In den kommenden Tagen werde ich an einer großen internationalen Konferenz teilnehmen. Weil ich währenddessen auch sehr viele Aufgaben übernehmen muss, werde ich mich auch an den letzten Tagen meines Blogs nicht mehr besonders aktiv beteiligen können. Kommentare, die dann noch eingehen, werden deswegen vorläufig unbeantwortet bleiben müssen (oder verspätet beantwortet). Das ist vermutlich auch kein sehr großes Versäumnis, denn trotz eines vielversprechenden Beginns hielt sich das Kommentieren dieses Blogs in sehr engen Grenzen. Die Befürchtung, dass das Theorieblog im Sommerloch nicht die Form annehmen würde, die ich mir erhoffte, hatte ich ja schon mit meinem ersten Blogbeitrag (aber erst nach meiner Zusage an die DGS) geäußert. Die schrumpfende Zahl an Kommentaren mag an meinen Themen liegen. Wenn man jedoch die Beiträge und die Kommentare des Sozblog Revue passieren lässt, dann fällt auf, dass die Beiträge zwar von einer relativ hohen Zahl an Besuchern angeklickt werden, aber relativ wenig kommentiert werden. Wer wissenschaftliche Vorträge hält, wird dieses Muster kennen. Nicht nur als Missverhältnis zwischen Publikum und Fragen, sondern, zuweilen, auch als Missverhältnis zwischen dem Ziel des Vortrags und dem, was gefragt wird. So unähnlich die technischen Formen und die medialen Formate sind, so weisen sie also eine gewisse Ähnlichkeit hinsichtlich der Art von Dialogizität auf – ein Thema, das, wie in einem früheren Blogbeitrag betont, gerade mit Blick auf die neuen Medien besondere Beachtung verdient.
Die Ähnlichkeit zwischen Blog und Vortrag erstreckt sich dabei keineswegs nur auf die Vorderbühne; wie beim nachträglichen Small Talk („na, wie war’s?“) gibt es auch im digitalen Medium eine Art Hinterbühne: manche schreiben Twitter oder SMS, schicken eine Email. Dabei ist es sicherlich entscheidend für die angesprochene Änderung der Öffentlichkeit, dass die Hinterbühne in den elektronischen Medien immer selbst auch öffentlich ist (und zwar, wie der Überwachungsskandal einmal wieder verdeutlicht, selbst dann, wenn wir „privat“ zu sein glauben. (Das hat mit der erwähnten Struktur der digitalen Medien zu tun, die wir auch angesprochen haben) Sieht man von diesem Unterschied ab, scheint sich in all diesen dialogischen Formen eine Entwicklung abzuzeichnen, die in meinen Augen für die wissenschaftliche Kommunikation folgenreich ist. Wir sehen sie etwa in Seminaren sehr deutlich, in denen Studierende weniger erpicht darauf sind, das zu erörtern, was sie vorstellen, sondern eigentlich nur wissen wollen, wie ihre „Präsentation“ bewertet wird, nicht aber, ob es „wahr“ oder „falsch“ war, was besprochen wurde.
Natürlich ist die Bewertung ein Anliegen, das insbesondere durch die neue „Leistungskultur“ in BA/MA gefördert wird. Es ist auch eine Forderung, der die Lehrenden in zunehmendem Maße nachkommen, indem sie die Anforderungen zwangläufig standardisieren. Die derzeitige Diskussion um „MOOCs“ (Massive Open Online Courses) ist ebenfalls ein Hinweis für die Tendenz zur Standardisierung von Wissen, der zunächst die (kleineren) amerikanischen Universitäten immer mehr erliegen.
