Für heute [i] ist die politische Entscheidung angekündigt, ob der gesellschaftliche Shutdown noch über die bisher vorläufig festgesetzte Frist (19. April 2020) hinausgehen wird. Bundeskanzlerin Merkel wird sich mit den Ministerpräsidentinnen am Nachmittag in einer Videokonferenz über mögliche Lockerungen verständigen. Um die Politik in dieser schwierigen Entscheidung zu beraten, wurde durch den NRW-Ministerpräsidenten und Kanzlerkandidaten Armin Laschet (CDU) ein eigener 12-köpfiger Expertenrat Corona ins Leben gerufen, um konkrete Exit-Strategien zu entwickeln.
Exit-Strategie I: Der Expertenrat Corona NRW
Die Stellungnahme unter dem Titel „Weg in eine verantwortungsvolle Normalität“ wurde der Landesregierung vor wenigen Tagen (11. April 2020) vorgelegt. Neben dem Virologen Streeck, der derzeit die erste empirische Studie im Landkreis Heinsberg durchführt, gehören dem Expertenrat Vertreterinnen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen sowie Vertreterinnen aus der Wirtschaft und sozialer Dienste an. Im Zentrum der vorgelegten Expertise steht die Unterteilung in drei Phasen des Umgangs mit der Pandemie:
Phase 1: Eindämmen, Kapazitäten ausbauen, Wissen generieren
Phase 2: Schrittweise Öffnung des sozialen und öffentlichen Lebens
Phase 3: Stabilisierung einer verantwortungsvollen Normalität
Wann hierzulande der Übergang von Phase 1 zu Phase 2 aber genau erfolgen sollte, überlassen die Expertinnen ganz der Politik. Sie weisen jedoch sehr eindrücklich auf die gesellschaftlichen Folgen eines noch länger währenden Lockdowns hin, wie z.B. die volkswirtschaftlichen Kosten oder die psychosozialen Folgewirkungen bis hin zur Zunahme häuslicher Gewalt. So gilt es, alle weiteren Risiken bei der nun anstehenden Entscheidung gegen die medizinischen Risiken zunehmender Infektionen abzuwägen. Mit Verweis auf aktuelle Umfragewerte des Meinungsforschungsinstituts Allensbach (deren Leiterin Prof. Dr. Renate Köcher diese Stellungnahme mitzeichnet) äußert das Gremium die Sorge, dass nach einer Phase der Solidarität bald eine Phase der Polarisierung eintreten könnte, wenn nicht bald ein Ende der Einschränkungen in Aussicht gestellt werden würde. Das 15-seitige Papier bietet mit seinem Phasenmodell eine nützliche Handreichung an die Politik, da es das weitere politische Handeln in die bereits aufscheinenden gesellschaftlichen Problemlagen einbettet. Es werden konkrete Kriterien benannt, nach denen sich das Tempo und die konkreten Schritte richten sollten. Zum Abschluss werden weiterführende Hinweise an die Politik gegeben, um aus den aktuellen Erfahrungen zu lernen, sich zukünftig besser gegen Epidemien zu wappnen (z.B. die erforderliche Steigerung der heimischen Produktion wichtiger medizinischer Hilfsmittel zwecks Daseinsvorsorge).
Die öffentliche Resonanz auf diese von einem Landesministerium in Auftrag gegebene Stellungnahme fiel vergleichsweise gering aus, Ausnahme die FAS, der die Expertise scheinbar exklusiv vorlag. Mediale Aufmerksamkeit zogen zeitlich parallele Ereignisse auf sich. Dazu gehörte zum einen die politisch orchestrierte Pressekonferenz zu den ersten Ergebnissen der sogenannten Heinsberg-Studie um den Bonner Virologen Streeck am Gründonnerstag. Zum anderen wurde gespannt auf die angekündigte Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina gewartet, von der Bundeskanzlerin Merkel sagte, dass sie besonders wichtig für die anstehende politische Entscheidungsfindung sei. Die Leopoldina hatte bereits zuvor zwei sogenannte Ad-Hoc Stellungnahmen veröffentlicht, Nr. 1 zu den Herausforderungen und Interventionsmöglichkeiten , Nr. 2 zu gesundheitsrelevanten Maßnahmen. Ihre dritte Ad-Hoc-Stellungnahme unter dem Titel „Coronavirus-Pandemie – Die Krise nachhaltig überwinden“ veröffentlichte sie schließlich am Ostersonntag.
