-Zeitschrift untergebracht haben, etwas Neues, gar Kreatives durch anspruchsvolle Wortwahl geschaffen zu haben?
Es steht außer Frage, dass es im Internet und gerade bei Blogs Unmengen an Trivia gibt. Aber wenn das der Preis ist, um eben auch herausragende Arbeiten und Gedanken im Netz zu finden, die sonst niemals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gewesen wären, dann ist es das und den damit verbundenen Aufwand m.E. wohl wert.
Zum Beitrag selbst:
Mir scheint eine nicht unwesentliche Methode bei der Anführung zu fehlen. Mit der Dokumentenanalyse (und verwandter Methoden) ist zumindest teilweise ein Zugang zu esoterischen Organisationen möglich. Dies setzt selbstverständlich das entsprechende Material voraus, aber solch klandestine Organisationen, die überhaupt kein auszuwertendes Material produzieren, wären der Wahrnehmung und damit der Wirklichkeit ja eh entzogen. So ist es durchaus möglich an interne Anweisungen von z.B. Polizei und Militär zu kommen. Man kann auch die Lehrbücher entsprechender Organisationen auswerten, vor allem im diachronen Zeitvergleich, um die Veränderungen der Selbstwahrnehmung und der Aufgabenbewältigung zu analysieren. Ohne einen Abgleich mit der Praxis, wäre allerdings hier die Gefahr des Kurzschlusses vom Sollen aufs Sein zu schließen recht groß.
Allerdings sind die Selbstwahrnehmung, die Selbstrechtfertigungen und das Erkennen von Einstellungen, Empfindens- und Verhaltensmustern durch schriftliche Äußerungen von Protagonisten der entsprechenden Organisationen doch recht häufig zugänglich. Es gibt heute kaum eine Organisation, die nicht über Online-Foren oder Mailinglisten verfügt. Es gibt Foren für Polizisten, Soldaten, Feuerwehrangehörige, Hooligans – ja angeblich sogar Terrororganisationen verfügen – dem offiziellen Narrativ folgend – über Onlineforen. Bekommt man dort Zugang erhält man Massen an auswertbaren Aussagen.
Hier gilt dann selbstverständlich auch wieder „die dort erzählten Selbstinterpretationen der Befragten [nicht] mit der Praxis der Befragten“ zu verwechseln. Aber wer Foren „lesen“ kann, wird immer auch Selbstoffenbarungsaspekte, Beziehungsaspekte und Appellaspekte neben den scheinbaren Sachinhalten entdecken.
Das Alles kombiniert mit Beobachtungen vermag schon ein genaueres Bild ergeben. Die teilnehmende Beobachtung ist dann vielleicht gar nicht mehr nötig, zumal nicht möglich.
Gerade im Bereich des Militärs ist die teilnehmende Beobachtung auch kein Garant mehr, Wirklichkeiten zu erleben. So werden „embedded Journalists“ in Schein-Gefechte geführt, ganze Szenen konstruiert, um einen Anschein von Krieg für Journalisten und Zuschauer zu erwecken. Wie soll ein Soziologe hier zwischen Fiktion und Realität unterscheiden können?