Die Standardisierung ist sicherlich ein wesentlicher Teil der „Ausbildung“ an Universität; sie sichert, dass die Absolventinnen ein ähnliches Wissen und ähnliche Fertigkeiten haben. Ihre Ausweitung ist zweifellos auch eine Folge der Anforderungen, die Wirtschaft, Politik oder Professionen an die Universitäten stellen. Gerade aber an den Universitäten stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis diese Tendenzen zur Forderung stehen, Wissenschaft zu betreiben. Fordert Wissenschaft nicht notwendig, das, was als Wissen gilt, zu überprüfen, zu hinterfragen und zu ergänzen? Ist dies nicht auch der Motor der beständigen Erneuerung wissenschaftlichen Wissens?
Kritik und die Oberflächlichkeit der wissenschaftlichen Kommunikation
Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Pluralisierung der Vorstellung von Wahrheit bildet die Kritik sicherlich eines der zentralen Merkmale der Wissenschaft. Selbst die Arten der Wissenschaft, die auf der schieren Positivität ihres Wissens bestehen, räumen ein, dass dieses Wissen der Kritik ausgesetzt werden und sich bewähren muss. Wie aber sehen die Formen der Kritik in der Wissenschaft aus?
Trotz einer langen Geschichte der Wissenschaftslehre und -theorie und einer ansehnlichen sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung scheint mir (der ich kein spezialisierter Wissenschaftssoziologe bin), dass wir deutlich mehr empirisches Wissen über die Formen der „Alltagskommunikation“ besitzen als über die dialogischen Formen, in denen Wissenschaft betrieben wird. Konferenzen, Tagungen, Workshops, ja nicht einmal Seminar oderDisputationen scheinen systematisch darauf hin untersucht worden zu sein, ob und wie dort „Kritik“ stattfindet, also „diskutiert“ wird. Wer regelmäßig an wissenschaftlichen Veranstaltungen teilnimmt, kennt die Situationen jedoch allzu gut. Kurvorträge von 15 oder 20 Minuten jagen einander in raschem Rhythmus, jeweils gefolgt von einer knappen Diskussion. Da die Vorträge fast im Regelfall zu lange sind (weil wir alle mehr sagen wollen als wir dürfen), fallen auch die Diskussionen so kurz und zumeist oberflächlich aus, dass im Regelfall nur eine kurze Serie von thematisch jeweils unzusammenhängenden Frage- und Antwortpaaren erfolgt. Neben tausenden dieser hektischen Präsentationsformaten, in denen weder Daten noch Begründungen, sondern bestenfalls „executive abstracts“ von Projekten angezeigt werden können, gibt es natürlich auch die großen Vortragsformate. Auch hier herrscht jedoch die Oberfläche vor: die ebenso häufig zeitlich überziehenden Vorträge werden von Antwort- und Frageserien gefolgt, die im Regelfall ebenso rituell ablaufen wie die kleiner Veranstaltung. Dabei erscheint weniger die rituelle Unsicherheit problematisch, dass häufig Fragen mit Kommentaren verwechselt werden. Problematisch ist vielmehr, dass diese zumeist zu Gegenvorträgen ansetzen, ja ansetzen müssen, um das zu erläutern, was als gemeinsames Wissen in einem Publikum nicht mehr vorausgesetzt werden kann, das aus gleichzeitig hochdifferenzierten und transdisziplinären Wissenschaften sowie hochspezialisiert und auf „öffentliches“ Verständnis zielenden Adressaten besteht. Im Zielkonflikt bleibt die Auseinandersetzung hochspezialisiert und unverständlich oder oberflächlich und unterkomplex.
Das Problem der Oberflächlichkeit stellt sich zudem aufgrund der schieren vorherrschenden Form. Man muss sich nur betrachten, wie Kritiken und Argumentationen verlaufen: In fast wissenschaftlichen institutionalisierten Kommunikationsformen herrscht das Ritual der einfachen Frage-Antwort-Sequenz. Einzelne Publikumsmitglieder stellen eine Frage auf zumeist hochkomplexe, häufig der Zeit wegen auch hoch komprimierte und verkürzte Texte, auf die eine Antwort erfolgt; mehr ist aufgrund zeitlicher Beschränkungen oder um nicht unhöflich, aufdringlich oder aggressiv zu erscheinen, selten möglich; eine besondere Form des vertieften Fragens ist, soweit ich sehe, lediglich in der Disputation möglich, wenn auch selten praktiziert. (Analog zum „order at all points“ der Konversationsanalyse experimentieren wir mit einer Form „critic at all points“, die in meinen Augen sehr vielversprechend ist – doch auch dazu gibt es noch keine systematischen Beobachtungen.)