Exit-Strategie II: Ad-hoc Stellungnahme der Leopoldina-AG
Diese Stellungnahme weicht bereits in formaler Hinsicht von ihren beiden Vorgängern ab. Statt eines Dreiseiters haben wir es hier mit einer länglichen Abhandlung von 19 Seiten zu tun. Zu den Autorinnen gehört ein anderer Kreis an Akademiemitgliedern und weiteren ernannten Expertinnen aus ganz unterschiedlichen Bereichen wie der Soziologie, der Werkstoffmechanik (?) oder den Wirtschaftswissenschaften. Bei dem Versuch, gleichsam alle nichtvirologischen Aspekte der Corona-Krise abzuhandeln, habe sich die Arbeitsgruppe jedoch übernommen, kommentierte Patrick Illinger in der Süddeutschen Zeitung. Erstaunlich ist in der Tat, wie man laut Selbstbeschreibung all jene Aspekte, „die psychologischen, sozialen, rechtlichen, pädagogischen und wirtschaftlichen Aspekte der Pandemie“ bei aller gewünschten Interdisziplinarität in einem dafür noch vergleichsweise kurzen Papier umfassend behandeln kann, um dann zugleich noch„Strategien, die zu einer schrittweisen Rückkehr in die gesellschaftliche Normalität beitragen können“ zu empfehlen. Einerseits ist selbst eine solche Aufzählung mit Lücken behaftet (was ist bspw. mit ethischen Aspekten, kulturellen Folgen, rechtlichen Implikationen?). Zum anderen liegen zu all jenen Implikationen dieser gesellschaftlichen Ausnahmelage momentan noch keine gesicherten Erkenntnisse vor und selbst jene Forschungsdaten, die bereits in anderen Kontexten und Ländern erhoben worden sind oder sich derzeit im Entstehungsprozess befinden, finden in dem Papier keinerlei Berücksichtigung. Dies veranlasste Jürgen Kaube dazu, der Arbeitsgruppe vorzuwerfen, dass in diesem Dokument lediglich „Allgemeinplätze, Wertebeschwörungen und wohlfeile Forderungen“ aufscheinen. So werden zwar Aussagen dieser Art, „Selbstschutz und Solidarität seien wichtiger als Sanktionen, Risikogruppen bedürften der Hilfe“ wohl kaum irgendwo auf Widerspruch stoßen. Allerdings sind sie auch nicht visionär oder besonders konkret.
Die Erwartung, wissenschaftlich fundierte Empfehlungen zu erhalten, wie der ersehnte Exit möglichst schnell eingeleitet und reibungslos vonstatten gehen kann, muss ein solches Dokument insofern enttäuschen. Prognosen sind wissenschaftlich betrachtet immer problematisch. Das Problem hier ist aber vielmehr, dass die einzelnen Themen und Textelemente relativ unverbunden nebeneinander stehen. Diese sicher unter hohem Zeitdruck entstandene Ad-Hoc-Stellungnahme versammelt das Erfahrungswissen ausgewählter Vertreterinnen verschiedener Disziplinen, deren persönliche Einschätzungen und Relevanzuschreibungen sich fast Absatz für Absatz im Text widerzuspiegeln scheinen. War bislang die Virologie bzw. die Epidemiologie als die entscheidende wissenschaftliche Ratgeberin für die Bewältigung der Corona-Krise gefragt, hätte diese Stellungnahme nun quasi die längst überfällige Antwort aus den Sozialwissenschaften sein können, um auf die blinden Flecke einer einseitigen Perspektive hinzuweisen und einen Deutungsrahmen anzubieten. Dies geschieht hier aber weniger diskursiv als quasi listenförmig, wenn unter der Prämisse, die Infektionszahlen lassen es zu, ein loser Fahrplan (kein Zeitplan) für Lockerungen vorschlagen wird und hierfür an einzelne Werte für die Post-Corona-Gesellschaft erinnert wird wie Nachhaltigkeit, was bereits in der Titelgebung anklingt (Geschlechtergerechtigkeit findet dagegen keinerlei Erwähnung, dazu später noch mehr). Bemerkenswert ist außerdem, dass jene interdisziplinäre Arbeitsgruppe eben ausschließlich aus Nicht-Virologinnen und Nicht-Epidemiologinnen besteht, das heißt echte Interdisziplinarität in der Bewältigung der Coronakrise somit auch hier nicht stattfindet.
Exit-Strategie III: Die Helmholtz-Initiative
Parallel zur Veröffentlichung der Leopoldina-AG hat die Helmholtz-Gemeinschaft eine vergleichsweise kompakte Stellungnahme unter dem Titel „Systemische Epidemiologische Analyse der COVID-19-Epidemie“ online publiziert. Die Forscherinnen und Forscher skizzieren darin aus Sicht der systemischen Immunologie und Epidemiologie drei Szenarien für einen sukzessiven Ausstieg aus der gegenwärtig geltenden Kontaktsperre, und zwar „ohne die Kontrolle über das Virus zu verlieren“. Das Plädoyer der Helmholtz-Initiative lautet, die Kontaktbeschränkungen noch drei Wochen weiterzuführen und mit flankierenden Maßnahmen zu begleiten, um die sogenannte Reproduktionszahl auf einen Wert unter 1 zu senken (Szenario 3). Die Empfehlungen basieren zwar auf reinen Modellrechnungen und müssten ggfs. an die laufende Entwicklung angepasst werden. Sie geben jedoch konkreter als jede Stimme zuvor einen konkreten zeitlichen Orientierungsrahmen für den Exit an.