„Es ist die Allpräsenz der Pressestellen und damit einhergehend die Allpräsenz der Public Relations, die den Feldforschern/innen die Zugangsarbeit so schwer macht.“
Public Relations ist ja aber auch ein sehr freundlicher Begriff. Quasi bereits der erste Erfolg der Public Relation, sich als eben solche zu bezeichnen. Edward Bernays, der wohl nicht ganz zu Unrecht als der Begründer der Public Relation gilt, schrieb 1928 in „Propaganda – Die Kunst der Public Relation“:
„Moderne Propaganda ist das stetige, konsequente Bemühen, Ereignisse zu formen oder zu schaffen mit dem Zweck, die Haltung der Öffentlichkeit zu einem Unternehmen, einer Idee oder einer Gruppe zu beeinflussen.“ (S.31)
„Der grandiose Erfolg der Propaganda im Krieg hat den Weitsichtigen die Augen geöffnet, für die Möglichkeiten der Manipulation der Massenmeinung in allen bereichen des Lebens. Im Krieg hatten die amerikanische Regierung und diverse patriotische Vereinigungen eine vollkommen neue Methode zur Gewinnung öffentlicher Akzeptanz angewandt. Sie sprachen den Einzelnen nicht nur über sämtliche Kanäle an – visuell, grafisch und auditiv –, um ihn für die nationale Sache zu gewinnen. Darüber hinaus versicherten sie sich auch der Unterstützung der Schlüsselpersonen aller gesellschaftlicher Gruppen; von Menschen also, deren Worte für Hunderte, Tausende oder gar Hunderttausende Gewicht hatte.“ (S.33)
Da lassen sich Wissenschaftler wohl ohne große Schwierigkeiten einordnen. Je größer die zu untersuchende Organisation ist, desto professioneller wird die PR agieren. Es ist fraglich, ob teilnehmende Beobachter sich dieser Manipulation entziehen können. Diese Fähigkeit dürfte mit dem Wissen über die Organisation korrelieren. Denn sind die Vorstellungen von einer Organisation bereits phantasiegesättigt, dann ist eine realitätskongruente teilnehmende Beobachtung. m.E. nicht mehr möglich. Beispiele im Bereich des scheinbar investigativen Journalismus gibt es da zuhauf. Den Journalisten wird dann eine „Realität“ vorgespielt, die deren Klischees entspricht, aber nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Genauso funktioniert gute Propaganda. Sie knüpft an den Klischees, Vorurteilen und Stereotypen an. Nehmen wir die Tötung Osama Bin Ladens. Alles was wir darüber wissen, entspricht gänzlich unseren (fantasierten) Vorstellungen von Geheimdienstoperationen. Die Berichterstattung ist eine durch und durch von „Hollywood“ choreographierte Aktion. Bis auf die Tatsache, dass es Terroristen gibt und als Gegenspieler militärische Kommandoeinheiten wird an der Geschichte die wir kennen nichts stimmen. Denn was passiert, wenn es zu vermeintlichem Geheimnisverrat kommt, kann man an Bradley Manning sehen. Im Gegensatz dazu, wird bei der Osama Geschichte ein Konvolut an Details bereit gestellt, die den Anschein des Faktischen erwecken sollen. Mehr nicht. Gleiches kann man auch in diversen Untersuchungsausschüssen erkennen. Die bereitgestellten Akten enthalten tausende Details und damit erwecken sie den Anschein von Tatsachen. Das massenweise Akten verloren gegangen, geschreddert oder aus Gründen der nationalen Sicherheit Geheim gehalten werden, geht bei der Anzahl der Akten und Daten unter.
Insofern gilt wieder, nicht „die dort erzählten Selbstinterpretationen der Befragten mit der Praxis der Befragten“ zu verwechseln!
„Und damit blieben viele Bereiche gesellschaftlichen Lebens unbekannte Orte. Und zwar vor allem die Bereiche, die für eine soziologische Aufklärung relevant sind – will man Gesellschaft, also auch politisches, wirtschaftliches, ökonomisches, mediales etc. Handeln verstehen und erklären.“
Dazu bedürfte es aber allem voran einer Umorientierung in der Soziologie. Die Konzentration soziologischer Forschung auf systemerhaltende Effizienzsteigerungen, ob in Arbeits-, Organisations- oder Bildungssoziologie, wird kaum kritisches Potenzial entwickeln, zentrale soziale Prozesse zu hinterfragen.
Denn die Frage muss gestellt werden: ist die gegenwärtige Soziologie überhaupt daran interessiert gewisse Machtstrukturen zu analysieren. Oder wird sich damit begnügt, in der besten aller Welten zu leben? Und diese deshalb auch zu verteidigen? Denn das was als natürlich und selbstverständlich richtig wahrgenommen wird, kann kaum Gegenstand der soziologischen Aufklärung werden.
„Was in einer solchen Situation zu tun ist, weiß ich nicht wirklich. Ein Mehr an verdeckter Forschung ist auch aus ethischen Gründen nicht die Alternative.“
Ich würde mir wünschen Sie würden diesen Punkt in weiteren Blogbeiträgen vertiefen. Denn genau hier sehe ich doch noch großes Potenzial.