Dabei ist das, was ich hier vertieftes Fragen nenne, keineswegs eine sehr anspruchsvolle Form. In der Soziologie braucht man dazu nur an Habermas‘ Theorie des kommunikativen Handelns zu erinnern. Habermas knüpft die berühmten Geltungsansprüche (auf Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit) bekanntlich an die Möglichkeit Anderer zu „Ja-Nein-Stellungnahmen“. An diese nun schließen sich Begründungen an, die eine gewisse „Tiefe“ haben, wie er sie mit Blick auf Toulmins berühmte „T-Schematismus“ charakterisiert („Daten“, Belege“ und „Stützen sind drei solcher Begründungsstufen).
Anhand der Untersuchung informeller Kommunikation in Familien habe ich gegen Habermas argumentiert, dass seine (oder der Sprachphilosophie) hehren Ansprüche an die Alltagskommunikation praktisch schon aus strukturellen Gründen nicht realisierbar sind (wie im folgenden Text erläutert wird: hier). Allerdings ist zu befürchten, dass die Ansprüche, die Habermas und die Philosophie an die Alltagssprache stellen, nicht einmal in dem größten Teil dessen auch nur annähern erfüllt werden, was wir „anspruchsvolle wissenschaftliche Kommunikation“ nennen. Diese Einschätzung ändert sich nicht, wenn wir die „dialogischen“ digitalen Formen betrachten. Sie scheinen eher das „Evaluieren“ und das „liken“ zu präferieren, also subjektiver Präferenzen zu synchronisieren – was ja durch „Klick“-Zahlen und andere Algorithmen dem massenmedialen Matthäus-Effekt wiederholt („Wer hat, dem wird gegeben“).
Neue Formen wissenschaftlicher Kommunikation
So sehr diese Befürchtung ernüchtert, glimmt jedoch Habermas‘ Hoffnung wenigstens auf kleiner Flamme: Denn indem ich das Argument selbst hier führe, erwarte ich (ebenso wie alle anderen, die diesem Blog folgen), dass es abgelehnt oder akzeptiert, zumindest jedenfalls erörtert werden könnte, und alle, die hier lesen, scheinen diese Erwartung wenigstens unausgesprochen zu teilen, sonst würden sie diesen Text nicht lesen.
Auch wenn selbst dieser Text also nicht kommentiert wird, so würden vermutlich die meisten wohl einräumen, dass man das Argument sogar auf eine Weise austragen könnte, dass die Güte der Argumente zum Tragen kommen könnte. Es dürfte jedoch eine allzu überzogene Vorstellung sein, dass wir in den informellen Situationen des Alltags dazu je die Muße hätten (und wenn wir die Muße haben, füllen wir sie meist in anderer Weise). Auch die Kommunikation zwischen „zivilgesellschaftlichen Akteuren“ nimmt die gewohnten (und zumeist durchaus nützlichen) rhetorischen Formen an, sei das vor Ort, massenmedial oder im Netz. Für die Wissenschaft ist diese Muße jedoch nicht beiläufig; sofern sich nicht nur Ausbildung oder Wissensvermittlung ist, besteht sie aus Prinzip auf der Klärung von Argumenten – sei es der Befunde, der Methoden, mit denen man zu den Befunden kommt, oder der Voraussetzungen oder Axiome, die dem allem vorausgehen. Selbst entschieden relativistische Ansätze müssen noch voraussetzen, dass wenigstens ihr Relativismus als Argument geteilt werden kann. Wenn schon also das die Forderung nach einer halbwegs vernünftigen Argumentation nicht im Alltag (bzw., um an eine Blog-Diskussion zu erinnern: in der Öffentlichkeit) geteilt werden können, so sollte man erwarten, dass sie – zumindest als Forderung – innerhalb der Wissenschaft geteilt wird. Gerade wenn man befürchten muss, dass die Vorstellungen davon, was vernünftig ist, in und zwischen den Wissenschaften deutliche Unterschiede aufweist, ist vielleicht sogar die Verständigung auf diese Forderung das, was die Wissenschaft ausmacht – also sozusagen der Glaube an die Vernunft (vgl. dazu den folgenden Text: 148ff) Das Blog ist sicherlich keine Form, die diese Forderung erfüllt, aber immerhin ist sie eine Form, in der man sie formulieren kann. Ich möchte mich deswegen zum Abschluss dieses Blog-Monats bei all denjenigen bedanken, die diese Formulieren angeklickt, gelesen oder kommentiert haben.