Die Empfehlungen der Leopoldina in der Kritik
Die Leopoldina-AG hat in ihrer Stellungnahme ganz auf Szenarien oder Phasenmodelle verzichtet. Dies überrascht insofern, als zum Auftrag der Nationalen Akademie der Wissenschaften explizit die Beratung von Politik und Öffentlichkeit gehört und gerade Szenarien ein gängiges und effektives Modell der wissenschaftlichen Politikberatung darstellen. Zudem überrascht ein wenig die öffentlich geäußerte Verwunderung einzelner Mitglieder der Arbeitsgruppe darüber, dass sich die öffentliche Resonanz zur Stellungnahme inhaltlich auf einen einzigen Aspekt kapriziert hat, und zwar die Empfehlung einer baldigen Wiedereröffnung der Schulen (bei weitergehender Schließung der Kitas). Die Medienschlagzeilen lauteten am 14. April 2020 entsprechend „Leopoldina zu Coronavirus-Krise – Schulen so bald wie möglich wieder öffnen“ (ZDF), „Welche Klassen zuerst? Riesenstreit um Öffnung der Schulen“ (Bild), „Kinderbetreuung in Corona-Krise. Und was ist mit den Kleinen?“ (Süddeutsche Zeitung).
Die vergleichsweise harsche Kritik auf eine wissenschaftliche Stellungnahme in den Massenmedien und noch schärfer wohl in den sozialen Medien, ist wissenschaftssoziologisch in einer Hinsicht kaum überraschend. Anders als bei der virologischen Expertise trifft eine Analyse der gesellschaftlichen Implikationen auf ein breites lebensweltliches Wissen und damit immer auf potenzielle Deutungskonkurrenz. Deutungskonkurrenzen dieser Art werden sowohl auf Seiten des Journalismus deutlich, siehe nur der Beitrag von Jürgen Kaube, als auch in der Praxis. So hat die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft gestern ihre Kritik an den Empfehlungen der Leopoldina in einer Presseerklärung mitgeteilt, in der sie betont: „Viele Vorschläge gehen an der Realität in den Bildungseinrichtungen vorbei“. Und in der Tat kann man sich fragen, wie die erforderlichen Bedingungen zu erfüllen sind, unter denen der Unterricht von Grundschülerinnen beim gleichzeitigen Festhalten am Gesundheitsschutz baldmöglichst realisiert werden soll. Dies fragen sich nicht nur Lehrerinnen, sondern auch Eltern und selbst Kinder im Grundschulalter, die die Regeln der Kontaktsperre als sinnvoll wahrgenommene Maßnahme des Gesundheitsschutzes unter vielen Mühen bereits seit Wochen tapfer praktizieren.
Dass die Strategie einer stufenweisen Öffnung des öffentlichen Lebens nur unter der Bedingung gilt, dass die Zahl der Neuansteckungen sich merklich verlangsamt hat (ohne wie die Helmholtz Initiative die erforderliche Höhe des Reproduktionsfaktors allerdings zu benennen), fällt in der Diskussion gewissermaßen unter den Tisch. Dies mag man nun aus Autorinnensicht auf eine allzu flüchtige Lektüre zurückführen und damit die Kritik an die Rezipientinnen zurückgeben (insbesondere an die Medien). Doch ist die überwiegend kritische Lesart gewissermaßen auch dem Aufbaumuster und dem gesamten Duktus dieser Stellungnahme geschuldet. So bildet die konkrete Empfehlung zur Schulöffnung nicht nur einen exponierten eigenen Abschnitt, sondern sie steht vollkommen losgelöst von gesundheitspolitischen Argumenten wie bspw. gestuften Ansteckungsrisiken, da die medizinische Sicht der gesamten Stellungnahme vielmehr als Präambel vorangestellt ist. Insofern steht eine solche Forderung quasi im luftleeren Raum. So plädiert die Arbeitsgruppe nur für eine mögliche Option unter vielen, ohne für diese Position die konkreten Abwägungsprozesse dahinter genauer zu explizieren oder genau für diese Option mit Argumenten zu werben. Dänemark bspw. öffnet als erstes die Kitas, um die Eltern angesichts des höheren Betreuungsbedarfs zu entlasten.