In Ihrem Kommentar merken Sie an, dass ich die Dokumentenanalyse und auch nicht die Analyse des Online-Auftritts von Organisationen berücksichtigt hätte und beides seien probate Mittel, die Hinterbühne von Organisationen auszuleuchten. Dem ist so, allerdings fallen beide Datensorten für mich unter die Artefakte und somit auch unter die Artefaktanalyse – sind doch Artefakte all jene Dinge (Telefonverzeichnisse, Statistiken, Rundschreiben, Kunst am Bau, Büroeinrichtung, Online-Auftritt etc.), die von Akteuren geschaffen werden, um in der alltäglichen Praxis der Akteure zu wirken, also dort das Leben zu regeln, zu erklären, zu rechtfertigen und zu verschönen. Artefakte sind Dinge, die vom Alltag für den Alltag geschaffen wurden und nicht zum Zwecke von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen analysiert zu werden.
Artefakte sind ohne Zweifel sehr gute Daten, will die Soziologie ‚wirkliche’ Praxis (auch von Organisationen) untersuchen, aber auch diese Daten erschließen sich nicht von selbst, sondern bedürfen der (hermeneutischen) Analyse. Das gilt insbesondere für den öffentlich per Internet zugänglichen Online-Auftritt von Organisationen, der natürlich ebenfalls systematisch und strategisch von der PR-Abteilung der Organisation gestaltet wird. Eine Inhaltsanalyse, welche (mit oder ohne Computerunterstützung) die Daten lediglich vercodet und dann interpretierend zusammenfasst und auszählt, läuft Gefahr, der strategischen Organisationskommunikation aufzusitzen und diese zu verdoppeln und zu verbreiten statt sie zu analysieren.
Ich stimme Ihnen völlig zu. Nur meinte ich nicht den Online-Auftritt einer Organisation, sondern Online-Foren. Und hier hat man es dann mit Gruppendiskussionen zu tun und nicht mit Artefakten.
Die Auswertung von Online-Foren mit bspw. MAXQDA ist ein sehr probates und einfach anzuwendendes Mittel. Unmengen an Daten können mit geringem Aufwand erhoben werden. Das ist, vor allem wenn man intrinsisch motiviert arbeitet und für diese Arbeit eben nicht bezahlt wird, von besonderer Bedeututng.
Als Beispiel sei auf das von Ihren UDE-Kollegen betriebene Gruppendiskussionsforum http://www.nach911.de/viewforum.php?f=4&sid=10f350d66a9e6e17d0c118b343c8af9d verwiesen.
Dieses Beispiel zeigt auf, dass Onlineforen der wissenschaftlichen Auswertung sehr gut zugänglich sind. Wenn auch nicht „so ohne weiteres“.
Solche Foren gibt es, wie erwähnt, für alle möglichen Gruppierungen. So sind Gruppendiskussionen von Hooligans, Fußball-Ultras, Soldaten, Soldaten im Auslandseinsatz, Polizisten, Polizisten bei Spezialeinheiten, ja sogar (wieder zumindest laut offiziellem Narrativ) von Pädophilen, Terroristen und anderen diskreten und geheimen Gruppierungen auswertbar. Das einzige Hindernis ist sich in den enstprechenden Foren anzumelden bzw. Zutritt zu erlangen.
Das gelingt für Sozialwissenschaftler, so sie denn das Forum nicht selbst betreiben, eher verdeckt.
Für die Erhebung der daten gilt aber selbstverständlich das Trinagulation von Vorteil ist. Denn auch bei einer Gruppendiskussion muss ich gewisses Vorwissen mitbringen, sonst kann ich interne Codes nicht erkennen oder richtig deuten. Ironie, Satire, Provokation, Polemik und nicht zuletzt das „Internet-Phänomen Trolle“ können nur richtig behandelt werden, wenn annähernd angemessene Vorstellungen von Realität dieser Gruppierungen beim Forscher vorhanden sind. insofern ist die Beobachtung von außen ja nicht aufgehoben.
Noch ein kurzes Beispiel zur Verdeutlichung: Wenn ich als Soziologe glaube, dass die Freimaurer die Weltherrschaft erlangen wollen, dann werde ich deren Gruppendiskussionen über Nichtigkeiten als Täuschungsmanöver interpretieren. Halte ich die Freimaurer hingegen für einen arkanen Kegelclub, dann werden banale Diskussionen meine Theorie stützen.
