Fabrikproduktion von Lebensmitteln (Differenzierung 2)

Wie sprechen in der Soziologie immer wieder von „Differenzierung“, aber was heißt das ganz genau? Wie ich gestern geschrieben habe, bedeutet dies im Bereich der Wirtschaft u.a., dass sich die Zahl der Arbeitsschritte pro Produktionsstufe immer mehr zunimmt, so dass der Produktionsprozess selbst heute extrem komplex geworden ist. Der Wandel der Produktionstechnik auf dem Joghurtmarkt zwischen den 1950ern und den 2000ern illustriert exemplarisch, wie wenig die moderne Lebensmittelproduktion mit werbevermittelten Botschaften von „natürlichen Produkten” gemein hat.

Ich sollte vielleicht vorweg sagen, dass ich den Joghurt ursprünglich ausgewählt hatte, weil ich dachte, es handele sich um ein einfaches Produkt. Und im Grunde genommen ist er das auch: Joghurt ist eines der ältesten Nahrungsmittel der Menschheit. Wo es herkommt, ist zwar nicht bekannt, aber bis über Jahrtausende hinweg veränderte sich die Produktionstechnik kaum. In Deutschland wurden bis in die 1950er Milchsäureprodukte hergestellt, indem die Bäuerin oder Hausfrau eine Schüssel frischer Milch (= Rohmilch) über Nacht stehen ließ.

Zwischen 1950 und 1980 wandelte sich die Verfahrenstechnik dann innerhalb weniger Jahrzehnte radikal. Zunächst zögerlich, dann aber rasant fortschreitend wurden beim Herstellen und Verteilen von Nahrungsmitteln industrielle Technologien und entsprechende marktwirtschaftliche Verfahren übernommen. Wie ein Blick auf die von Lekkerkerker vertriebenen Anlagen illustriert, hat eine Joghurtfabrik heute mehr mit einer Chemiefabrik gemeinsam als mit der Feuerstelle der Nomaden oder den Werbebotschaften von „glücklichen Kühen auf blühenden Weiden”.

Zwar sind die Grundschritte der Joghurtproduktion noch immer dieselben wie vor 11.000 Jahren. Allerdings haben sich durch die Anforderungen der industriellen Massenproduktion einige weitreichende Änderungen ergeben. Jede Produktionsphase ist so komplex geworden, dass der Hersteller zahlreiche Einzelentscheidungen treffen muss. Die Gesamtheit der Entscheidungen, die ein Hersteller treffen muss, gleicht einem komplexen System, in dem jede Entscheidungen Folgen für zahlreiche andere Bereiche hat.

Um ein Gefühl für die Komplexität und Tragweite dieses Prozesses zu geben, beschreibt die Datei unter diesem Link den Produktionsprozess. Da ich aber davon ausgehe, dass sie meisten Leser meine Begeisterung für Verfahrenstechnik nicht teilen, anbei eine Zusammenfassung der zentralen Punkte.

Das Wichtigste habe ich bereits gesagt – Lebensmittel werden heute i.d.R. in Fabriken hergestellt, und der Produktionsprozess ist sehr komplex und spezialisiert, weshalb es sehr schwer ist, den Überblick zu behalten, was aber wiederum wichtig ist für das Gelingen des Gesamtprozesses.

Häufig entstehen durch die Produktion selbst oder durch Wechselwirkungen mit anderen Faktoren Zwänge, die die Handlungsspielräume und Wahlfreiheiten der Hersteller stark einschränken. Ein Beispiel hierfür sind die Verpackungsmaterialien – viele Lebensmittel erhält man nur in sehr wenigen typischen Verpackungstypen (im Fall von Joghurt sind das i.d.R. Glasbecher oder Plastikbecker in ganz bestimmten Größen). Schaut man sich den Produktionsprozess an, wird deutlich, warum die Variation so gering ist – sie muss nämlich gleichzeitig sehr verschiedene Anforderungen erfüllen, und nur sehr wenige Materialien erfüllen diese gleichzeitig. Die Verpackung …

  • … darf nicht giftig sein.
  • … schützt den Joghurt vor Schmutz, Mikroorganismen, Sauerstoff und Licht.
  • … darf nicht chemisch mit dem Joghurt reagieren.
  • … erleichtert die Lagerung und den Transport.
  • … vermittelt eine Werbebotschaft.
  • … erfüllt die gesetzlichen Vorgaben.
  • … entspricht den Verbraucherwünschen und Konsumgewohnheiten – die Glasflasche wird in Deutschland z.B. oft mit Umweltfreundlichkeit und höherer Qualität assoziiert (obwohl die Verpackung nichts über die Qualität des Lebensmittel aussagt und es äußerst umstritten ist, ob Glasflaschen wirklich umweltfreundlicher sind).