Dass bei einer derart politisch angespannten Stimmung zumindest die basalen Maßgaben von Wissenschaftskommunikation wie Transparenz eingehalten werden sollten, hätte man bei der Adresse eigentlich voraussetzen müssen. Dass weniger die Betonung der gesellschaftlichen Komplexität und der Umgang mit Zielkonflikten als die konkrete Empfehlung der Schulöffnung den größten Nachrichtenwert besitzt, konnte jede/r Expert_in im Umgang mit Medien ebenso leicht voraussehen. Umso nachlässiger scheint daher die signifikante Leerstelle, die gerade in dem entsprechenden Passus aufscheint, der die speziellen Lebenslagen und Sorgen der Betroffenen weitestgehend ausklammert – und zwar seitens derjenigen Wissenschaftlern, die mehrheitlich aus den Gesellschaftswissenschaften stammen. Eine Stellungnahme dieser Art erreicht die Gesellschaft nicht.
Stattdessen drangt sich fast automatisch der Eindruck einer akademischen Realitätsferne auf, wenn die Rede davon ist, Grundschülerinnen baldmöglichst mit Masken und Abstandswahrung wieder zur Schule schicken zu wollen, um so wie auf S. 13 zu lesen ist, der Bildungsungerechtigkeit entgegenwirken. Ob ausgerechnet die Coronakrise nun aber der geeignete Zeitpunkt ist, um endlich das in Deutschland besonders virulente Problem der sozial ungleich verteilten Bildungschancen beheben zu wollen, ist fraglich. Es fehlen die schlagenden Argumente, dies kann auch Jan-Martin Wiarda nicht nachträglich korrigieren. Der Text wirkt zusammenfassend wie ein Flickenteppich eines 24-köpfigen, im Übrigen fast ausschließlich männlich besetzten Gremiums, bei dem jeder einen Abschnitt aus seiner jeweiligen disziplinären Perspektive beigetragen hat. Der Wirtschaftswissenschaftler schreibt über Wirtschafts- und Finanzpolitik, die Bildungsforscher über Bildungsungerechtigkeit, der Soziologe über gesellschaftliche Komplexität und Differenzierung. Überzeugen kann der Text als Stellungnahme der Sozial- und Geisteswissenschaften jedoch nicht – er ist zu kleinteilig, zu wenig begründet und dann auch noch zu fordernd: „alle politischen Maßnahmen müssen sich…“. Das ist schade, denn damit wurde nicht nur die Möglichkeit diese gesellschaftliche Krise wissenschaftlich genauer auszuleuchten und dringend benötigtes Orientierungswissen für den politischen Gestaltungsprozess zu liefern, nicht hinreichend genutzt, sondern in Anbetracht der von so verschiedenen Seiten vorgetragenen und größtenteils auch berechtigten Kritik schadet sie dem öffentlichen Ansehen der Gesellschaftswissenschaften wohl mehr als es ihnen nützt. Dass die Gesellschaftswissenschaften inhaltlich viel beizutragen haben und auch durchaus relevantes Orientierungswissen für die Krisenbewältigung liefern können, zeigte indes die Stellungnahme des Corona Expertenrats NRW, der im Übrigen transdisziplinär zusammengesetzt war.
Außerdem sind bereits jetzt viele relevante sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte angelaufen – allerdings ohne direkte Anfeuerung einer PR-Agentur Storymachine wie im Falle @hbergprotokoll des Virologen Streeck und daher auch weit weniger öffentlich sichtbar. Doch gerade die sozialwissenschaftliche Expertise der aktuell Forschenden im Feld wäre in dieser Situation womöglich politisch gesehen noch relevanter zu hören als ganz traditionell auf die Institution Akademie zu setzen, die der abstrakten Entität Wissenschaft zwar eine Adresse gibt, aber primär eben der Reputationsbildung und nicht der Wissensproduktion dient.
Die Frage bleibt, ob die Leopoldina-Stellungnahmen Nr. 1 und Nr. 2 nicht womöglich aus Sicht der medizinischen Fachvertreterinnen ebenso, um die Kritik von Kaube erneut aufzugreifen, „Allgemeinplätze, Wertebeschwörungen und wohlfeile Forderungen“ enthalten und Kritik somit eher dem Genre und weniger den Disziplinen anzurechnen ist. Für die entsprechende Antwort bleiben wir auf (fach-)wissenschaftliche Expertise angewiesen.
[i] Heute ist inzwischen schon morgen. Der Tag der Entscheidung hat ergeben: Kontaktsperre und alle weiteren Einschränkungen werden bis zum 4. Mai zunächst fortgesetzt. Ende April wird über den stufenweisen Einstieg in den Ausstieg verhandelt. Bis dahin soll auch geklärt werden, wie die schrittweise Öffnung der Schulen konkret realisiert werden kann.