Weil das Online-Geschäft lukrativer ist, trennt sich Time Warner vom TIME Magazine, Rupert Murdoch vom Wall Street Journal. In Deutschland ist die Frankfurter Rundschau (FR) das jüngste Opfer der Konzentrationsprozesse auf dem Medienmarkt infolge des Preiswettbewerbs – wie der Presse zu entnehmen ist, wird sie demnächst von der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) übernommen. Na und – könnte man sagen. Das ist eben das Resultat normaler Konkurrenz in Marktwirtschaften. Das Problem ist aber, dass Medien eben nicht nur eigene Märkte sind, sondern auch wesentliche gesellschaftliche Funktionen übernehmen.
Gesellschaftliche Funktionen von Medien
In den vergangenen vierzig Jahren haben die Medien alle gesellschaftlichen Teilbereiche, insbesondere aber die Politik, sehr stark durchdrungen, so dass Medienentwicklungen heute Gesellschaftsentwicklungen immer stärker beeinflussen (Jansen et al. 1997, Münch 1997a, 1997b). Politisch gesehen sind die Medien z.B. in modernen Demokratien wichtig für die Herstellung der bürgerlichen Öffentlichkeit, d.h. für die Kommunikation zwischen Politik und Bürger und die Herausbildung einer öffentlicher Meinung (Habermas 1990). Marktsoziologisch gesehen sind sie wichtig für die Kommunikation in Unternehmen sowie (auf Konsumgütermärkten) Mittler der Kommunikation von Kunden und Herstellern auf Märkten und zentraler Austragungsort von Konstruktionsprozessen der symbolischen Bedeutung von Produkten (Altmeppen/Karmasin 2003). Journalisten sind dabei die Gatekeeper von Kommunikationsströmen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen (Münch 1993, Rupp 1997, Wolff 2002), und Medienberichterstattung wirkt sich zeitversetzt auf die Bevölkerungsmeinung aus (Baur 2009). Die Konzentration auf dem Medienmarkt zieht deshalb deutliche Konsequenzen für fast alle gesellschaftlichen Bereiche nach sich:
Innerhalb der Medien kommt es zu einer Angebotsausdünnung und inhaltlichen Homogenisierung, verstärkten Vermischung von Berichterstattung und Werbung, Konzernjournalismus in der Medienberichterstattung, steigende Nachfragemacht bei Informationsquellen, Verminderung des intermedialen Qualitäts- und Innovationswettbewerbs, Imitation, erhöhte Marktzutrittsbarrieren, erweiterten Tabuzonen für redaktionelle Berichterstattung sowie einem Verlust von Arbeitsmarktalternativen für Journalisten (Trappel et al. 2002, Altmeppen 2000, Molina 1991). Bereits um die Jahrtausendwende warnten Kommunikationsforscher, dass die journalistische Ethik gefährdet sei, weil Public Relations und Journalismus immer mehr fließend ineinander übergehen (Jarren/Meier 2002, Trappel et al. 2002) – eine Befürchtung, die sich angesichts der Medienskandale der vergangenen Jahre bestätigt zu haben scheint.
Aus der Perspektive der Gesellschaft gibt es immer weniger Alternativen zur Herstellung öffentlicher Meinung. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sich partikuläre Interessen durchsetzen, Propagandarisiko und -druck nehmen zu. Gleichzeitig werden Nachrichten gegenüber anderen Medieninhalten abgewertet (Wolf 1999, Zerdick 1994).
Medien und Medienwirkung
Nun ist es aber nicht so einfach, Menschen durch Propaganda über Medien zu beeinflussen, wie man denkt – im Gegenteil: Die Ergebnisse der Medienwirkungsforschung sind recht widersprüchlich, weil sozialstrukturell unterschiedliche Personengruppen spezifische Medien sehr unterschiedlich nutzen und bewerten und v.a. unterschiedlich kritisch mit Medieninhalten umgehen. Hohe Medienkompetenz weisen vor allem Menschen mit hoher Bildung auf (Meyen 2001). [1]
Zu beobachten ist außerdem eine Kongruenz zwischen der redaktionellen Tendenz von Tageszeitungen und der Meinung ihrer Leser (Donsbach 1990). Hierbei ist unklar, ob die Zeitungen ihre Leser beeinflussen oder ob die Leser die Zeitung wählen, weil die redaktionelle Tendenz ihrer eigentlichen Meinung entspricht.
