Über die Standardisierung von Lebensmitteln, oder: Wie Schafe und Kühe zu 250g-Schnitzeln im Supermarktregal werden

Im Supermarkt kaufen wir typischerweise ganz bestimmte Mengen – 250 g Butter, 1kg Mehl, 6 Eier, Joghurt im 500g-Glas oder im 250g-Plastikbecker, 150 bis 250g Fleisch pro Person und Mahlzeit usw. Die meisten Konsumenten wollen auch gar keine größeren Mengen, weil sie entweder alleine, mit Partner oder in einer Kleinfamilie leben und gar nicht mehr verbrauchen können. Nun ist es bei einem Pack Butter oder einem Glas Joghurt noch einsichtig, dass es – da diese Lebensmittel ja ohnehin in Fabriken produziert werden – relativ egal ist, in welchen Mengen es abgepackt wird. Aber wenn man sich Hühner, Puten, Schafe, Ziegen, Schweine oder Rinder anschaut, haben sie doch sehr unterschiedliche Größen, und es gibt ja auch kleine und große Schafe, was so überhaupt nicht zu den Anforderungen der modernen Massenproduktion passt – die Koordination der zahlreichen Produktionsstufen kann nur funktionieren, wenn die Produkte hochgradig standardisiert sind. Damit stellt sich die Frage, wie aus einem Schaf, Schwein oder Rind ein 250g-Schnitzel im Supermarkt wird.

© Patrik Budenz
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Besonders augenscheinlich ist diese Differenz zwischen Varianz des Rohstoffes (= lebendes Tier) und Einheitlichkeit des Endprodukts (= Schnitzel) in Ländern wie Australien, in denen noch extensive Weidelandschaft betrieben wird. In den Weiten von New South Wales werden z.B. die Tiere beim Grasen auf den riesigen Farmen noch mehr oder weniger in Ruhe gelassen. Die Farmer kontrollieren den größten Teil des Jahres nur ab und zu die Gesundheit der Tiere, helfen den erstgebärenden Muttertieren beim Kalben oder Lammen, scheren die Schafe und kontrollieren die Zäune.

Erst wenn ein Farmer sich entscheidet, dass er in einigen Wochen einige Tiere verkaufen möchte, beginnt die „Standardisierung“, denn aus der Herde können nur diejenigen verkauft werden, die eine bestimmte Größe haben. Prinzipiell bringt etwa ein Rind (nicht nur absolut, sondern auch pro Kilo) mehr ein, wenn es mehr es wiegt. Gleichzeitig können (bei gegebener Marktlage) von jeder Tiergröße nur bestimmte Mengen verkauft werden, weil der Markt nicht mehr hergibt, d.h. der Farmer muss sich entscheiden, an wen er verkauft – und muss dabei noch andere Faktoren beachten wie Alter und Rasse des Tieres. Die ganz großen Rinder kann man z.B. nur nach Japan verkaufen, weil für japanische Speisen wie Teriyaki das Fleisch in lange Streifen zerlegt wird – die Japaner wollen aber nur bestimmte Rinderrassen, deren Geschmack (angeblich) besser ist. Für den australischen, amerikanischen oder europäischen Markt taugen die großen Rinder dagegen nicht, oder (wie mir ein australischer Farmer süffisant erzählte) haben Sie schon einmal ein 2-Kilo-Steak gekauft? Wir kaufen das Steak eben nicht nur in bestimmten Mengen, sondern auch in bestimmten Zerlegungsformen (etwa als Kotelett oder T-Bone-Steak), und wenn das Rind zu groß ist, kann man es nicht mehr so zerlegen.

Der Farmer muss sich also entscheiden, für welchen Markt er produziert und wann er verkaufen will. Dann pickt er sich etwa die Rinder aus, die bereits eine bestimmte Mindestgröße haben, sperrt sie in gesonderte Areale und füttert ganz gezielt die Mengen Getreide bei, damit alle ausgewählten Tiere bis zum Verkaufszeitpunkt möglichst die gewünschte (und gleiche) Größe haben.

© Patrik Budenz
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Nun werden die Rinder und Schafe zum Auktionshaus gebracht – in New South Wales ist das der Livestock Marketing Centre (LMC) in Wagga Wagga, die größten Schafauktion und vermutlich auch der größten Rinderauktion der Welt (zumindest aber der südlichen Hemisphäre). An einem typischen Montag wechseln etwa 2.000 Rinder, an einem typischen Donnerstag etwa 45.000 Schafe den Besitzer.

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Da die Tiere – trotz der Standardisierungsbemühungen der Farmer – immer noch nicht alle gleich sind, werden die Rinder, wenn sie antransportiert werden, gewogen bzw. die Schafe (aus Zeitgründen) von erfahrenen Schafsortierern nach Augenmaß in Gewichtsklassen eingeordnet und dann in entsprechende Gatter mit Tieren der gleichen Größe gepfercht.