dann machen wir die hinterbühne doch einmal öffentlich (denn sms und email sind auch unter geheimdienstzugriff (der ja i.d.r. geheim geschieht) nicht öffentlich).
in der langen klammer steckt schon ein teil der antwort darauf, was ich mir hier als frage ihres beitrags an mich, den leser, aussuche. wieso habe ich nicht häufiger und genauer gelesen und wieso habe ich nicht kommentiert?
ich persönliche störe mich an der ansprechhaltung der texte. das betrifft nicht nur ihre zeit als dgs-blogger, sondern auch einige ihrer vorgänger. die texte sind einfach nicht feedbackfreundlich.
was erfahre ich in ihren postings, dass ich als aufmerksamer knoblauch-leser nicht schon weiß? nicht viel.
werde ich angesprochen, oder wird an hier bereits gelaufene diskussionen (nicht monolithische blogbeiträge!) angeknüpft? verschwindend gering.
ich hoffe, Sie verstehen den zweck dieser antwort nicht falsch: trotz der sehr frontalen kritik, ist mir nicht daran gelegen, Sie persönlich oder gar professionell zu diskreditieren. [das vermögen meine zeilen ja auch gar nicht.] allein, es soll eine konstruktive (!) antwort auf die von ihnen im schlussabsatz vorgenommene problematisierung der lücke zwischen stummer mitleserschaft und tatsächlichem austragen von diskussionen sein.
Lieber Herr Bischof,
vielen Dank für Ihren Kommentar. Was die „Feedback-Freundlichkeit“ angeht, mag durchaus zutreffen, doch ist das ja genau das Problem längerer Argumentationen mit ihren komplexen Strukturen. Das ähnelt, wie ich gesagt habe, vom Stil durchaus den Vorträgen, und zwar (wie ich gestehen muss) unterschiedlichen Zuschnittes (das im jeweils unterschiedlich vorausgesetzten Vorwissen zum Ausdruck kommt). Man könnte das mit der rhetorischen Stillehre oder auch diskurstheoretisch fassen; ich glaube eher gattungstheoretisch, dass damit auch jeweils eine andere soziale Form geschaffen wird. Da es sich aber um eine dialogisch konzipierte Form handelt, fordere ich die Mitlesenden deswegen auch durchaus extra zum Widerspruch auf.
Was die Texte angeht, muss ich betonen, dass ich hier extra „frisch“ geschrieben habe; was hier steht, ist nicht schon irgendwo anders „verbraten“ worden; nur die beiden „anschaulichen“ Beiträge zu Powerpoint und dem Papst sind schon verfasst gewesen, beide allerdings in englischer Sprache (einer davon im Druck, der andere fasst immerhin eine These des Buches zusammen).
Da ich diese Texte wie nichtveröffentlichte Vorträge verstehe, in denen man Argumente ausprobieren und diskutieren kann, bin ich für Kritik nach wie vor durchaus dankbar – sofern sie auf die Argumente eingeht. Deswegen: Nur zu!