Medienkonsumenten nehmen jedenfalls Medieninhalte nicht passiv auf, sondern verarbeiten sie in Interaktion mit ihrem sozialen Umfeld (Schönbach/Eichhorn 1990, Meyen 2001). U. a. wird Nachrichten eine höhere Glaubwürdigkeit zugeschrieben als Werbung, weil bei Ersteren fungieren Journalisten als Gatekeeper von Kommunikationsströmen fungieren (sollen), d.h. die Informationen filtern (sollen) und so verhindern (sollen), dass der Leser ungewollt Opfer von Propaganda werden. Sollen medial vermittelte PR-Strategien langfristig wirken, müssen sie deshalb langfristig angelegt sein und hinterher die Erwartungen erfüllen, die bei Journalisten, Medien und der Öffentlichkeit geweckt wurden (Mathes 1999). Da Journalisten aber auch Opfer von Fehleinschätzungen sein können, kann das trotz aller Qualitätskontrollen nach hinten losgehen. So zeigt Koschel (1999) am Beispiel der Einschätzung der Wirtschaftslage, dass Menschen infolge des langfristigen Einfluss der Massenmedien objektives Geschehen bisweilen völlig falsch einschätzen (siehe hierzu auch Baur 2009).
Gegenspieler werden Partner
Nicht alle Medien wirken dabei gleichermaßen. Leitmedien beeinflussen die Meinungsbildung wesentlich stärker als andere und nehmen auch eine Vorreiterrolle in der Meinungsbildung ein, weil ihnen eine besondere Seriosität zugesprochen wird (Wilke 1999).
Und genau da sind wir bei dem Problem der Insolvenz gerade der FR: Die FR war eine der deutschen Zeitungen, die als Leitmedium fungierten – sie war vielleicht nicht die wichtigste, aber eine der wichtigsten deutschen Zeitungen.
Gleichzeitig war es früher so, dass die Leitmedien im Bereich der Printmedien traditionell in „links“ und „rechts“ aufgeteilt waren: Wie Grafik 1 und Grafik 2 zeigen, waren die FAZ und die Welt in den 1970ern und 1980ern eher CDU/CSU-nah und berichteten tendenziell zugunsten des konservativen Lagers (hier am Beispiel der Berichterstattung über Helmut Kohl). Die SZ und die FR waren dagegen eher regierungskritisch und etwas näher dem linksliberalen politischen Spektrum zugeneigt (und Zeitungen wie die taz, die aber erst relativ spät gegründet wurde, waren links). Der Spiegel, die Zeit und der Stern mäanderten in den vergangenen Jahrzehnten (je nach Redaktion eher) (Kepplinger et al. 1986).
Durch eine Mehrzahl an Leitmedien hab es folglich auf dem Medienmarkt Gegenspieler, die sich wechselseitig austarierten und so (als Gesamtpaket) die Möglichkeit zu einer differenzierten öffentlichen Meinung gaben. Wie Grafik 3 illustriert, hat dies durchaus eine Wirkung: Die Bevölkerungsmeinung (hier zu Helmut Kohl) bewegt sich (zeitversetzt) zwischen den Tendenzen der beiden Lager an Leitmedien (Kepplinger et al. 1986).
Und genau das ist das Problem an der Insolvenz der FR: Uns ist nicht nur ein Leitmedium verloren gegangen, sondern durch die Fusion von FAZ und FR werden ehemalige Gegenspieler Partner. Und da gleichzeitig bei der FR die Zahl der Mitarbeiter von 420 auf 28 reduziert wird (Bigalke/Riehl 2013) wird es vermutlich darauf hinauslaufen, dass künftig FAZ-Redakteure die Medieninhalte beider Zeitung produzieren.