Neue Verpackungsarten sind daher zwar denkbar, wegen der hohen Anforderungen werden aber selten wirklich neue Verpackungsarten erfunden. Gleichzeitig werden die bestehenden Verpackungsarten ständig verbessert, wobei dies pfadabhängig geschieht – da die Produktionsanlagen teuer sind, wird es sich ein Hersteller darüber hinaus dreimal überlegen, ob er – wenn er einmal eine Anlage angeschafft hat – wirklich den Produktionsprozess umstellt. Dadurch wird die Herstellung der Verpackung (also noch nicht einmal des Joghurts, sondern einer einzelnen Produktionsstufe) immer komplexer. Dies ist mit ein Grund, warum sich nach und nach Spezialisten für einzelne Produktionsschritte herausbilden. Sowohl die zyklische Komponente (Verwendung einer begrenzten Menge von Verpackungsmaterialien), als auch die geordnete Transformation (Herausbildung von eigenen Joghurt-Verpackungsherstellern) sind also immanent im Produktionsprozess angelegt und werden nach und nach freigesetzt, sobald die industrielle Massenproduktion einmal begonnen hat. Einmal in Gang gesetzt, ist es folglich wahrscheinlich, dass die Differenzierung immer weiter voranschreitet (Nassehi 2012).

Ein zweiter wichtiger Punkt ist, ist, dass die verschiedenen Produktionsstufen miteinander zusammenhängen und es zu zahlreichen Wechselwirkungen und unerwünschten Nebenfolgen kommen kann. Im Versuch, ihn zu kontrollieren, wird der Produktionsprozess schwerer kontrollierbar, unübersichtlicher und fehleranfälliger. Viele Joghurts werden etwa gesüßt, man kann aber nicht jeden Süßstoff in den Joghurt mischen. Je nachdem, welche anderen Zutaten man beimengt, scheiden bestimmte Süßstoffe aus (weil die Stoffe ggf. untereinander reagieren), und es macht auch einen Unterschied, wann man den Süßstoff beimengt. Man muss also genau wissen, was man tut. Ein Beispiel, dass das jemand nicht wusste, war das kürzlich in der Presse diskutierte Aflatoxin – es handelte sich ja eigentlich um eine Beimischung im Futter für Kühe. Wenn nun Fleischkühe gefüttert worden wären, wäre das kein Problem gewesen – das über die Nahrung aufgenommene Aflatoxin lagert sich normalerweise nicht im Fleisch an. Leider aber schon in der Milch (d.h., das mit dem Aflatoxin in der Milch ist vermutlich nicht einmal absichtlich passiert – da hat vermutlich nur jemand den Überblick verloren). in Nassehis (2012) Worten:

Funktionale Differenzierung ist die funktionale Lösung für das Komplexitätsproblem, das mit der Umstellung auf funktionale Differenzierung bewältigt wird. (…) Diese Lösung ist aber zugleich das Problem.

Damit verbunden nimmt die potenzielle Reichweite von Risiken immer mehr zu: Durch die fabrikförmige Verarbeitung werden immer größere Mengen verarbeitet, d.h. Lebensmittel miteinander vermischt, die früher getrennt blieben. Wenn früher ein Liter Milch verdorben war, wurden vielleicht ein oder zwei Personen gesundheitlich beeinträchtigt – nämlich die, die ihn zu sich nahmen. Heute wird aber derselbe Liter Milch mit 100.000 anderen vermengt und in großen Containern verarbeitet. Daher reicht ein einziger Liter verdorbene Milch, die in einem großen Container beigemengt wird, um Hunderttausende von Verbrauchern zu vergiften.

Hygiene bekommt folglich eine immer größere Bedeutung, birgt aber gleichzeitig wieder eine neue gesundheitliche Risiken: Die Desinfektionsmittel müssen so stark sein, dass sie Mikroorganismen abtöten. Wenn sie in die Nahrungskette gelangen, können sie gesundheitsschädlich sein (siehe Aflatoxin).

Durch die zahlreichen Produktionsstufen trägt das Produkt Joghurt auch Rückstände aus früheren Phasen des Produktionsprozesses in sich: Wenn die Kühe mit Antibiotika gespritzt wurden und diese Rückstände in der Milch sind, oder wenn die Früchte mit Pestiziden gespritzt sind, dann sind diese Rückstände auch im Joghurt. Der dauernde Konsum von Antibiotika fördert Resistenzen von Bakterien, die Menschen gefährlich werden können. Wenn man (als Verbraucher) Pech hat, werden dieselben Anlagen für unterschiedliche Produkte verwendet – dann können die Produkte auch Rückstände aus der Produktion anderer Lebensmittel enthalten (Nuss-Allergiker können ein Lied davon singen…). Übrigens können auch Reinigungsmittel Allergien auslösen. Damit wird jedes industriell hergestellte Lebensmittel zumindest zum Gesundheitsrisiko.

Autor: Nina Baur

Prof. Dr. Nina Baur (März & April 2013) Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie