Die Karte ist ein Interaktionsmedium, das (neben sozialen Praktiken) das Wissen über den Raum transportiert. Sie hilft dem Menschen bei der Syntheseleistung, die Ansammlung von Menschen und Gütern auf bestimmten Raum-Zeit-Koordinaten anzuordnen und zu einem Ort zu verdichten. Sie hat den Vorteil, dass sie die physische Anwesenheit eines Interaktionspartners nicht voraussetzt – dachten wir.
Nina Baur
Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin
Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie
Die Interaktion von Mensch und Raum durch Raumproduktion, Raumwahrnehmung und Raumaneignung
Im Zeitverlauf wirken Menschen und (physischer) Raum wechselseitig aufeinander ein. So sehr der (physische) Raum für den Mensch einen Handlungsrahmen darstellt, das in der konkreten Interaktionssituation hinderlich oder förderlich wirken kann, so sehr ist der Raum selbst auch sozial konstruiert: Menschen haben unterschiedliche Vorstellungen von Raum, nutzen und (re-)produzieren ihn auf unterschiedliche Weise.
Raum als Syntheseleistung, oder: Die vielen Gesichter Chinas
Zur sozialen Konstruktion von Raum bedarf es u.a. einer Syntheseleistung: Menschen fassen bestimmte Menschen- und Güteransammlungen zu Räumen – also zu einer Sinneinheit – zusammen, nehmen sie als solche wahr, stellen sie sich als solche vor und erinnern sich an sie auf diese Art und Weise (Löw 2001: 159, 263; Elias 1969). Dabei fassen wir durchaus auch recht Unterschiedliches und Heterogenes zusammen. So lesen wir etwa in der Presse immer wieder von „Deutschland“, „Frankreich“, „Großbritannien“ oder „China“, und wir gehen implizit dabei vom nationalstaatlichen institutionellen Rahmen sowie einer „kulturelle Einheit“ oder „Ähnlichkeit“ innerhalb des Raumes aus. Wie brüchig diese Konstruktion von Einheitlichkeit ist, wird am Beispiel von China deutlich.
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Die soziale Konstruiertheit des Raumes und die derzeitigen Grenzen der Leistungsfähigkeit von Geoinformationssystemen
Dass ich gestern geschrieben habe, der physische Raum würde von der Soziologie unterschätzt, soll nicht heißen, dass ich die soziale Konstruktion des Räumlichen (Lefèbre 1974) leugne – im Gegenteil: Wie wichtig die menschliche Syntheseleistung (Löw 2001) ist, erkennt man, wenn man sich mit Geodäten über Geoinformationssysteme (GIS) und die darauf basierenden Kartendarstellungen (wie Google Maps, Google Earth oder 3D-Stadtmodelle) unterhält.
Raum ist nicht (nur) sozial konstruiert. Globalisierung und die räumliche Differenzierung der Produktionskette (Differenzierung 4)
Bei der Lektüre vieler sozial- und kulturwissenschaftlicher Texte gewinnt man manchmal den Eindruck, dass im Zuge der Globalisierung und der zunehmenden Bedeutung des Internets der (physische) Raum keinerlei Bedeutung mehr habe und der Raum eine reine sozialen Konstruktion sei. Auch wenn auch ich glaube, dass Raum sozial überformt wird und Grenzen sozial konstruiert werden (Baur 2005: 80-82; 165-172), so bin ich doch der Ansicht, dass viele raumsoziologische Arbeiten die soziale Wirksamkeit des physischen Raumes unterschätzen.
Über die Standardisierung von Lebensmitteln, oder: Wie Schafe und Kühe zu 250g-Schnitzeln im Supermarktregal werden
Im Supermarkt kaufen wir typischerweise ganz bestimmte Mengen – 250 g Butter, 1kg Mehl, 6 Eier, Joghurt im 500g-Glas oder im 250g-Plastikbecker, 150 bis 250g Fleisch pro Person und Mahlzeit usw. Die meisten Konsumenten wollen auch gar keine größeren Mengen, weil sie entweder alleine, mit Partner oder in einer Kleinfamilie leben und gar nicht mehr verbrauchen können. Nun ist es bei einem Pack Butter oder einem Glas Joghurt noch einsichtig, dass es – da diese Lebensmittel ja ohnehin in Fabriken produziert werden – relativ egal ist, in welchen Mengen es abgepackt wird. Aber wenn man sich Hühner, Puten, Schafe, Ziegen, Schweine oder Rinder anschaut, haben sie doch sehr unterschiedliche Größen, und es gibt ja auch kleine und große Schafe, was so überhaupt nicht zu den Anforderungen der modernen Massenproduktion passt – die Koordination der zahlreichen Produktionsstufen kann nur funktionieren, wenn die Produkte hochgradig standardisiert sind. Damit stellt sich die Frage, wie aus einem Schaf, Schwein oder Rind ein 250g-Schnitzel im Supermarkt wird.