Anmerkungen
[1] Entsprechend der Pluralisierung der Lebensstile ist das Medienpublikum heute extrem fragmentiert (Handel 2000). Kliment (1997) identifiziert etwa fünf Mediennutzertypen: die Angepasst-Inaktiven, die Angepasst-Unzufriedenen, die Häuslich-Aktiven, die konsumfreudigen Aktiven sowie die unauffälligen Konformisten. Diese Personengruppen unterscheiden sich in Alter und Lebensstil und weisen unterschiedliche Ausprägungen auf fünf Dimensionen der Mediennutzung auf: der Häufigkeit der Fernsehnutzung, der Häufigkeit der Zeitungsnutzung, der Häufigkeit der Nutzung des privaten Rundfunks, der Häufigkeit der Nutzung elektronischer Medien sowie dem Interesse an Informationen. Bei der Bestimmung von Zielgruppen für das Marketing und der Analyse Mediennutzungsmustern spielen daher seit Mitte der 1990er Jahre vor allem soziologische Lebensstil- und Milieumodelle (wie etwa das von Schulze 1996) eine große Rolle (Kliment 1997, Hartmann/Tebert 2003, Oehmichen 2003).
Literatur
Altmeppen, Klaus-Dieter (2000): Funktionale Autonomie und organisationale Abhängigkeit. Inter-Relationen von Journalismus und Ökonomie. In: Löffelholz, Martin (Hg.) (2000): Theorien des Journalismus. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 225-239
Altmeppen, Klaus-Dieter/Karmasin, Matthias (Hg.) (2003): Medien und Ökonomie. Bände 1/2, Grundlagen der Medienökonomie; Soziologie, Kultur, Politik, Philosophie, International, Geschichte, Technik, Journalistik. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag
Baur, Nina (2009): Memory and Data. Methodological Implications of Ignoring Narratives in Survey Research. In: Packard, Noel (Hg.) (2009): Sociology of Memory: Papers from the Spectrum. Newcastle: Cambridge Scholars Publishing. 289-312
Bigalke, Silke/Riehl, Katharina (2013). Zeitungskrise: Abschlussprüfung. In: SZ vom 27.02.2013. Artikel 3/4 im Teil „Medien“
Donsbach, Wolfgang (1990): Wahrnehmung von redaktionellen Tendenzen durch Zeitungsleser. In: Medienpsychologie. Jahrgang 2, Nr. 4, S. 275-301
Habermas, Jürgen (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Handel, Ulrike (2000): Die Fragmentierung des Medienpublikums. Bestandsaufnahme und empirische Untersuchung eines Phänomens der Mediennutzung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag
Hartmann, Peter H./Tebert, Miriam (2003): Wie funktioniert die MedienNutzerTypologie. Zur Entwicklung der Typologie in theoretischer und methodischer Sicht. In: Oehmichen, Ekkehardt/Ridder, Christa-Maria (Hg.) (2003): Die Medien Nutzer Typologie. Ein neuer Ansatz der Publikumsanalyse. Baden Baden: Nomos, S. 17-31
Jansen, Andrea/Ruberto, Rosaia/Münch, Richard (1997): Mediale Konstruktion politischer Realität. Politikvermittlung im Zeitalter der Fernsehdemokratie. Wiesbaden: Dt. Univ.-Verl.
Jarren, Otfried/Meier, Werner A. (2002): Mediensysteme und Medienorganisation als Rahmenbedingungen für den Journalismus. In: Jarren, Otfried/Weßler, Hartmut (Hg.) (2002): Jouralismus – Medien – Öffentlichkeit. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 99-163
Kepplinger, Hans Mathias/Donsbach, Wolfgang/Brosius, Hans- Bernd; Staab, Joachim (1986a): Medientenor und Bevölkerungsmeinung. Eine empirische Studie zum Image Helmut Kohls. In: KZfSS 38 (2). 247-279
Koschel, Friederike (1999): Wirtschaftlich geht’s uns Gold. In: Message. Internationale Fachzeitschrift für Journalismus. Jahrgang 1, Nr.1, S. 130-132
Kliment, Tibor (1997): Mediennutzung im Dickicht der Lebenswelt. Zum Verhältnis von Rezeptionsmustern und Publikumstypen. In: Scherer, Helmut/Brosius, Hans-Bernd (Hg.) (1997): Zielgruppen, Publikumssegmente, Nutzergruppen. Beiträge aus der Rezeptionsforschung. München: Verlag Reinhard Fischer, S. 206-238
Mathes, Rainer (1995): Konzepte zur Nutzung und Bewertung von Tageszeitungen. In: Böhme-Dürr, Karin/Graf, Gerhard (Hg.) (1995): Auf der Suche nach dem Publikum. Medienforschung in der Praxis. Konstanz: UVK, S.69-87
Mathes, Rainer (1999): Der Kommunikationswettbewerb um die „Medienrealität“. Kurz- und langfristige Effekte von PR-strategischen Inszenierungen im Spiegel von Resonanzanalysen. Ein Fallbeispiel zur „Zellteilung“ von Hoechst in zwei eigenständige Unternehmen. In: Rolke, Lothar/Wolff, Volker (Hg.) (1999): Wie die Medien die Wirklichkeit steuern und selber gesteuert werden. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 249-264Meyen 2001
Meyen, Michael (2001): Mediennutzung. Mediaforschung, Medienfunktionen, Nutzungsmuster. Konstanz: UVK
Molina, Gabriel Gonzales (1991): Korporative Kontrolle von Fernsehnachrichten. Wie typisch ist die mexikanische Televisa. In: Media Perspektiven. Nr. 4, S. 235-243
Münch, Richard (1993): Journalismus in der Kommunikationsgesellschaft. In: Publizistik. Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung. Zeitschrift für die Wissenschaft von Presse, Rundfunk, Film, Rhetorik, Öffentlichkeitsarbeit. Jahrgang 38, Nr.3 S. 261-279
Münch, Richard (1997a): Mediale Ereignisproduktion. Strukturwandel der politischen Macht. In: Hradil, Stefan (Hg.) (1997): Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen der der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Dresden 1996. Frankfurt am Main: Campus
Münch, Richard (1997b): Mediale Kommunikationsdynamik. In: Schanze, Helmut/Ludes, Peter (Hg.) (1997): Qualitative Perspektiven des Medienwandels. Positionen der Medienwissenschaft im Kontext „Neuer Medien“. Opladen: Westdeutscher Verlag, S.77-79
Oehmichen, Ekkehardt (2003): Zur Charakteristik der einzelnen MedienNutzerTypen. In: Oehmichen, Ekkehardt/Ridder, Christa-Maria (Hg.) (2003): Die Medien Nutzer Typologie. Ein neuer Ansatz der Publikumsanalyse. Baden Baden: Nomos, S. 32-42Schönbach/Eichhorn 1990
Rupp, Hans Karl (1997): Die politische Macht des Fernsehens und Vorschläge, sie zu begrenzen. In: Rupp, Hans Karl/Hecker, Wolfgang (Hg.) (1997): Auf dem Weg zur Telekratie? Perspektiven der Mediengesellschaft. Konstanz: UVK Medien Verl.-Ges., S. 223-245
Schönbach, Klaus/Eichhorn, Wolfgang (1990): Transaktionen im Medienwirkungsprozess. Kognitive Konsequenzen von Zeitungsnutzung und Zeitungsnutzen. In: Böhme-Dürr, Karin/Emig, Jürgen/Seel, Norbert M. (Hg.) (1990): Wissensveränderung durch Medien. Theoretische Grundlagen und empirische Analysen. München, London, New York, Paris: K G Saur, S. 132-150
Schulze, Gerhard (1996): Die Erlebnisgesellschaft. Frankfurt a. M./New York: Campus
Trappel, Josef/Meier, Werner A./Schrapa, Klaus/Wölk, Michaela (2002): Die gesellschaftlichen Folgen der Medienkonzentration. Veränderungen in den demokratischen und kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Opladen: Leske und Budrich
Wilke, Jürgen (1999): Leitmedien und Zielgruppenorgane. In: Jürgen Wilke (Hg.) (1999): Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Böhlau, Köln/Weimar/Wien. 302–329.
Wolf, Michael J. (1999): The Entertainment economy. How mega-media forces are transforming our lives. New York: Times Books
Wolff, Stephan (2000): Dokumenten- und Aktenanalyse. In: Flick, Uwe/von Kardoff, Ernst/Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung – Ein Handbuch. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch. S. 502-513
Zerdick, Axel (1994): Ist die Unabhängigkeit der Medien bedroht? Neue Entwicklung der Medienkonzentration in Europa. In: Medium. Jahrgang 24, Nr.1, S. 11-14
DIe FR ist nicht in erster LInie Opfer des Preiswettbewerbs. Seit Jahren wandelt sie schon als Zombie unter den überregionalen Tageszeitungen, was ihre journalistische Substanz anbelangt. Wie oft stand sie schon vor dem Aus und hat danach journalistisch keine Schlüsse daraus gezogen? Lediglich kosmetische Veränderungen wie das Tabloid-Format. Inhaltlich produzierte die Redaktion betonkopfartig immer weiter die überlebte altlinke Gesinnungsleier. Gleichzeitig verweigerte sie sich zahlreichen innovativen Debatten und versagt somit wichtigen Dienstleistungsaufgaben des Journalismus. Linksliberale Ikonen wie Jürgen Habermas veröffentlichen nicht zufällig schon seit langem in anderen Zeitungen. Dass nun die FAZ den Laden übernimmt, ist wirklich bedauerlich, geht doch nun der Spuk immer noch weiter. Da gilt sicherlich der alte Sinnspruch: lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Allerdings auch bezeichnend für die Verantworlichen bei der FR, dass sie sich darauf überhaupt einlassen.
Liebe Frau Baur, ich hab eine theoretische Frage: Bereits im vorigen Aufsatz ist mir aufgefallen, dass Sie von der Wirtschaft im Gegensatz zu „Der Gesellschaft“ sprechen, und auch hier wiederrum von Funktionen der Presse für „die Gesellschaft“.
Deswegen hier die Gretchenfrage: Was für eine Konzeption von „der Gesellschaft“ liegt hier bei Ihren Ausführungen dem zugrunde? (es klingt ein wenig Strukturfunktionalistisch, sehe ich das richtig?). Wie würden Sie das vor dem Hintergrund von (sicherlich von Ihnen rezipierten) Kritiken an solchen „stabilen“ Konzpeten bzw. von nationalstaatlicher Vorstellung von Gesellschaft (usw.) konzipieren?
Beste Grüße, Juxtaposed.
Liebe(r) Juxtaposed,
das ist eine wichtige Frage, auf die ich aber leider keine kurze Antwort habe – ich werde es trotzdem versuchen.
Ich vertrete ein Eliasianisches Gesellschaftsmodell (angereichert um Elemente v.a. von Gerhard Schulze, Georg Simmel und Martina Löw, aber auch von anderen Theoretikern), d.h.:
• Ich vertrete eine prozessorientierten Soziologie (Elias 1986a, Baur/Ernst 2011).
• Ich sollte hier eigentlich von einer Figuration (Elias 1986b) schreiben – das tue ich hier lediglich deshalb nicht, weil der Blog ja auch für Nicht-Soziologen verständlich sein sollte, und ich davon ausgehe, dass die meisten Nicht-Soziologen mit dem Figurationsbegriff ohne Erklärung nicht viel anfangen können. Oder allgemeiner formuliert: Beim wissenschaftlichen Schreiben wandert man immer einen feinen Grat zwischen theoretischer Präzision und Verständlichkeit – und manchmal muss man sich leider entscheiden. Während ich mich bei einem soziologischen Fachaufsatz eher für Ersteres entscheiden würde, bemühe ich mich im Rahmen dieses Blogs um Verständlichkeit (auch wenn mir das vermutlich je nach Tag unterschiedlich gut gelingt). Ich hoffe, Sie sehen mir das nach.
Daraus folgt erstens, dass eine einzelne Person zu verschiedenen Figurationen gehört, in denen es handelt, die sich (mindestens) nach Handlungsbereich, Handlungsebene, Raum und Zeit differenzieren lassen bzw. differenziert werden müssen – ich habe versucht, diese Ebenen in Baur (2005) einigermaßen sauber auseinanderzudröseln, aber dafür etwa 150 Seiten gebraucht, und auch mit dieser Fassung bin ich nicht zufrieden (ich will damit sagen: Ich will Sie hier nicht abspeisen, sondern ich finde das tatsächlich sehr kompliziert, und jede kurze, scheinbar einfache Antwort bleibt unbefriedigend – das kritisieren Sie ja auch zu Recht).
Zweitens meine ich, wenn ich hier von „Gesellschaft“ spreche, i.d.R. „nationalstaatlich institutionalisierte Gesellschaft“, gehe aber davon aus, dass eine Person auch auf anderen Handlungsebenen in Figurationen eingebunden sein kann, etwa im Haushalt, in der Gemeinde, in der Region, oder auf der EU-Ebene. (Und die Formulierung ist hier auch bewusst vage gehalten, weil es für manche der hier beschriebenen Mechanismen egal oder unklar ist, was der relevante soziale Kontext ist – ich kann dazu nur sagen, dass ich, bezogen auf das Thema Markt, versuchen werde, zumindest einige der Fragen in den nächsten Wochen zu klären.)
Drittens folgt daraus genau der Punkt, den Sie anmerken, dass nämlich scheinbar statische Begriffe wie „Gesellschaft“ oder „Struktur“ eben nur scheinbar statisch sind. Tatsächlich handelt es sich auch hier um soziale Prozesse ist, deren Besonderheit ist, dass wir bestimmte Denk- und Handlungsmuster wiederholen, so dass sie uns scheinbar als statisch erscheinen – diesen Gedanken habe ich versucht, in Kapitel 5.1. der Verlaufsmusteranalyse (Baur 2005) auszuführen.
Ich hoffe, das genügt Ihnen einigermaßen als Antwort (für jetzt).
Herzliche Grüße,
Nina Baur
Baur, Nina (2005): Verlaufsmusteranalyse. Methodologische Konsequenzen der Zeitlichkeit sozialen Handelns. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften
Baur, Nina/Ernst, Stefanie (2011): Towards a Process-Oriented Methodology. Modern Social Science Research Methods and Nobert Elias’ Figurational Sociology. In: The Sociological Review 59 (777). 117-139
Elias, Norbert (1986a): Soziale Prozesse. In: Schäfers, Bernhard (Hg.) (1995): Grundbegriffe der Soziologie. 4. Auflage. Opladen: Leske + Budrich. 243-249
Elias, Norbert (1986b): Figuration. In: Schäfers, Bernhard (Hg.) (1995): Grundbegriffe der Soziologie. 4. Auflage. Opladen: Leske + Budrich. 75-78
Herzlichen Dank – ich war zunächst über den statisch klingenden Begriff „der Gesellschaft“ gestolpert, aber so bin ich „einverstanden“ ;-)
Vielleicht an Juxtaposed anschließend: wenn man den Medien die Funktion zuschreibt zwischen den Bürgern und der Politik Kommunikation herzustellen, finde ich sollte man an der Stelle differenzieren. Denn ich als Bürger habe nicht den Eindruck, dass ich mit „der Politik“ über „die Medien“ kommuniziere. Also was genau ist darunter zu verstehen und ist die zugeschriebene Funktion nicht eher ein Wunsch von manchen Demokratieforschern? Es wäre nett, wenn Sie das erläutern könnten.
