1981 veröffentlichte der Soziologe Martin Kohli einen Aufsatz zu Wissenschaftler(auto)biografien: „Von uns selber schweigen wir“. Wissenschaftler als Personen kämen in solchen biografischen Texten kaum vor, lautete seine zentrale These. Der Grund: „Es ist für die Selbstdeutung der modernen Wissenschaften zentral, daß es in ihnen um die ‚Sache‘ gehe und nicht um die ‚Person‘. Daraus erwächst für diese — strenggenommen — eine Schweigepflicht; zumindest ist das Reden von sich selber problematisch“. In einem Film des Instituts für den wissenschaftlichen Film in Göttingen kann man dieses Schweigegebot regelrecht sehen. Das Institut hatte mehrere Historiker vor die Kamera gebeten, 1965 unter anderem den alten Gerhard Ritter. Der saß steif vor der Kamera und las hölzern seinen Text vom Papier. Ein Blatt fiel ihm unterdessen auf die Erde. Und sein Credo lautete: „Ein Professor soll durch seine Schriften wirken, die für sich selbst sprechen müssen, nicht aber sich selbst gewissermaßen auf die Bühne stellen und vor unbekannten und unsichtbaren Betrachtern produzieren. Das Persönliche ist unwichtig, das wissenschaftliche Werk allein wichtig“. „„Von uns selber reden wir“ (frei nach M. Kohli)“ weiterlesen
Thomas Etzemüller
„cross over“ (D/CH 1996)
Ich habe diesen Film das erste Mal 1997 im Tübinger „Arsenal“ gesehen, seitdem hat er mich nicht mehr losgelassen. „Cross over“ ist kein Dokumentarfilm, sondern ein Filmessay über das Verhältnis von Tradition und Moderne. Er beginnt in Basel und führt in einem weiten Bogen den Rhein entlang über Kärnten und das Appenzeller Land zurück nach Basel. Ein Roadmovie, bei dem Bild und Tonspur, Musik und die Sprecherstimme von Stefan Kurt ein ästhetisch überwältigendes, poetisches Gemälde bilden. Es geht um Grenzüberschreitungen und Rückkoppelungen, die Erfindung von Traditionen in der Moderne und die Integration der Moderne in die Tradition. Linie und Kreis: 1958 verließ der Bauer Gsellmann seinen Hof, um das Brüsseler Atomium zu besuchen. Zurück, begann er unverzüglich mit dem Bau einer Weltmaschine, in die er die Artefakte des andauernden Fortschritts integrierte und in eine Kreisform zwang. „Cross over als Lebenswerk“ (Filmausschnitt 1). „„cross over“ (D/CH 1996)“ weiterlesen
Warum Schweden?
Schweden wird „normal“, so wie der Kontinent. Zum ersten Mal seit langer Zeit funktioniert die Konsensmaschine nicht mehr richtig und die Regierung stürzt nach nur zwei Monaten. Das ist die erste Regierungskrise seit 1978 und die erste vorgezogene Neuwahl seit 1958. Stefan Löfven hatte, wie üblich, eine Minderheitsregierung gebildet, die in der Regel vergleichsweise bequem regieren kann, solange sie keine Mehrheit gegen sich hat. Auch in diesem Fall wäre das gelungen, denn der alternative Haushaltsentwurf der bürgerlichen Parteien hätte keine Mehrheit gefunden — wenn ihm nicht die rechtsextremen „Schwedendemokraten“ zugestimmt hätten. Der bürgerliche Entwurf unterschied sich zwar nicht sehr von dem der Regierung, aber die müsste nun einen Haushalt der Opposition umsetzen. Im März dürften Neuwahlen stattfinden, und dann wird sich zeigen, ob die Aufteilung des politischen Lebens in zwei Blöcke und die Rechtsextremen als Zünglein an der Waage Bestand haben wird. „Warum Schweden?“ weiterlesen
Die Moderne als Bildprogramm
Unter deutschen Intellektuellen herrscht (oder herrschte lange) eine gewisse Bilderfeindlichkeit. Die FAZ hat ja erst im September 2001 erstmals ein Foto auf der Titelseite abgebildet, davor galt der reine Text. Bei Historikern sieht es nicht anders aus. Die meisten Bücher: ohne Bilder. Wenn Bilder, dann zumeist als reine Illustration: so und so sah xy aus. Die waren sogar allen Ernstes in der Lage, Gemälde aus dem 18. Jahrhundert als Abbild vergangener Wirklichkeit zu verkaufen. Fast noch besser: Große, farbige Karten aus der Frühneuzeit werden auf Postkartengröße reduziert und schwarz/weiß abgedruckt — von renommierten Verlagen. Da „erkennt“ nur noch einen Brei von Graustufen, und den großen Unterschied: Das ist eine Karte und kein Portrait. Was für eine Missachtung des Bildes durch Autoren und Verlage gemeinsam. Langsam ändert sich das zum Glück (z.B. hier). „Die Moderne als Bildprogramm“ weiterlesen
Übergänge 33/45
Es ist mehrfach die Frage angeklungen, wie es mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Nationalsozialismus aussieht. Eine gängige Interpretation war lange Zeit, dass Wissenschaftler und Disziplinen, die sich dem „Dritten Reich“ angedient hatten, den Boden der Wissenschaft verlassen haben. In der Soziologie wurde gar bestritten, dass es das Fach zwischen 1933 und 1945 überhaupt gegeben habe, bis Soziologiehistoriker diesen Mythos zerlegt haben. In der Geschichtswissenschaft hat diese Frage Ende der 1990er Jahre zu hochemotionalen Auseinandersetzungen zwischen älteren und jüngeren Historikern, den Schülern und „(Ur-)Enkeln“ geführt. „Übergänge 33/45“ weiterlesen
Zur Geschichte der Soziologie
Als Hinweis, zur Historisierung Helmut Schelskys: http://library.fes.de/pdf-files/afs/81608.pdf
„Arme Irre“ & Pseudowissenschaft — Grenzen der seriösen Wissenschaft?
Wenn man sich mit einem so schrägen Phänomen wie der Rassenanthropologie beschäftigt, stellt sich natürlich sofort die Frage, was ist Wissenschaft, wie ist die Grenze zum Humbug oder zur Ideologie zu ziehen? Es gibt (Wissenschafts-)Historiker, die dazu neigen, Professionen, die im „Dritten Reich“ mitzogen, jede Form von „Modernität“ und „Fortschrittlichkeit“ abzusprechen, weil sie diese Begriffe latent oder explizit als moralische Kategorien verwenden — es gab da in meinem Fach in den späten 1980er Jahren eine heftige Debatte unter dem Titel „Wie modern war der Nationalsozialismus?“ Die Rassenanthropologie kann in dieser Perspektive per se keine Wissenschaft gewesen sein. „„Arme Irre“ & Pseudowissenschaft — Grenzen der seriösen Wissenschaft?“ weiterlesen
Wissenschaftsgeschichte als Wissenschaftstheorie
Ein anderes Beispiel, wie man Soziologie und Historiografie analytisch verbinden kann, um sich über die Gegenwart zu informieren. Es stammt aus meinem letzten Forschungsprojekt über die deutsche Rassenanthropologie, die ein ganz merkwürdiges Phänomen ist. Sie begann im 19. Jahrhundert Menschen zu vermessen, um über anthropologische Merkmale auf die genetische Beschaffenheit bzw. rassische Zugehörigkeit von Individuen schließen zu können. Die Grenzen zur Eugenik und zur Rassenkunde verflossen, die Anthropologie bildete eine enge Symbiose mit dem nationalsozialistischen Regime, konnte aber nach 1945 ihre Arbeit ohne größere personelle und inhaltliche Verluste fortsetzen. Das ist nicht erstaunlich, sondern eine typisch deutsche Geschichte. Irritierend ist vielmehr, dass fast seit Beginn an das Scheitern der Anthropologie beklagt wird — von den Anthropologen selbst. Etwa ein Jahrhundert lang kann man fast wortgleich in allen ihren Texten lesen, dass es zu wenige Daten gebe, um die erbbiologischen und rassenkundlichen Annahmen belegen zu können, gleichwohl aber zu viele Daten, um sie mit den analogen Technologien verarbeiten zu können, dass das grundlegende ABC der Vererbungslehre nicht einmal ansatzweise bekannt sei, dass die unterschiedlichen Studien aus methodischen Gründen kaum vergleichbar waren, oder dass man durch anthropologische Messdaten eben doch nichts über die Gene erfuhr. Alle Texte verkündeten aber: Zukünftig werden wir diese Probleme gelöst haben. Zuletzt verbreitete Ilse Schwidetzky diesen Optimismus in einer großangelegten Bestandsaufnahme der Anthropologie im Jahre 1982 (unter dem Titel „Maus und Schlange“), erst danach ist die Rassenanthropologie endgültig von der Bildfläche verschwunden. „Wissenschaftsgeschichte als Wissenschaftstheorie“ weiterlesen
Aus dem Leben der Sozialingenieure
Ich habe mit Alva und Gunnar Myrdal zwei exemplarische Sozialingenieure untersucht. Die beiden zählten seit den frühen 1930er Jahren zur intellektuellen und politischen Elite erst Schwedens, dann der gesamten Welt (in Form der United Nations). Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie beide derart weit aufgestiegen, dass sie sich die Chefposten bei der UN aussuchen konnten, wenn sie einmal mehr ihre Residenz wechseln wollten. Alva Myrdal bekam den Friedensnobelpreis, ihr Mann den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Sie haben einen irrwitzig umfangreichen Nachlass hinterlassen, weil Gunnar gesagt haben soll, dass dereinst junge Wissenschaftler sehen sollten, wie zwei große Menschen gedacht haben. Offenbar ist alles, was nicht verloren gegangen ist, im Archiv gelandet, darunter ein Konvolut mit etwa 8000 höchst privaten Briefen, die die beiden sich im Laufe ihres Lebens schrieben, weil es sie durch ihre professionelle Arbeit immer wieder an unterschiedliche Orte verschlug. Man kann wirklich nachvollziehen, wie zwei Giganten der Sozialpolitik dachten — nur anders als sie es sich vorgestellt haben. Das ist die Grundlage, um etwas noch Faszinierenderes zu beobachten: wie die beiden ihre Ehe zum Projekt gemacht haben, als Blaupause einer umfassenden Gesellschaftsreform. „Aus dem Leben der Sozialingenieure“ weiterlesen
Synthetische Begriffsbildung: social engineering
Social engineering ist ein in der Forschung noch nicht definierter Begriff, obwohl er seit dem frühen 20. Jahrhundert vereinzelt durch die Literatur geistert. Am nächsten ist ihm noch die schwedische Historikerin Yvonne Hirdman gekommen in ihrem wichtigen Buch „Att lägga livet tillrätta“ (das ist irgendwo teilweise ins Englische übersetzt worden), weniger jedenfalls Karl Popper, der oft als Referenz genannt wird, weil es ihm vor allem um eine Abwehr totalitären Planungsdenkens ging. In einem DFG-Forschungsprojekt habe ich mich zusammen mit David Kuchenbuch, Timo Luks und Anette Schlimm etwa vier Jahre abgemüht, den Begriff zu profilieren, das waren außerordentlich gewinnbringende Diskussionen. Wir haben den Begriff weder aus den Quellen entwickelt, weil es ihn da kaum gibt, noch einfach definiert und dann an die Quellen herangetragen. Eher war es eine Art synthetisierendes Verfahren. Wir haben mit Hilfe von Theorien — Ludwik Fleck, Michel Foucault u.a. —, empirischer Studien und an den Quellen Felder, Themen und Akteure identifiziert und auf diese Weise immer mehr umrissen, was social engineering sein könnte und was nicht. „Synthetische Begriffsbildung: social engineering“ weiterlesen
Geschichtswissenschaft und Soziologie
Das Verhältnis zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft will ich jetzt knapp aus der Fachgeschichte meines Faches heraus beleuchten, in Form einer kleinen Genealogie. Im „Dritten Reich“ gab es in der „Ostforschung“ einen großen interdisziplinären Verbund von Historikern, Geografen, Soziologen, Volkskundlern, Kunsthistorikern, Sprachwissenschaftlern usw. Deren Ziel war es zu beweisen, dass der deutsche „Volksboden“ kulturell und rassisch bis weit in den Osten der damaligen Sowjetunion reichte. Ein junger Historiker, Werner Conze, ging bei zwei — cum grano salis — Soziologen in die Schule, Hans Freyer und Gunther Ipsen. Ipsen habilitierte Conze, Freyer übte mit seiner „Weltgeschichte Europas“ und der „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters“ erheblichen intellektuellen Einfluss auf ihn aus. „Geschichtswissenschaft und Soziologie“ weiterlesen