Produzenten-Zulieferer-Netzwerke auf Lebensmittelmärkten (Differenzierung 3)
Die Bio-Eier wurden von niedersächsischen Landwirten falsch deklariert. Das Aflatoxin kam über verseuchtes Futtermittel aus Serbien in die Milch. Das Pferdefleisch aus Großbritannien, Rumänien, Polen, Italien und den USA fand – als Rindfleisch deklariert – seinen Weg ins Dosengulasch, Fleischklopse, Burger, Lasagne und Pasta. In den Halal-Produkten der Firma Kuraas AS landete Schweinefleisch. Das antibiotikabelastete Putenfleisch aus Rumänien wurde in Münster zu einem Tandoori-Fertiggericht weiterverarbeitet und an Kantinen verschiedener Länder weiterverkauft … man bekommt das Gefühl, dass keiner mehr den Überblick hat. Und wahrscheinlich ist das auch so – und das wäre, ehrlich gesagt, kein Wunder: Durch den Wettbewerb von Unternehmen haben sich nicht nur die Zahl der Arbeitsschritte pro Produktionsstufe vergrößert, so dass etwa Joghurt heute in Fabriken hergestellt wird, sondern auch die Produktionskette hat sich zunehmend differenziert, so dass heute in komplexen Produzenten-Zulieferer-Netzwerken (Windeler 2001) produziert wird.
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Fabrikproduktion von Lebensmitteln (Differenzierung 2)
Wie sprechen in der Soziologie immer wieder von „Differenzierung“, aber was heißt das ganz genau? Wie ich gestern geschrieben habe, bedeutet dies im Bereich der Wirtschaft u.a., dass sich die Zahl der Arbeitsschritte pro Produktionsstufe immer mehr zunimmt, so dass der Produktionsprozess selbst heute extrem komplex geworden ist. Der Wandel der Produktionstechnik auf dem Joghurtmarkt zwischen den 1950ern und den 2000ern illustriert exemplarisch, wie wenig die moderne Lebensmittelproduktion mit werbevermittelten Botschaften von „natürlichen Produkten” gemein hat.
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Konkurrenzvermeidung. Wettbewerbsstrategien von Unternehmen als Treiber der Marktentwicklung (Differenzierung 1)
Einmal etablierte kapitalistische Märkte haben eine immanente Tendenz zur Selbstzerstörung, bedingt durch eines ihrer Wesensmerkmale – den Wettbewerb (Baur 2001: 98-127). In Abgrenzung zum neoklassischen Modell betonen soziologische Markttheorien, dass Märkte dynamisch sind und diese Dynamiken räumlich variieren können. Gleichzeitig haben Märkte eine Tendenz zur Ausdehnung im Raum (Globalisierung bzw. Internationalisierung) und zur Differenzierung. Der Treiber dieser Prozesse ist das Wettbewerbsverhalten von Unternehmen.
Was ist eigentlich ein Markt?
Ich habe in den letzten zwei Wochen über verschiedene Märkte (den Arbeitsmarkt, den Medienmarkt, den Lebensmittelmarkt) geschrieben. Andere Autoren haben hier die Entwicklungen auf dem Finanzmarkt kommentiert (Prisching 2012, Nassehi 2012, Reichertz 2013) oder über den europäischen Binnenmarkt geschrieben (Münch 2012). Dabei wird deutlich, dass nicht immer ganz klar ist, was mit dem Begriff „Markt“ eigentlich gemeint ist. Was also ist eigentlich ein Markt?