LG Freundlicher Herr
Lieber freundlicher Herr,
ergänzend zu meiner obigen Antwort zu Juxtaposed:
ein wichtiger Aspekt des Figurationskonzepts ist (im Vergleich etwa zur Systemtheorie), dass es eine starken Akteursbegriff hat, d.h. es sind immer Menschen, die handeln. „Die Medien“ oder „die Politik“ sind damit immer eine Gruppe (Interaktionsketten) von Menschen, die zu einer bestimmten Figuration gehören, die aber (als Ganzes) wieder Auswirkungen auf andere Menschen hat. Den Eindruck der scheinbaren Eigenmächtigkeit entfalten diese Figurationen durch unerwünschte oder unbeabsichtigte Nebenfolgen des Handelns (Emergenz) – Elias beschreibt das, wie ich finde, sehr klar in „Was ist Soziologie?“ (1970).
Zweitens ist das mit der „Kommunikation“ zwischen dem „Bürger“ und etwa den „Medien“ tatsächlich nicht so einfach – ich werden morgen versuchen, das etwas auszuführen (und versuche dabei zu zeigen, dass vor allem der Informationsfluss zwischen dem Einzelnen und „den Medien“ wesentlich schwieriger ist als umgekehrt). Und das ist übrigens auch wirklich ein großes Problem – nicht umsonst ist die Soziologie der Kommunikation und Medien ein eigener Forschungsbereich.
Herzliche Grüße,
Nina Baur
Literatur:
Elias, Norbert (1970): Was ist Soziologie? 9.Auflage (2000). Weinheim / München: Juventa
Liebe Frau Baur,
ich finde Ihre Beiträge zu dem Blog alle sehr interessant – Sie zeigen, dass sie Wirtschaftssoziologie einige relevante Beiträge zu öffentlichen Diskussionen liefern kann. Könnten Sie bitte noch die Literaturangabe zu „Koschel (1999)“ einfügen? (ich konnte sie in der Literaturliste nicht finden)
mfg
Marius
Lieber Marius,
vielen Dank – und vielen Dank für den Hinweis. Ich habe Koschel eingefügt. Anbei außerdem noch einmal der Vollständigkeit halber:
Koschel, Friederike (1999): Wirtschaftlich geht’s uns Gold. In: Message. Internationale Fachzeitschrift für Journalismus. Jahrgang 1, Nr.1, S. 130-132
Herzliche Grüße,
Nina Baur
Eine etwas andere – nicht soziologische :-) – Überlegung zu Ihren überaus interessanten Ausführungen:
Wie die (hessische) Medienlandschaft sich wohl verändert hätte , wenn die „Süddeutsche“ es geschafft hätte , die FR aufzukaufen? Bayerisch tingierte Berichterstattung und Journalistenmeinungen direkt vor der Haustüre der FAZ hätte schon prickeln werden können.
Zu schade , dass das nicht geklappt hat. Allerdings ist es fraglich, ob auch so von der schon lange ziemlich lauen FR noch viel übrig geblieben wäre. Also doch wohl auch Medienfusion mit nur anderer Gewichtung.
Andererseits war die FR schon lange nicht mehr ein echter Gegenspieler der FAZ und die Vereinnahmung bedeutet mit Sicherheit keine Partnerschaft, sondern einfach eine Vernichtung des unliebsamen Gegenmediums, das von den restlichen Mitarbeitern wohl nur rudimentär weiter geführt werden kann.
Liebe(r) mg,
ist das nicht genau das Problem – die Verarmung der Medienlandschaft und dass es immer weniger Gegenspielee gibt? Meines Erachtens wird das Problem noch verschärft dadurch, dass sich heute alle anderen Medien (viel stärker als früher) an einem Medium (Spiegel Online) ausrichten, weil damit Spiegel Online fast ausschließlich das Agenda Setting betreibt.
Herzlich,
Nina Baur