Historiker und Theorie
Es gibt noch einen Unterschied zwischen Soziologen und Historikern, jedenfalls bei denen, die sich in einem Interesse für Theorie treffen. Erstere denken von der Theorie her, Letztere von der Empirie. Meine Stichprobe, gebe ich zu, ist klein. Auf der einen Seite ein Oldenburger (Sport-)Soziologe und dessen intellektuelles Netzwerk, auf der anderen Seite ich und meines. Wir beide diskutieren gut miteinander. Er praktiziert ein permanentes „re-reading“ von Theorien, hat Details parat, beobachtet präzise Verschiebungen in der Theoriearbeit einzelner Autoren und präsentiert empirische Befunde in der Sprache dieser Theorien. Wenn es in einer Theorie ein Loch gibt, stopft er es mit Elementen einer anderen; in langen Durchläufen unterschiedlichster Texte werden immer neue Architekturen errichtet, die dann — über die intellektuelle Anregung hinaus — ganz materielle Effekte zeitigen können, etwa ein erfolgreich beantragtes Graduiertenkolleg. „Historiker und Theorie“ weiterlesen
„Weber 2000“
„Weber 2000“ — prägnanter kann man den Unterschied zwischen Soziologen und Historikern wohl nicht auf den Punkt bringen. Das klingt wie der Name einer Supermarktkette in Schweden, ist aber ein bibliographischer Nachweis. Historiker bringen es kaum fertig, ihn in die Tastatur zu tippen. Max Weber lebte von 1864 bis 1920, seine Texte entstammen einer vergangenen Epoche. Ohne ein „(urspr. 1904)“ in der Fußnote oder einer Annotation im Text kommen Historiker deshalb nicht aus. Soziologen dagegen verleihen ihren Theoretikern oft eine Art überzeitlicher Gültigkeit, als habe Weber mit seinen Thesen zum Protestantismus oder zur Bürokratie ein theoretisches Modell geliefert, mit dessen Hilfe man immer gültige Formen gesellschaftlicher Ordnung beschreiben kann. Dabei entstammt jede soziologische Beschreibung oder Theorie erst einmal den Erfahrungen einer spezifischen Zeit. Alle Geschichtsschreibung übrigens auch, von daher gibt es vielleicht tatsächlich nur Gegenwart, zu der sich jedes System seine Vergangenheit und Zukunft hinzurechnet. „„Weber 2000““ weiterlesen
Historiker und Soziologen
Ich bin gebeten worden, als Historiker für die kommenden zwei Monate den Soziologen-Blog zu bestreiten. Das ist einerseits eine reizvolle Aufgabe, andererseits fällt mir der Einstieg nicht ganz leicht. Das liegt daran, dass ich das Verhältnis zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft nur sehr verzerrt wahrzunehmen scheine. Obwohl ich selbst nie Soziologie studiert habe, bin ich von Beginn an durch Wissenschaftler geprägt worden, für die eine Rezeption soziologischer Theorien selbstverständlich war. Das fing mit der „Bielefelder Schule“ der „Historischen Sozialwissenschaft“ an, mit ihrem Säulenheiligen Max Weber, und setzte sich mit Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Niklas Luhmann oder der Wissenschaftssoziologie in zahlreichen Seminaren in Geschichte, Volkskunde oder Philosophie fort. Und seit der Mitte des letzten Jahrzehnts bin ich an der Ausgestaltung eines Graduierten-Kollegs zu „Praktiken der Selbst-Bildung“ beteiligt, seitdem rauscht die Praxistheorie auf mich hernieder. Deshalb ist es kein Wunder, dass mir spätestens seit der Jahrtausendwende die produktive Aneignung soziologischer Theoreme in der Geschichtswissenschaft geradezu selbstverständlich geworden zu sein scheint. Ja, mittlerweile beginnen Historiker sogar über die Reichweite soziologischer Befunde und Generalisierungen zu reflektieren. Und auf der anderen Seite stoße ich immer wieder auf Soziologen, die mit spielerischer Leichtigkeit mit Historikern kooperieren.