Glückliche Kühe auf blühenden Weiden und Aflatoxin in der Milch. Der Beitrag der Medien zur Risikoproduktion auf anderen Märkten
Medien haben nicht nur eine wichtige Funktion für die Bildung der öffentlichen Meinung, sondern sie sind – wie der Arbeitsmarkt – immer auch ein besonderer Markt, weil sie ein wichtiger Marktakteur auf anderen Märkten sind, insbesondere auf Konsumgütermärkten. Dabei spielen sie eine ambivalente Doppelrolle, wodurch sie ganz wesentlich zur Risikoproduktion auf diesen Märkten beitragen.
Die Insolvenz der Frankfurter Rundschau. Die gesellschaftlichen Folgen der Konzentration auf dem Medienmarkt
Weil das Online-Geschäft lukrativer ist, trennt sich Time Warner vom TIME Magazine, Rupert Murdoch vom Wall Street Journal. In Deutschland ist die Frankfurter Rundschau (FR) das jüngste Opfer der Konzentrationsprozesse auf dem Medienmarkt infolge des Preiswettbewerbs – wie der Presse zu entnehmen ist, wird sie demnächst von der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) übernommen. Na und – könnte man sagen. Das ist eben das Resultat normaler Konkurrenz in Marktwirtschaften. Das Problem ist aber, dass Medien eben nicht nur eigene Märkte sind, sondern auch wesentliche gesellschaftliche Funktionen übernehmen.
Spiegel Online als Aldi des Zeitungswesens. Marktmechanismen und Preiswettbewerb auf dem Medienmarkt
Auch wenn wir sie im Alltag Medien hauptsächlich zur Unterhaltung und Informationsgewinnung nutzen, sind auch die Medien ein Markt. Seit Anfang der 1990er können wir hier eine zunehmende Konzentration und in Deutschland insbesondere ein massives Zeitungssterben beobachten. Jüngstes Opfer ist die FR, die nach ihrer Insolvenz zwar von der FAZ übernommen wurde – allerdings nicht ohne massive Personalkürzungen von 420 auf 28 Mitarbeiter (Bigalke/Riehl 2013). Eine der Hauptursachen für diese Entwicklung ist ein Preiswettbewerb, der ähnlich hart ist wie auf dem Lebensmittelmarkt – vorangetrieben wird er nicht von Aldi, sondern von Spiegel Online.
Was ist Soziale Marktwirtschaft? Über die vergessenen Wurzeln des deutschen Neoliberalismus
Fast sämtliche politische Reformen seit Ende der 1990er wurden im Zeichen des Neoliberalismus durchgeführt. Auch wenn es im Zuge der Finanzkrise in letzter Zeit leise Zweifel gibt, so ist das neoliberale Denken im politischen Diskurs so dominant (Butterwegge 1998) und selbst in der Sozialdemokratie so fest verankert (Lahusen 2006), dass nicht anzunehmen, dass sie so leicht aus den Köpfen zu entfernen ist. Zumindest die FDP hat sich auf ihrem Bundesparteitag am 04.03. (wieder) als „Verfechter der sozialen Marktwirtschaft“ positioniert, und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) wirbt seit einigen Jahren für die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft. Kernideen der jüngeren Reformen sind Deregulierung und ein möglichst geringes Eingreifens des Staates in die Wirtschaft, welche gemäß dem Postulat den gesamtgesellschaftlichen (gesamteuropäischen) Wohlstand fördern. Entsprechend passt es auch gut, dass die FDP den Armutsbericht schönen wollte, weil er so gar nicht zu diesem Postulat passt. Ungeachtet dessen geben diese „Erneuerer“ das Gedankengut der Klassiker der sozialen Marktwirtschaft nur bruchstückhaft und unvollständig wieder. Die genaue Lektüre dieser Texte fördert zum Teil Erstaunliches zutage, das zum Teil in konträrem Widerspruch zu den politischen Reformen des letzten Jahrzehnts steht. Was also ist soziale Marktwirtschaft? [1]
Managergehälter und Armutsbericht. Der Arbeitsmarkt als Mittler zwischen Wirtschaft und Gesellschaft
Während derzeit einerseits die öffentliche Empörung über zu hohe Managergehälter so weit geht, dass diskutiert wird, diese zu beschränken, berichtet der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, dass trotz relativ geringer Arbeitslosenquoten etwa jeder siebte Bundesbürger von Armut bedroht ist. Dies verweist auf die besondere Rolle, die der Arbeitsmarkt in modernen Gesellschaften – und die Soziologie – hat.