Hubert Knoblauch
ich hatte angesetzt einen kommentar zu schreiben, dann wurde es etwas länger, weswegen mein kommentar nun als beitrag auf auf “sinnsysteme.de” gefunden werden kann.
Lieber Herr Klenk,
prinzipiell bin ich sehr mit einer scharfen Kritik einverstanden. Allerdings erzeugen Sie genau das Problem, das ich als Oberflächlichkeit charakterisiere: Wenn Sie mir „vorwerfen, „selbstzentriert“ andere Formen des Konstruktivismus zu missachten, dann haben Sie offenbar den Verweis auf diese anderen Formen des Konstruktivismus übersehen, den ich sogar in einem gesonderten Link zum leichthändigen Anklicken für alle ins Netz gestellt habe (http://soziologie.de/blog/?p=2924). Diesen Text (der meines Wissens noch immer einer der umfassendsten Überblicke ist) wollte ich eben nicht einfach wiederholen (zumal die breite „Fremdreferenz“ Grundzug meiner Lehre und Forschung ist), sondern, darauf aufbauend, etwas Neues schreiben. Sie müssen ihn aber kennen, wenn wir (hier) weiterreden sollen.
Mit freundlichen Grüßen
Hubert Knoblauch
lieber herr knoblauch,
dass sie den artikel verlinkt hatten, habe ich in der tat übersehen. gekannt habe ich ihn natürlich schon (aus meiner bayreuther zeit). so übrigens auch ihren artikel „zwischen system und subjekt“ (in dem sie u.a. die alteuropäisch technokratische schwer eingängige sprache luhmanns mit der barocken anmut der sprache berger/luckmanns vergleichen, wenn ich das richtig erinnere. ist kein wörtliches zitat, ich habe den text leider in berlin); auch habe ich einige ihrer bücher und artikel zu wissenssoziologie, videoanalyse, qualitativer religionsforschung, populärer religion, u.a. gelesen. ausserdem wollte ich hier ja auch keine systemtheorie vs. wissenssoziologischer konstruktivismus debatte aufmachen.
ich würde darüber hinaus bitten, dass sie mich korrekt zitieren – „selbstzentriert“ habe ich doch nirgends geschrieben, sondern „selbstreferentiell“, was, wie sie wissen, im vergleich zu selbstzentriert a) kein negativ besetzter begriff für einen systemtheoretiker ist, b) sich auf texte nicht autoren bezieht und c) in der wissenschaft ein weit verbreitetes phänomen darstellt – ebenfalls nicht per se schlecht; mir ging es ja um das blog. ich kenne übrigens auch das jüngst erschienene buch „kommunikativer konstruktivismus“ von ihnen, herrn keller und herrn soeffner herausgegeben. und ich hatte auch hier vermutet, etwas mehr über andere konstruktivismen zu finden, die ausführungen dazu halten sich jedoch sehr in grenzen. das ist nun alles nicht das zentrale problem.
