Public Sociology. Über die Soziologie als Krisenwissenschaft

Auf diesem Blog wurde mehrmals die Frage gestellt, worin der Sinn des Bloggens oder – allgemeiner – der Sinn der Soziologie liege. Dies ist keine neue Frage – in der Tat stellt sich die Soziologie diese immer wieder selbst und muss sie sich vielleicht als „ewig jugendliche Wissenschaft“ (Weber 1904: 206 [1]) immer wieder stellen.

So war etwa zu Beginn meiner eigenen Studienzeit Anfang der 1990er gerade in der „Zeit“ eine rege Debatte zur Frage „Wozu heute noch Soziologie?“ [2] im Gange. Die meisten der damaligen (namhaften) Autoren erklärte die Soziologie für weitgehend überflüssig. Eine der wenigen Ausnahmen war einer meiner späteren akademischen Lehrer, Gerhard Schulze, der in all den Jahren, in den ich denen ihn kannte, stets energisch darauf bestand, dass „die Gesellschaft“ (so schwammig und problematisch dieser Begriff auch sein mag) die Soziologie dringend brauche und die Aufgabe eines guten Soziologe sei, „Deutungsangebote zu bereitzustellen“. Er betonte immer, dass moderne Gesellschaften so komplex seien, dass wir als einzelne Gesellschaftsmitglieder fast nie wirklich begreifen, was passiert – wodurch wiederum sinnvolles, auf Lösungen orientiertes Handeln kaum möglich sei. Gute soziologische Analysen böten – ganz im Sinne der Grounded Theory – Modelle von Problemzusammenhängen, die Menschen helfen, soziale Prozesse besser zu begreifen und gleichzeitig zu verstehen, wer was wie durch eigenes Handeln ändern kann – und was nicht.

Hans-Georg Soeffner argumentierte jüngst im Rahmen der Eröffnungsfeier des Instituts für Soziologie und des Graduiertenkollegs „Innovationsgesellschaft heute“ ähnlich: Die Soziologie sei eine Krisenwissenschaft, und zwar nicht in dem Sinne, dass sie Krisen herbeirede, sondern dass sie auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen und potenzielle Krisen aufmerksam mache – damit die Gesellschaft auf diese Krisen angemessen reagieren könne.

Hierauf aufbauend argumentierte Hartmut Rosa auf derselben Veranstaltung – ähnlich wie damals Schulze –, dass dies einen methodologischen Dreischritt erfordere: Erstens muss die Soziologie eine sogenannte Gegenwartsanalyse erstellen, d.h. ein Modell der derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnisse entwickeln. Dies sind die Arten von Analysen, die wir i.d.R. mit den Methoden der empirischen Sozialforschung erstellen, wobei sie insofern an der Vergangenheit orientiert sind, da wir ja nur bereits Geschehenes – d.h. Vergangenes – als empirisches Material verwenden können. Zweitens könne man sich Gedanken machen, wie sich die Gesellschaft weiterentwickelt, wobei – da man sich hier über die Zukunft Gedanken macht – die Analysen nie so eindeutig sind. I.d.R. können mit Hilfe der soziologischen Theorie verschiedene mögliche Szenarien entwickelt werden. Drittens stellt sich die Frage, wie man damit umgeht, welche künftigen Ziele man hat und wie man diese am besten erreicht. Rosa argumentierte auch, dass die Soziologie bereits recht gut in der Gegenwartsdiagnose, aber noch recht schlecht bei den beiden anderen Schritten sei.

Was folgt nun hieraus?

Zum einen heißt dies, dass die Soziologie vor der Herausforderung steht, ihr Instrumentarium zur Analyse künftiger gesellschaftlicher (Fehl)Entwicklungen zu verfeinern, um ihre Deutungsangebote an die Gesellschaft zu verbessern. Der Bereich, mit dem ich persönlich mich am meisten befasst habe, sind Märkte, weshalb ich zu diesem Thema vermutlich auch am meisten schreiben werde.

Zum anderen können diese Deutungsangebote nur aufgenommen werden, wenn sie auch wahrgenommen werden – ein Gedanke, den die Soziologie der Nachkriegszeit verinnerlicht hatte und der in den USA in den vergangenen Jahren in den USA unter dem Begriff „Public Sociology“ wieder aufgegriffen wird. Das Problem, vor dem wir heute stehen, ist, dass die alten Formen des Transfers soziologischen Wissens nicht mehr (so gut) funktionieren und wir daher neue Formen finden müssen. In diesem Sinne verstehe ich auch diesen Blog. Ich werde also versuchen, in den nächsten zwei Monaten das eine oder andere aktuelle Thema, zu dem ich etwas zu sagen können glaube, hier aufgreifen und diskutieren. Ich habe dabei, ebenso wie Jo Reichertz (2013) keine Ahnung, ob das Zeitverschwendung ist – ich muss es ausprobieren.

 

 

Literatur

[1] Weber, Max (1904): Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. Nachgedruckt in: ibidem (1988): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr-Siebeck. 146-214

[2] Fritz-Vannahme, Joachim (Hg.) (1996): Wozu heute noch Soziologie? Leske + Budrich

Autor: Nina Baur

Prof. Dr. Nina Baur (März & April 2013) Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie

4 Gedanken zu „Public Sociology. Über die Soziologie als Krisenwissenschaft“

  1. hallo Frau Bauer,

    es ist Zeitverschwendung, wenn sich Soziologinnen und Soziologen nicht (!) mit dem jeweiligen Zustand der Gesellschaft (und damit den unvermeidlich immer wieder entstehenden Krisen) beschäftigen, sondern sich(z.B.) auf eitle akademische Glasperlenspiele zurückziehen, ob mit theoretischen oder zahlenmässigen Perlen ist erst einmal egal. Und wenn sich das Ganze so vollzieht, dass es in den jeweiligen Öffentlichkeiten noch nicht einmal zur Kenntnis genommen wird, weil man sich scheut aktuelle mediale Kanäle zu nutzen, dann ist es erst recht eine Zeitverschwendung.

    Ich freue mich auf Ihre Posts und wünsche Ihnen eine guten Morgen. Jetzt bin ich auf dem Wege, um mir den Zustand eines großen Unternehmens anzuschauen …

    Günter Voß

    PS ich empfehle sehr den autobiographischen Text von Paul Feyerabend: „Zeitverschendung“

  2. Liebe Frau Baur, auch ich freue mich auf Ihre Beitraege, und ich hoffe Sie koennen damit einen kleinen Richtungswechsel vollziehen.

    Ein kurzer Blick durch fruehere Beitraege auf diesem Blog zeigt naemlich ein eindeutiges Bild: Fast alle Artikel (zumindest in den letzten Monaten) scheinen an Soziologen addressiert. Der letzte Beitrag, den meiner Meinung nach ein Nicht-Soziologe ansatzweise interessant finden koennte, liegt etwa ein halbes Jahr zurueck (Volker Schmids Und Europa?). War das die Idee des Blogs als es konzipiert wurde? Ein Soziologieblog fuer Soziologen? Ich wette nicht!

    Daher eine kleine Recherche im Archiv… Guenter Voß‘ Eroeffnungsartikel des DGS Blogs in dem er ueber die Idee des neuen Formats sinniert:

    „Die Soziologie, vor allem in Deutschland, läuft nämlich Gefahr, zu einem Fach zu werden, das nur noch wenig öffentliche Aufmerksamkeit findet. Wenn es um aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen geht, werden seit einiger Zeit, von Ausnahmen abgesehen, häufig Vertreter anderer Fächer gefragt. Dieser Trend kann nur aufgehalten werden, wenn sich Soziologinnen und Soziologen mutig aus ihrer jeweiligen Perspektive zu relevanten Fragen äußern“

    Eine schoene Idee, die vielen Soziologie-Blogs zu Grunde liegt, und allzu oft scheitert. Bisher scheint dieses Blog bedauernswerterweise ebenfalls wenig zu dieser Idee beizutragen. Dies soll keine Kritik an frueheren Autoren des Blogs sein, die ihre Zeit aufgegeben, ihre Muehe investiert und intelligente Beitraege ueber das Fach und ihre Stellung in der Gesellschaft verfasst haben. Ich will keineswegs sagen dass diese Art von Beitraegen nicht auch ihre Berechtigung haben. Vielleicht aber braucht das Blog eine klarere Ausrichtung, an wen es eigentlich addressiert ist (oder die DGS braucht zwei Blogs, einen professionellen, der an Soziologen addressiert ist, und einen Oeffentlichkeitsblog, der ein breiteres Publikum anspricht).

    Mit besten Gruessen,

    Martin Booker

    1. Lieber Herr Booker, lieber Herr Voß,

      ich kann bereits jetzt ein Zwischenfazit ziehen: Das Schreiben „lohnt“ hier sich, weil der Blog zumindest gelesen wird.

      Die Schwierigkeit besteht (für mich) eher darin, dass ich keine Ahnung habe, von wem – mir scheint (anhand der Kommentare) v.a. von anderen Soziologen, aber das ist natürlich schwer zu sagen (die Mehrheit der Leser schreibt ja nie einen Kommentar).

      Die zweite Schwierigkeit ist zu beurteilen, was den (unbekannten) idealtypischern Leser dieser Seite interessiert. Ich war doch etwas überrascht, dass klassische Themen wie Arbeitslosigkeit und Armut weniger zum Weiterlesen animieren als das Thema Essen / Lebensmittelmarkt.

      Und dann ist natürlich noch eine Schwierigkeit, dass ein Klick auf eine Seite noch lange nicht heißt, dass sie auch gelesen wird .

      Herzliche Grüße,
      Nina Baur

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