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Nachdem die potenziellen Ankäufer die Tiere begutachtet haben, werden die Tiere in einer kombinatorischen Auktion nach dem englischen System verkauft. Bei Schafen und Kälbern geht der Auktionator mit den potenziellen Ankäufern von Gatter zu Gatter und verkauft Los nach Los. Die Rinder werden durch eine Halle getrieben. Der Verkauf eines kompletten Loses dauert i.d.R. unter einer Minute. Es wird notiert, wer welches Los ersteigert hat, und bei Großkunden (große Fleischereien) werden die Tiere zusätzlich farblich markiert.

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Dann werden die Tiere nach den Käufern sortiert, d.h. alle Tiere, die von einem Käufer erworben wurden, werden in ein Gatter getrieben. Die Käufer haben daher durch den Ankauf von verschiedenen Losen derselben Größe noch einmal die Möglichkeit, lauter ähnliche Tiere zusammenzustellen, je nachdem, für welchen Markt sie transportieren.

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Abschließend werden die standardisierten Tiere in die Schlachterei transportiert – am Abend sind die Tiere i.d.R. schon geschlachtet und zu Steaks der gewünschten Größe verarbeitet. Aus einem sehr diversen und scheinbar inkommensurablen Lebewesen ist ein massenmarkttaugliches, standardisiertes Produkt geworden.

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Autor: Nina Baur

Prof. Dr. Nina Baur (März & April 2013) Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie

6 Gedanken zu „Über die Standardisierung von Lebensmitteln, oder: Wie Schafe und Kühe zu 250g-Schnitzeln im Supermarktregal werden“

  1. An dieser Stelle möchte ich mal ein großes Lob an Sie, Frau Baur, loswerden. Ich finde Ihre Artikelserie großartig. So bekommt man mal eine Vorstellung von den doch sehr komplexen Abläufen im Hintergrund, die in den Mainstream Medien einfach nicht vermittelt wird.

  2. Lieber Soziobloge,

    Danke schön – das freut mich v.a., weil ich mir nicht sicher war, ob es interessant für Leser ist, wenn ich so viel über Lebensmittel schreibe. Das ermutigt mich, weiter zu dem Thema zu schreiben (auch wenn ich vor habe, die nächsten Tage einen kleinen Exkurs zum Raum zu schreiben.)

    Herzliche Grüße,
    Nina Baur

  3. „Aus einem sehr diversen und scheinbar inkommensurablen Lebewesen ist ein massenmarkttaugliches, standardisiertes Produkt geworden.“ Hier erbeben sich Ansatzpunkte für weitergehende Forschung. Wie ist es z.b. möglich, dass individuelle Wesen mit Bedürfnissen und Interessen versachtlicht werden und schließlich als tote Materie konsumiert werden?

    Gerade zur Frage der systematischen und instutitionalisierten Gewalt gegen Tiere, ihrer Verdinglichung als Ware und Produktionsmittel, hat die (deutschsprachige) Soziologie bisher kaum Beiträge gebracht. Dabei ist dieses Thema von höchster sozialer Relevanz (Fleischkonsum als die „Regel“, Ambivalenzen und Umbrüche in der Mensch-Tier-Beziehung, ökonomische Bedeutung des tierundustriellen Sektors,“Tierproduktion“ als Phänomen kollektiver Gewalt etc.)und bietet zahlreiche Anküpfungspunkte und Forschungsmöglichkeiten. Es ist äußerst erklärungsbedürftig, dass der Bereich der Mensch-Tier-Beziehung im Allgemeinen, und jener des Gewaltverhältnisses gegenüber Tieren, bisher so wenig soziologische Berücksichtigung erhalten hat.

    1. Liebe Mensch-Tier-Forscherin,

      ich stimme Ihnen vollkommen zu: Das ist eine interessante und wichtige Frage. Ich habe in der Literatur zur europäischen Esskultur dazu die Hypothese gelesen, dass es in Europa bereits im Altertum bzw. frühen Mittelalter eine Nord-Südspaltung gab: Während die Bevölkerung Mitteleuropas halbnomadisch lebte und sich v.a. von der Jagd bzw. halbdomestizierten Tieren (und deren Milch) ernährte, konnten sich die Ackerbau betreibenden Südeuropäer bereits glückliche vegetarische Zeiten vorstellen. Anscheinend hat sich das bis heute gehalten.

      Herzliche Grüße,

      Nina Baur

      1. meine güte, was war das bitte für eine Antwort?! So zu kurz gedacht, ich fasse es nicht. Ja stimmt: Das war immerso und nun bleibt es auch so. Und Kritik wird wohl sowieso nie mitgedacht bei Ihnen, Frau Baur!

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