was ich nicht ganz verstehe ist, dass sie mir zum einen sagen, bevor wir weiter reden könnten, sollte ich diesen text von ihnen gelesen haben. ich halte es, ich wiederhole mich, für problematisch anzunehmen, man könnte die beiträge eines blogs nur kritisieren, wenn man sich intensiv mit allen veröffentlichungen des autors an anderer stelle auseinander gesetzt hat. das zielt m.e. am medium/gattung blog vorbei. hier ist es sozusagen eine operation am offenen herzen, frische texte, wie sie selbst geschrieben haben. da kann man doch auch erwarten, dass man dazu kritik beitragen kann, die den text aus einer anderen sicht kritisch beleuchtet – egal ob sie das schon in einem anderen aufsatz thematisiert hatten oder nicht. der verlinkte beitrag von ihnen und bernt stellt m.e. auch eher einen überblick dar, wie es ganz im sinne des sammelbands, in dem er erschien ist, war, der darin mündet, dass der von ihnen vorgeschlagene kommunikative konstruktivismus durchaus die gemeinsamkeiten der konstruktivismen von luhmann und berger/luckmann nutzen kann. der kürze des überblicks ist geschuldet, dass es bei der these bleibt, nicht aber gezeigt werden kann, wie das zu bewerkstelligen sei. im gegenteil: in diesem aufsatz schreiben sie:
„Kommunikatives Handeln ist weder im Grunde ein rationales Handeln, wie Habermas glaubt, noch ist es ein subjektfreier Prozess, wie Luhmann annimmt. Wie alles Handeln unterliegt vielmehr auch die Kommunikation den Gesetzen der Institutionalisierung, sie gerinnt zu „Institutionen“ eigener Art (unter denen exemplarisch die Gattungen hervorgehoben werden können), die eine eigene „Objektivität“ beanspruchen können. Das Bewusstsein ist an diesen Konstruktionen durchaus aktiv beteiligt.“
damit distanzieren sie sich explizit von luhmann (und habermas) und spielen mit institutionen und objektivität explizit und exklusiv auf das berger/luckmannsche dreieck an. die differenzen der konstruktivismen mögen in ihren augen gelöst oder zumindest entschieden sein, eine echte aufarbeitung und diskussionen der theorierichtungen und deren vertreterinnen miteinander (z.b. im rahmen einer diesem problem gewidmeten konferenz, o.ä.) fehlt m.w. noch. und so zieht der verweis auf den artikel auch nicht ganz, weil dieser die (vermutlich nicht nur) von mir gestellten fragen nicht beantwortet. das hätte ich mir als ein ‚offenes problem‘ in bezug auf verschiedene konstruktivismen z.b. als blogbeitrag vorstellen können – ich denke, dass hier viele kommentare zu einer lebhaften diskussion beitragen hätten können. und das war mein hauptkritikpunkt, dass eine solche dringend notwendige und sicher spannende diskussion nicht gesucht wurde.
auf herrn bischofs kommentar antworteten sie, sie sind für „kritik nach wie vor durchaus dankbar – sofern sie auf die argumente eingeht. deswegen: nur zu!“ – das hätte ich mir auch gewünscht. auf alle weiteren punkte neben der selbstreferentialität, die ich in meinem längeren blogpost ausgeführt hatte, sind sie mit dem verweis, dass ich zuvor ihren artikel, der mit diesen kritikpunkten gar nichts zu tun hat, lesen müsse, nicht eingegangen; z.b. die überlegungen zur logik der gattung ‚blog‘ (da halte ich wie sie den luckmannschen gattungsbegriff für sehr wichtig), oder die frage zur konsens-dissens problematik in der wissenschaft, in der sie mit (und auch gegen) habermas aber für einen minimalkonsens argumentierten. diese art der verweise (fast mehr in der art von schulverweisen) ist es doch, was den wissenschaftlichen nachwuchs, von an soziologischer theorie interessierten ‚externen‘ ganz zu schweigen, entmutigen kann, sich an einer debatte zu beteiligen. kritik ist so m.e. nicht zugelassen, nur zustimmung (dazu muss man dann auch nichts gelesen haben).
bitte verstehen sie mich nicht falsch. meine kritik ist nicht persönlich gemeint, sondern inhaltlich, nämlich auf die art und inhalte der texte des blogs bezogen. ich persönlich war und bin nach wie vor sehr an einer diskussion offener theoretischer probleme, besonders im bezug auf konstruktivismus in der soziologie, interessiert. und wer weiss, vielleicht wird es eine solche konferenz eines tages geben, meine hoffnung darauf stirbt frühestens mit mir.
beste grüsse, moritz klenk
Lieber Herr Klenk,
besten Dank einmal mehr für Ihren Kommentar. Lassen Sie mich ergänzen, dass der Hintergrund der Kenntnis verschiedener Arten des Konstruktivismus natürlich die Voraussetzung darstellt für die Benennung des „kommunikativen Konstruktivismus“ und für seine besondere Ausprägung. Aus diesem Grund war der Verweis auf den Text relevant und aus diesem Grund scheint mir das Argument der Selbstreferenz (natürlich; „selbstzentriert“ war sozusagen „verschrieben“ – wofür ich mich entschuldigen muss. Ich würde auch nicht sagen, dass ich mich von Habermas oder Luhmann distanziere; ich halte nur einzelne ihrer (allerdings sehr grundlegenden) Argumente für falsch. In der Tat könnte und sollte man die Auseinandersetzung in einer vertieften Form führen. Eine Tagung ist vermutlich dazu die bessere Idee als ein Blog. Wenn Sie die passenden Personen kennen, die auch die entsprechenden theoretischen Fremdreferenzen herstellen können und wollen, würde ich die Idee gerne verfolgen. Ich bin für Hinweise sehr dankbar.
Vielleicht wurde das alles schon vorher gesagt, trotzdem dazu:
1. Für mich – und evtl. für einige andere auch – liegt das Problem beim Kommentieren nicht nur an Sorge um die „Außenwirkung“ (was schon in früheren Blogs angesprochen wurde), sondern auch daran, dass man in der Wissenschaft m.M. vor allem in Form von Nachfragen oder Kritik auf Vorträge reagiert. Selten noch Ergänzungen. Wenn man nicht zu Meckern hat und auch alles verständlich ist – was soll man dann kommentieren?
Das steht evtl. in Konflikt mit der Idee, den kommunikativen „Erfolg“ eines Blogs u.A. anhand der Kommentare zu evaluieren. Es gibt ja – zum Glück – keine „Like“ Funktion in diesem Blog.
2. Was der Kommentar von andreas bischof kritisiert, halte ich gerade für die Stärke des Soziologie-Blogs: Man gewinnt auch einmal einen oberflächlichen Einblick in argumentationsweisen deutscher Soziologen, deren Texte man noch nicht gelesen hatte oder die in ganz anderen Teilsoziologien tätig sind. Deshalb finde ich Beiträge wie die von z.B. Münch, Baur, Knoblauch etc. auch besonders interessant, weil man ein bisschen auf deren Forschungsbereich aufmerksam gemacht wird: In dem Bereich gibts auch noch was. Vor allem dann, wenn man selbst mit dieser Teilsoziologie eigentlich nicht viel zu tun hat, deren Forschung und Argumentationen aber trotzdem spannend findet. Insofern begrüße ich es, dass hier in eher lockerem Ton und überblicksartig in verschiedene Forschungsinteressen deutscher Soziologen eingeführt wird.
mfg
Lieber Herr Knoblauch,
Sie schreiben oben:
„Trotz einer langen Geschichte der Wissenschaftslehre und -theorie und einer ansehnlichen sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung scheint mir (der ich kein spezialisierter Wissenschaftssoziologe bin), dass wir deutlich mehr empirisches Wissen über die Formen der „Alltagskommunikation“ besitzen als über die dialogischen Formen, in denen Wissenschaft betrieben wird.“
Nur als Hinweis, falls Sie Interesse daran haben: Aus dem Bereich der linguistischen Pragmatik gibt es seit einigen Jahren eine rege Wissenschaftssprachenforschung, die sich sowohl mit Hochschul- als auch mit interner Wissenschaftskommunikation (auch digitaler) auseinandersetzt; gerade auch mit Blick auf die streitende Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Wissen. Linguistische Fragestellungen sind natürlich nicht bruchlos für die Soziologie fruchtbar zu machen. Die Schnittmengen einer an Kommunikation interessierten Soziologie mit der linguistischen Pragmatik sind allerdings, wie Sie sicher wissen, immens.
Hier nur ein paar Links:
– zur Hochschulkommunikation bspw.:
https://www.slm.uni-hamburg.de/forschung/forschungsprojekte/eurowiss.html
– zur digitalen Wissenschaftskommunikation bspw.:
http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2011/8227/
Mit den besten Grüßen,
Ihr Matthias Meiler