Insofern gilt, was immer gilt: die Kombination mehrer Erhebungsmethoden erhöht (möglicherweise und nicht zwangsläufig) die Validität.
Das Untersuchen von gruppenspezifischen Onlineforen scheint mir eine sehr gute Idee zu sein. Allerdings vermute ich, dass nicht für alle interessanten Gruppen entsprechende Foren existieren bzw. zugänglich sind. Es dürfte also deutlich einfacher sein, über die Selbstverständigungsprozesse von Polizist_innen zu forschen (z.T. ist für entsprechende Foren noch nicht einmal eine Anmeldung erforderlich), als über Investmentbanker oder Mitglieder militärischer Führungsstäbe.
Zudem existieren entsprechende Foren eher für unterschiedliche (Berufs-)Gruppen als für spezifische Organisationen, oder irre ich mich da?
Herzlichen Dank für den Hinweis, der wichtig ist. Aber auch ich frage mich, wie der andere Kommentar, ob es solche Foren auch für das Polizeipräsidium Dortmund, die LBS Castrop-Rauxel, die GEW Düsseldorf, VW Wolfsburg, das Fach Soziologie an der Uni XY etc gibt. Falls ja, wie kommt man da rein??
Es wird sicherlich nicht für jede spezifische Gruppe ein entsprechendes Online-Forum geben. Aber um bei den Azfzählungen zu bleiben. Das Polizeipräsidium Dortmund führt solch ein Forum sicherlich nicht. Aber Polizisten aus Dortmund diskutieren in deutschlandweiten Polizeiforen.
Die LBS XYZ wird auch kein Forum haben, aber es gibt zahlreiche Finanzer- und Banker-Foren, in denen auch die Angestellten der LBS XYZ mitdiskutieren.
Eine sehr spezifische Gruppe zu untersuchen, wird dadurch vielleicht nicht möglich. Aber letztlich vernetzen sich alle Gruppierungen irgendwo und tauschen sich dort aus.
Bleibt das Problem mit dem Zugang bzw. der Auswertung. Und hier müsste eine Wissenschaftsethische Diskussion stattfinden. Denn grundsätzlich bekommt man zu jedem Forum Zugang, so man denn will. Allerdings würde dies häufig bedeuten, „verdeckt“ zu arbeiten. Das weitaus größere Problem wäre die Analyse und Veröffentlichung von erhobenen Daten. Denn die anderen Teilnehmer im Forum werden einer Auswertung kaum zustimmen.
Hier wäre ein guter Ansatz zu diskutieren, ob es ein Menschenrecht auf Wahrheit gibt. Denn sollte dies so sein, dann wäre es durchaus denkbar solche Daten anonymisiert auszuwerten und zu veröffentlichen.
Lieber Beobachter der Moderne, die Soziologinnen und Soziologen von denen Sie sprechen sind im Berufsverband organisiert. Gerade wird eine neue Publikation erstellt für die ich Sie gerne als Autoren gewinnen würde, falls Sie noch nicht gefragt worden sind… Bei Interesse wenden Sie sich doch einfach an den BDS.
Ich bin heute auf eine Blog-Meldung gestoßen (auf einem der frequentiertesten Blogs Deutschlands), die vielleicht als interessantes Anschauungsmaterial zur hier aufgeworfenen Problemstellung dienen kann, aber auch auf den wichtigen Punkt hinweist, dass nämlich ein Problem der empirischen Wissenschaft ist: Nicht nur die Wissenschaft forscht! Was ein allgemeines Misstrauen gegenüber Studien produziert.
„In letzter Zeit gibt es eine auffällige Häufung von Befragungen und wissenschaftlichen Studien zu Hackern und Piraten, wie die Szene funktioniert und so weiter, auch bei Hackerspaces und insbesondere auch bei Gruppen wie Occupy und co. Wenn so jemand bei euch anklopft, sagt ihm bitte nichts. Nur weil die freundlich und nett wirken, muss man noch nicht kooperieren….“ Weiterlesen hier: http://blog.fefe.de/?ts=afed4222